Melandri | Eva schläft | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 440 Seiten

Melandri Eva schläft

E-Book, Deutsch, 440 Seiten

ISBN: 978-3-8031-4243-6
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



"Nur einmal in ihrem Leben konnte sich meine Mutter Gerda der Liebe eines Mannes gewiss sein, und ich der eines Vaters. All die anderen kamen und gingen wie ein Wolkenbruch im Sommer."

Eva ist Anfang vierzig, als sie einen Anruf von dem Mann erhält, der in ihrer Kindheit eine Zeitlang die Rolle des Vaters einnahm, bevor er scheinbar für immer verschwand: Vito Anania. Er liegt im Sterben und möchte Eva noch einmal sehen. Sie reist mit dem Zug von Südtirol quer durch Italien in den äußersten Süden.
In ihrer Vorstellung entfaltet sich ihre ganze Kindheit in Südtirol: Sie wuchs im Schatten der politischen Verwerfungen einer Region auf, die drei Jahrzehnte lang der Spielball bedrohlicher Allianzen war und dann endlich den Aufbruch in die Autonomie wagte. Doch noch stärker wurde Evas Kindheit geprägt von der Liebe ihrer Mutter, der im Leben nichts geschenkt wurde.
Der Roman einer Provinz ohne Vaterland und eines Mädchens ohne Vater.
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Km 0
Wenn man in östliche Richtung fliegt, soll der Jetlag noch schlimmer sein, sagen alle. Wer sich gegen die Sonne wendet, den bestraft sie, indem sie ihn um den Schlaf bringt. Eigentlich kann ich es mir nicht leisten, so meinen Schlaf zu vergeuden. In München hat mich Carlo am Flughafen abgeholt, was ich meiner Mutter niemals erzählen würde, denn ich weiß, dass sie ihn nicht mag, ihn nie gemocht hat. Vielleicht weil er sie damals, als ich ihn ihr vorstellte, nicht hofiert hat, nicht die Spur, nur höflich war er. Allerdings ist er Ingenieur, das darf man nicht vergessen, ein Mann, zu dessen Beruf es gehört, die Dinge wörtlich zu nehmen, sonst würden die Brücken und Viadukte, die er baut, nicht lange stehen. Meiner Mutter schönzutun wäre ihm wie eine Respektlosigkeit mir gegenüber vorgekommen. Wie wenig er doch verstanden hat. Von mir – und von ihr ganz zu schweigen. Es liegt nun zehn Jahre zurück, dass ich Carlo meiner Mutter vorstellte. Wir wollten sie das lange Wochenende über Allerheiligen besuchen, und sie empfing uns auf dem Hof meiner Patin Ruthi. Wie im Prospekt eines Einrichtungshauses saß sie da in der mit Tannenholz getäfelten Stube. In ihrer Spitzenbluse und der Baumwolljacke mit Hornknöpfen sah sie so durch und durch tirolerisch aus, dass es nur noch von einem Dirndl zu übertreffen gewesen wäre. Vielleicht war es ihr wichtig, sich Carlo in dieser bäuerlich pittoresken Atmosphäre zu präsentieren, fast so, als wolle sie ihre Identität inszenieren. Obwohl sie in Wahrheit nie eine Bäuerin war. Carlo plauderte mit ihr, erkundigte sich nach ihrem Gesundheitszustand, hielt ihr die Tür auf, als wir auf den Hof traten, um uns zu verabschieden. Aber kein einziges Mal hat er ihr lachend in die Augen geschaut, kein einziges Mal gesagt, dass ihm bei ihrem Anblick nun endlich klar werde, woher meine Schönheit stamme. Aber vor allen Dingen hatte er keine Lust, mit ihr Watten zu spielen. Und das hat meine Mutter ihm wohl nie verziehen. Carlo entschuldigte sich damit, dass er die Regeln dieses Kartenspiels nicht kenne. Die Regeln! Nein, er hatte wirklich gar nichts verstanden. Deshalb nehme ich ihn nun nicht mehr mit, wenn ich sie besuche: Sie mag Carlo eben nicht, und das hat nichts damit zu tun, dass er verheiratet ist und drei Kinder hat, die ich nie kennengelernt habe; und auch nicht damit, dass er in den elf Jahren, die wir jetzt zusammen sind, nie die Möglichkeit erwähnt hat, sich von seiner Frau scheiden zu lassen. Das sind nicht die Dinge, auf die es meiner Mutter