E-Book, Deutsch, 128 Seiten
Melzer Alpha Bravo Charlie
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-99027-194-0
Verlag: Jung u. Jung
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 128 Seiten
ISBN: 978-3-99027-194-0
Verlag: Jung u. Jung
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
geboren 1978, lebt und arbeitet in Zürich und auf Kimitoön, Finnland. Sie studierte Kunst und Philosophie in Amsterdam, promovierte in Plymouth, UK, über Ludwig Wittgenstein und Gertrude Stein und ist Dozentin an der Hochschule der Künste Bern. Alpha Bravo Charlie ist ihr literarisches Debüt. (www.tinemelzer.eu)
Autoren/Hrsg.
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Elf Uhr zwei
Wann wird jemand melden, dass dem Glockenläuten der Kirche der zweite Schlag fehlt? Nebenan weint ein Kind, weil ein anderes es geärgert hat. Kinder sind auch Menschen, das vergesse ich zu oft. Sie sind kleine Menschen, gierig und ängstlich, laut und verwöhnt, wie die Großen, zumindest in diesem Land. Nur unsere Hoffnung, dass sie kluge, besonnene, großherzige Erwachsene werden, lässt uns gnädig lächeln. Kinderlärm kann man nicht abstellen. Wenn ich Kinder hätte, wünschte ich mir, sie hätten die Menschen lieber als ich.
Der Nachbar hat den Sender gewechselt, es spielen die Beatles. Nur weil der Sänger schon tot ist, fühle ich keinen Abscheu vor seiner Stimme. Die Straße ist jetzt leiser als sonst, Autofahren macht ziellos wohl keinen Spaß. Die Menschen scheinen dort angekommen, wo das Essen wartet und Gesellschaft, nach der sie sich sehnen. Ich schneide zur Probe einen der Miniaturbäume vorsichtig aus der Verpackung und stelle ihn neben meinen Teller mit Schinkenbrot. Treulosigkeit im Maßstab wird sofort geahndet, aus dem Schinkenbrot wird kurzfristig ein rosabrauner See. Auch der Teller und die Tasse wachsen kurz zu Karussellattrappen oder Bühnenbildern einer Kirmes im Schnee. Aber die Landschaft muss gerahmt sein, sonst gilt sie nicht. Ich sollte über Grenzen nachdenken. Zäune, Feldränder, Wege, Flüsse. Ich sollte daran denken, dass jede Landschaft auch Hindernisse enthält. Nur weil ich von weit weg schaue, werden die Hürden ja nicht kleiner. Aus der Nähe betrachtet sind sie so hoch wie immer. Ich brauche Streichhölzer, die als Baumstämme den Weg versperren. Ich brauche eine eingestürzte Brücke und einen offenen Tunnelschacht im Boden. Ich werde einen großen See über die Ufer treten lassen. Ich habe Millionen Quadratmeter unter mir. Eine Herde Schafe zieht vorbei wie ein heller Wattebausch, Schiffscontainerlastwagen sind zu Käfern geworden, und der Rand der Landschaft wird grau gestrichen, als wäre sie geradewegs aus dem Kontinent gesägt worden. Dieses Land ist auf Stein gebaut. Ein Lackdöschen sollte reichen. Ich habe noch Farben übrig. Hätte ich die Packung mit den vielen winzigen Figuren vorhin bekommen, könnte ich sie mit den wenigen Haaren eines dünnen Pinsels kleiden. Allen Menschen, denen ich heute begegnet bin, hätte ich ein 10 mm hohes Denkmal setzen können, weil ich mich nur daran erinnern kann, wie sie angezogen waren.
Die Landschaft auf dem Küchentisch sieht noch nicht aus wie eine. Ich habe den Grasstaub angeklebt und ein paar Trampelpfade aus feinem Vogelsand gestreut. Ich werde da hinten noch mehr Zierkirschen in voller Blüte anpflanzen. Die zwei frischen Bäumchen machen mich nüchtern, zu dünne Stämme. Wie klein darf eine Linde sein? Hoffentlich vergeht mir die Lust nicht, bevor alles fertig ist. Erst noch muss ich entscheiden, ob es darin Menschen geben soll oder Spuren von ihnen. Lastwagen, Parkplätze. Fahrräder, Parkbänke und Flurbereinigung. Kirchtürme, Kinos und Bäckereien. Friseursalons, einen Kiosk, eine Wohnsiedlung. Oder ist die Landschaft nur der Hintergrund? Eine Stadt liegt vor der Landschaft wie eine Kulisse, oder umgekehrt, eine Landschaft liegt hinter der Stadt wie ein Bühnenbild. Noch weniger brauchen wir nur die Hunde. Hätte ich ein Haustier gehabt, hätte ich aufstehen müssen, um es zu füttern. Ein Hund müsste hinaus, ich will drinnen bleiben. Ein Hund kommt mir nicht ins Haus.
Ich kann nicht still sitzen bleiben und sehe mich in der Wohnung nach Unerwartetem um. Ich gehe an meinem Spiegelbild vorbei und erschrecke, weil ich lächle. Ich deute das als gutes Zeichen, fasse Mut für meinen morgendlichen Entschluss und wage mich wieder an die Bäumchen. In diesem Maßstab sehen sie aus wie zu kleine, getrocknete Lungen. Ich knipse die Baumstämme mit einer Nagelschere ab und staple sie wie buschige Streichhölzer ordentlich auf meiner Untertasse. Es ist die weiße von Oma, die mit dem verblichenen Goldrand. Für mich war diese Frau immer alt, obwohl sie jünger starb als ich heute alt bin. Ich bin 1955 im Dezember geboren. Ich kann nichts dafür, dass der Krieg schon vorbei war. Ich habe alles richtig gemacht. Fast alles. Aber auch eine Scheidung ist heute nicht mehr skandalös, sondern nur traurig.
