E-Book, Deutsch, 284 Seiten
ISBN: 978-80-273-0151-5
Verlag: e-artnow
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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Zweites Kapitel
Zwei Frauen
Inhaltsverzeichnis
»Frauen! Richtet nur nie des Mannes einzelne Taten!
Aber über den Mann sprechet das richtende Wort!« Schiller. Mit einem zur Eile drängenden Gefühl beschleunigte Olga ihre Reisevorbereitungen. Erst als sie ihre Koffer, die, bis auf geringes Handgepäck, ihre gesamte nur zu bewegliche Habe bargen, fortgeschickt hatte, wurde ihr freier zumute. Sie wunderte sich selbst, daß sie nichts mit dieser Stadt verband, – daß sie hier fast so fremd geblieben war, wie »daheim«, in dem schlesischen Winkelstädtchen. War es die Wurzellosigkeit ihrer Rasse, deren Träger sich Kulturen zueigen gemacht hatten, die nicht ihrem Blute entstammten, – war es die besondere Atmosphäre gerade dieser Stadt, die die Konturen der Dinge weichlich ineinander wob, wie die Formationen der umliegenden Hügellandschaft? – Olga hatte in den Jahren ihres hiesigen Aufenthaltes keinen Kreis gefunden, mit dem sie echte und notwendige Vertraulichkeit verband. Nur einer einzigen Person war sie näher gekommen. Gerade heute, am Tage nach der »Abschiedsfeier«, die sie mit ihren Freunden im Champagnerkeller abgehalten hatte, fühlte sie, wie wenig lebendig die Beziehungen waren, die sie mit ihnen einten. Und doch war sie diesen Verwandten gut. Aber es war nicht der starkfließende Strom verwandter Willenskräfte, – es war nur, wie eine wachsame Teilnahme an dem noch nicht erfüllten Maß ihres Geschickes, die sie mit ihnen und wohl auch jene mit ihr verband. Gerade die Öde, mit der der heutige Tag sie umgab, mit der er sie, wie durch einen luftleeren Raum, fernhielt vom lebendigen Anteil an ihm, war mehr als ein gewöhnlicher Katzenjammer nach einer durchwachten Nacht. Es war das deutliche Bewußtsein des inneren Versagens, das uns dort, wo wir gütige Gefühle zu schulden glauben, peinvoll bedrückt. Der Augenblick, in dem das Gefühl eines Abschlusses erschreckend deutlich wird, war gekommen. Hier war eine Epoche, deren verschiedene Etappen dem Gedächtnis, scharf umzeichnet, entsprangen, deutlich beendet. Ihr war, als wäre der Additionsstrich unter die einzelnen Posten zu machen und es verbliebe nur noch, die Summe zu ziehen. An solchen Tagen, wie dieser, – sie waren in der letzten Zeit immer häufiger gewesen, – richtete sich ihre Aufgabe riesengroß und wie unerklimmbar vor ihr auf. Ihre Aufgabe? Wußte sie sie denn? Ohne ein deutliches Lebens-oder gar Berufsprogramm zu haben, fühlte sie doch, daß es irgendwo in der Zeit ein Feld gab, auf dem sie und gerade sie ihre Kräfte auszubreiten hätte. Wie dunkle, durch Jahrhunderte vorbereitete Erfahrungen, drängten Erkenntnisse durch sie ans Licht, – wollten durch sie Gestalt bekommen. Olga war in der verflossenen Nacht durch jene unerwartete und außergewöhnliche Begegnung an das schmerzlichste Erlebnis ihrer Jugend erinnert worden. Diese »Jugend« schien für sie selbst hinter ihr zu liegen, und, was das Seltsame war, sie beklagte das nicht. Denn ihr war, als hätte sie sich all ihre »Jugend« hindurch gegen niederziehende, schwerlastende Mächte zur Wehr gesetzt, als hätte sie ihre ganze, junge Kraft gegen den Druck eines dunklen Schicksals stemmen müssen, bis es endlich, endlich ein wenig lichter und freier um sie geworden war. Aber an solchen Tagen wie dieser, – den sie bis zum späten Nachmittag in ihrem Zimmer verbrachte, abwechselnd mit der Ordnung ihrer letzten Gepäckstücke beschäftigt, dann wieder auf das harte, steiflehnige Sofa ausgestreckt und von trübem Erinnern schattenhaft umwebt, – an solchen Tagen rückten Bilder aus ihrer Jugend dicht an ihre Seele. Sie sah sich wieder, in dem grauen, alten Haus mit den steinernen Treppen, den fleckigen Wänden und den tiefen, düsteren Zimmern, in die die Sonne nie recht hineinfiel, deren Fenster nach Norden auf den Ringplatz hinaus und auf den schmutzigen Hof gerichtet waren, der vier Hausmauern mit Mühe auseinander zu zwängen schien. Und dieses Haus stand in einer Provinzstadt, die der Himmel niemals blau und fröhlich belichtete, in der die Luft zumeist feucht und scharf in die Kehle kroch, wenn man auf die Straße trat, – auf diese meist ungepflasterten Wege, wo der Fuß im nassen Kot einsank. Dieses Städtchen, mit seinen kurzen, dampfend heißen Sommern, seinem