ankommt. Ich trat durch die Glastür der Ankunftshalle für internationale Flüge, an meiner Seite ein vielleicht fünfzigjähriger Mann, der meinen Gepäckwagen schob: Jack Radcliffe aus Bridgeport, Connecticut, Manager in einem Unternehmen für landwirtschaftliche Maschinen, zu Gast in München anlässlich einer Fachmesse seiner Branche. Großgewachsen, graumeliertes Haar, tadelloser blauer Anzug. Ich selbst war nach den neun Stunden Flug immer noch so gekleidet und geschminkt, wie ich mich für die Vernissage in New York, von der ich zurückkam, zurechtgemacht hatte: Donna-Karan-Kostüm aus pistaziengrünem Jersey, Tropfenohrringe und Ballerinas an den Füßen. Wir bildeten sicherlich kein unansehnliches Paar. Getrübt wurde dieses Bild nur durch den glasigen Blick des Amerikaners und seine veilchenblaue Nase: Der Getränkeservice im Flugzeug hatte ganz seinen Vorstellungen entsprochen. Als Carlo ihn an meiner Seite erblickte, hob er seine schönen dunklen Augen zum Himmel, als rufe er ihn zum Zeugen an für die Geduld, die von einem Mann verlangt wird, der mit einer Frau wie mir zusammen ist. Bei dem Amerikaner dauerte es dagegen eine ganze Weile, bis er begriffen hatte, dass dieser Fremde mich abholen wollte. Vielleicht hätte ich vorher doch etwas davon erwähnen sollen. Jedenfalls war sein Lächeln urplötzlich verflogen. Es war ihm anzusehen, wie die Illusionen, die er sich hinsichtlich meiner Person gemacht hatte, dahinschmolzen wie Eis in einem zu lange in der Hand gehaltenen Whiskyglas. Sein Blick wurde noch glasiger, fast tränenfeucht, während er Carlo anstarrte, der ihm seinerseits jetzt ohne eine Spur von Überraschung oder Verlegenheit die Hand schüttelte, sich für die Umstände mit meinen Koffern bedankte und mich dann von ihm wegfegte, mit einer schwungvollen Drehung seiner breiten Schultern, die mir immer noch so gut gefallen. Während ich in seinem Arm davonging, drehte ich mich noch einmal zu dem Amerikaner um, schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln, wedelte mit den Fingern einer Hand und zwitscherte: »See you later, Jack!« Völlig verdattert stand Jack Radcliffe aus Bridgeport, Connecticut, mit seinem Kofferkuli im Foyer der Ankunftshalle, aus dem Tritt gebracht mehr noch durch die Fassungslosigkeit als durch die Enttäuschung. »Der Ärmste …«, brummte Carlo, während er mir einen Kuss auf die Haare gab. Kein Vorwurf, nur eine Feststellung. »Nein, wieso, ein netter Herr …« »Evas nette Herren«, seufzte Carlo. »Eine ganz spezielle Kategorie …« »Er war wirklich nett. Ich durfte mich den ganzen Flug über an seiner Schulter ausruhen.« »Und wie hat er sich beschäftigt die neun Stunden über, mit deiner süßen Last am Leib?« »Er hat mir die Decke aufgehoben, wenn sie runtergefallen war, und mir bei ein paar hochprozentigen Drinks von seiner unglücklichen Ehe erzählt.« »Ach, stimmt, die genaue Bezeichnung der Kategorie lautet: ›Die netten Herren, die Eva von ihren unglücklichen Ehen berichten.‹« Carlo nahm mich fest in die Arme, liebevoll, männlich, von dem unschönen Gedanken, selbst auch zu dieser niederen Kategorie zu zählen, noch nicht einmal gestreift. Und natürlich gehört er auch nicht dazu, ganz und gar nicht. Von seiner Ehe erzählt mir Carlo gar nichts und gibt mir so auch nie die Gelegenheit zu beurteilen, wie glücklich oder unglücklich sie ist. Nicht dass mich das interessieren würde, nebenbei bemerkt. Er schob den Gepäckwagen zu seinem Auto und lud meine Sachen ein, ein dreiteiliges Kofferset, dunkelblau, frisch in New York gekauft: Trolley, Reisetasche und Beautycase, schon beeindruckend, wie durchdacht die Fächer aufgeteilt sind. Meiner Mutter würde das Set gefallen. Tatsächlich habe ich beim Kauf auch gedacht: Das ist eine Farbe, die ihr besser steht