Sollte ich Eisenbahnschienen verlegen? Gleise ohne Züge wären schön und genug Hinweis auf die Passagiere. An den hohen Bäumen vorbei, wo jemand wohnt und niemand sie sieht. Jemand wird den Zug vorbeifahren hören. Niemand wird dort aussteigen können. Zu weit weg von jedem Bahnhof entsteht eine Kulisse für einen Spaziergänger, vielleicht mit Hund, ein Kirchturm in der Ferne und niedriges Gebüsch ganz nah. Ich mag die Aussicht auf eine Landschaft am liebsten durch das Fenster eines fahrenden Zuges. Jede gleichmäßige Fahrt belehrt mich über den Maßstab der Welt. Die Welt ist nicht flach, ich habe mit eigenen Augen gesehen, dass sie sich krümmt. Sie hat Tiefe, gerippte Wasseroberflächen, schräge Felder und winzige Berggipfel. Ränder und schmale Straßen mit Baumreihen, die sich perspektivisch verschieben, wenn man schnell ist und trotzdem schaut. Ich zähle die Baumstämme auf dem Tisch, es sind genau 64.
Im Radio höre ich, dass es im fernen Norden so viel geschneit hat, dass Hubschrauber die Bäume vom Schnee befreien mussten. Sie fliegen nahe an die Wipfel heran, um mit dem künstlichen Wind ihrer Rotorblätter den Schnee von den Ästen zu wirbeln. Wie ein Riese schnipsen sie die Bäume frei. So ein Riese bin ich im Verhältnis zu meinen Modellbäumen, aber umgekehrt, wenn ich es auf sie schneien lassen werde. Gibt es eine Spraydose mit der Farbe schneeweiß?
Mir ist es ganz recht, dass Blau die Farbe ist, die in der Ferne liegt. Wäre es grün oder orange, gelb oder gar violett, ich könnte den Blick auf eine Landschaft nicht so leicht ertragen. Blau ist schön, meine Dienstkleidung war es auch. Ich komme mir immer ein paar Zentimeter größer vor, wenn ich blau trage.
Ich lebe in einer Wohnung mit Holzboden und vier Zimmern, die niemand braucht. Die Gegend ist ruhig und trotzdem urban, die Natur steht vor der Tür, und alle Busse sind pünktlich. Ich habe mich niedergelassen an einem Ort, wo ich weiterleben darf, ohne mich einzubringen. Ich darf Dinge kaufen und etwas erleben. Aber ich kann niemandem mehr versprechen, dass ich pünktlich zur Arbeit erscheinen werde. Rentner wie ich sind höfliche Bremsklötze.
Gerade habe ich im Internet nach meiner Wohnadresse gesucht und eine perfekt ausgeleuchtete Draufsicht zu sehen bekommen. Ich bin hinunter ins Erdgeschoss, aus dem Haus in den begrünten Hinterhof hinausgetreten, um mir vorzustellen, im Satellitenbild zu erscheinen. Rührend ist der Maßstab, den die Gartenbank annimmt, und wie anders der Kirchturm aussieht, von oben. Keine Glocken mehr, nur Dach, und flach wird das Land. Ich habe gelesen, dass immer mehr Satelliten im All immer mehr sehen, ich weiß nur nicht, wer dieses Wissen friedensstiftend nutzen will. Meine Landschaft wird unsichtbar sein für die Kameras im All. Sie steht unter der Küchenlampe und strahlt nichts als Privatsphäre aus.
Im Internet habe ich nach anderen künstlichen Landschaften gesucht. Modellbaulandschaftsbauer gibt es fast überall, wo die Welt schon in Ordnung ist. Modellbaulandschaftsbauer kann nur sein, wer alles andere in Haus und Leben schon aufgebaut hat. Auf einem Foto von einem Landschaftsbauseminar des Marktführers in der Herstellung von Miniaturnatur sehe ich vier Männer: hellrosa Haut, Ende fünfzig, Brille. Jeder hat einen quadratischen Landschaftsblock vor sich, auf dem sie, jeder für sich, Bäume pflanzen und Wiesen anlegen. Ich wüsste gern, ob sie dabei Musik hören. Wäre es Jacques Brel, Mijn Vlakke Land? Wie baut man einen Berg? Und wie ähnlich bin ich diesen vier bleichen Göttern?
Die eingeblendete Werbung kündigt an: Es gibt Schneepaste zu kaufen. Ich könnte meine Exfrau bitten, am Abend vorbeizukommen, um mir Schneepaste vorbeizubringen. Sie soll neben dem Winter auch noch eine Flasche Wein mitbringen. Nach der Trennung kam sie manchmal vorbei und bereute dann, zu spät heimgegangen zu sein. Anfangs, selten, übernachtete sie bei mir. Wir schliefen Rücken an Rücken, ohne einander zu berühren. Sie wolle den Bettbezug im Gästezimmer schonen. Geschiedene haben noch immer die Möglichkeit, einander Geschwister zu werden.
Es waren Zusagen wie ein Vonmiraus. Dennoch freute ich mich auf die gemeinsamen Nächte als ehemalige Eheleute, so wie man sich im Nachhinein auf seinen ersten Kuss freut, obwohl man ihn eigentlich vergessen hat. Bis heute wünsche ich mir jeden Tag, dass sie mich überraschend besuchen kommt. Ich werde zu Hause sein.
Fast zehn Jahre leben wir getrennt, vom Scheidungsrichter und von einigen Kilometern. Es kommt mir näher vor, eher wie vorletztes Jahr.
Früher sind wir ein echtes Ehepaar...