als mir, vielleicht bringe ich ihr die Teile übermorgen zum Osterfestessen mit. So stand ich also da, mit der Notebooktasche über der Schulter – die gebe ich nie aus der Hand, an niemanden –, und sah Carlo zu. Ich mag es, wenn ein Mann für mich körperliche Arbeit verrichtet, die Muskelkraft erfordert. Koffer anheben und in den Wagen wuchten zum Beispiel. Ich genoss den Moment und wandte schließlich den Blick von Carlo ab, damit er nicht dachte, ich wolle ihm Beine machen. Auf dem Gehweg kam mir ein Mann entgegen, der auf ein Taxi zuhielt, ein wenig jünger als ich, in einem neuen stahlgrauen Nadelstreifenanzug, dem Handkoffer nach ein Geschäftsmann, der zu einem Termin flog. Ein Deutscher, aber nicht aus Bayern, eher aus Norddeutschland, Hamburg vielleicht oder Hannover. Als sich unsere Blicke kreuzten, weiteten sich seine Pupillen, und sein Gesicht verzog sich zu der Miene, die ich lange schon von Männern kenne, denen ich in die Augen schaue, jener unverwechselbaren Mischung aus Gier und Sehnsucht. Das Verlangen lässt sie kühn werden, aber auch verwundbar, und es gibt mir Macht. Jedenfalls wird ihre Mutter diesen Blick noch nie bei ihnen gesehen haben – das ist zumindest zu hoffen. Mit einem dumpfen Schlag knallte Carlo den Kofferraum zu und setzte sich dann ans Steuer. Ich öffnete die Beifahrertür, und während ich Platz nahm und die Beine übereinanderschlug, hob ich wieder den Blick zu dem Geschäftsmann aus Hamburg oder Hannover, der nun gerade an mir vorüberging. Angelächelt habe ich ihn nicht, aber ein klein wenig mit den Augen gezwinkert, wie man es von dreizehnjährigen Models kennt, wenn sie ihren Blick eindringlicher wirken lassen wollen. Dann zog ich die Tür zu, und Carlo ließ den Motor an. Ich bin nicht schön. Attraktiv schon, aber nichts Besonderes, und blonde Frauen, die ein wenig größer sind als der Durchschnitt, gibt es zuhauf. Und jung bin ich auch nicht mehr. Wenn ich mich so umschaue, sehe ich sehr viele junge, attraktive Mädchen, deren Mutter ich sein könnte, mit knackigeren Körpern, glatteren Gesichtern und einer Ausstrahlung von Unschuld, die Wünsche weckt. Und doch schauen mir die Männer immer noch nach. Meine Mutter hat mir ihre Gesichtszüge vermacht, aber nur in einer oberflächlichen Version. Ihre hohen Wangenknochen, wie die einer russischen Adligen, sehen bei mir etwas gröber aus. Ihre vollen Lippen wirken bei ihr elegant, bei mir haben sie etwas Bäuerisches, etwas von frisch gemolkener Milch, Butter aus dem Fass. Ich habe ebenso schlanke Beine und volle Brüste wie sie, ihre Figur einer Nordeuropäerin, aber die Haltung – kein Vergleich. Gerda Huber hat ihr ganzes Leben an Herd und Schneidbrettern zugebracht, während ich Armani trage und mondäne Events organisiere. Und dennoch: Sie ist diejenige von uns beiden, die wie eine Königin wirkt. Zwischen dem Münchner Flughafen und meinem Zuhause liegen drei Stunden Autofahrt und zwei Grenzen. Als junges Mädchen fand ich sie aufregend, diese doppelte Grenze gleich hinter der Haustür, denn so fühlte ich mich der weiten Welt, dem Neuen und Unbekannten nahe. Das war noch zu einer Zeit, als Schengen nicht mehr als ein Städtchen in Luxemburg war, von dem kaum jemand gehört hatte, und die europäischen...


Francesca Melandri, geboren in Rom, hat sich in Italien zunächst als Autorin von Drehbüchern wichtiger Kino- und Fernsehfilme einen Namen gemacht (u. a. "Prinzessin Fantaghirò"). Mit ihrem ersten Roman "Eva schläft" wurde sie auch einem breiten deutschsprachigen Lesepublikum bekannt. Ihr zweiter Roman "Über Meereshöhe" wurde von der italienischen Kritik als Meisterwerk gefeiert. Ihr drittes Buch "Alle, außer mir" wurde für den Premio Strega nominiert.


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