langen, naßkalten, stürmischen Herbst und den eisigen, dunklen Wintertagen war ihre Heimat. Hohe Schlote, mit langen, im Sturm zur Seite gebogenen Fahnen von schwarzem Qualm, stiegen ringsherum auf. Kohle und Eisenerz wurden da zutage gebracht und in den Hütten schlackenfrei gemacht; schwarz berußte, zerlumpte Gestalten, die beim Ertönen des schrillen Signals der Arbeitspause aus den Toren der Industriewerke herausströmten, überfüllten die Stadt; außer der zumeist slawischen Arbeiterbevölkerung waren die Juden da. Es schien, als wären es zwei verschiedene Stämme der Rasse, die hier vertreten waren. Neben den langen, hageren Gestalten, mit schwarzen Ohrlöckchen und gebogenen Rücken, scharfen Hakennasen und vorspringendem Kinn, steckten auch sehr blonde, sehr blauäugige Leute im Kaftan, bei denen nur der charakteristische Gesichtsausdruck, ihr bewegliches Mienen-und Händespiel die immer wiederkehrenden Vorstellungen ihrer Schicht verrieten und die Verwandtschaft mit ihren dunkelhaarigen Brüdern zum Ausdruck brachten. Die Juden hielten den Handel, besonders den Pferdehandel, der hier betrieben wurde, in den Händen; und dann die Schänken. Und diese Branntweinschänken waren jeden Abend überfüllt, und der grellbeleuchtete Ringplatz und die große »Breslauerstraße« hatten ihren Korso von betrunkenen Arbeitern, die von früh gealterten Weibern, mit verzehrten Elendsgesichtern, in ihre Behausung gezogen wurden. Zwischen dieser Masse von Juden und Arbeitern verschwanden fast die anderen Einwohner dieser Stadt. Es waren da noch ein paar alte, polnische Familien und einige Verwaltungsbeamte; auch ein Bataillon Infanterie lag da, dessen Offiziere ihr Dasein hier als Verbannung trugen. Als Abwechselung gab es im Frühling große Pferdemärkte. Dann waren alle Quartiere voll besetzt, und die große Wiese vor der Stadt, die im Winter als Eisbahn diente, sowie der Ringplatz selbst waren dann voll von langmähnigen, zu Koppeln zusammengeschirrten Rossen, deren Gestampfe und Gewieher die Luft erfüllte. Olgas Vater gehörte immerhin zu den Honoratioren der Stadt. Er hatte die Fremde kennen gelernt, hatte in Deutschland »konditioniert«, lange in Breslau gearbeitet, bis er das Geschäft, das samt dem Haus seit mehreren Generationen seiner Familie gehörte, übernahm. Den Jargon seiner Heimat hatte er auch in der Fremde nicht verloren, wohl aber die zelotische Gesinnung, die er vielleicht nie stark besessen hatte. Er lebte zwar »rituell«, aber ohne die fanatische Anteilnahme an den »Bräuchen«, die noch seine Eltern mit eiserner Strenge befolgt hatten. Er trug den Kaftan aus Bequemlichkeit im Geschäft, legte aber den »europäischen« schwarzen Rock an, wenn er beim »Doktor« oder beim »K.K. Stationsvorstand« zur Tarokpartie eingeladen war. Er galt als ein Mensch, mit dem sich ein vernünftiges Wort reden ließ, und war besonders dafür bekannt, geleistete Dienste munifizent zu entlohnen. Seine Kinder ließ der alte Diamant die besten Schulen besuchen, die hier zur Verfügung standen. Stanislaus absolvierte das Realgymnasium und dann einen Handelskursus. Zum Militär kam er nicht, und so nahm ihn der Alte dann gleich ins Geschäft. Seine Flucht nach Berlin beschloß seine geschäftliche Tätigkeit. Erst hatte der Alte gehofft, er werde dort, von der Entbehrung gezwungen, einen kaufmännischen Posten annehmen und dann eines Tages wiederkommen, um sein eigener Herr zu sein. Aber als der Sohn durchaus vom »Kommerziellen« nichts hören wollte, sich in eine armselige Stube einsperrte und da mit erstaunlicher Beharrlichkeit Bogen um Bogen beschrieb, – Tagesfragen mit besonderer Betrachtung ihres ursächlichen Wesens für die Zeitungen bearbeitete, dann sich weiter wagte und Probleme von längerer Dauer und weiterem Interesse auf seine Art, die den Gegenstand geduldig und scharf bis an seine Wurzeln bloßlegte, zum Stoffe nahm, – dann nach Hause meldete, er wolle Schriftsteller werden, vielmehr bleiben, und hoffe, von dieser Tätigkeit leben zu können, – da war es dem alten Händler klar geworden, daß dieser Sohn den stabilen Grund und Boden, der für ihn bereit lag, nicht zu schätzen wußte und ihn preisgab. Am meisten wunderte es ihn, daß Stanislaus für seine »Schreibereien« Geld bekam. »Wer gibt für solche Sachen ä Kreuzer?« fragte er sich kopfschüttelnd, wenn er die Zeitungsblätter, in denen die Artikel des Sohnes erschienen, und die er sich immerhin erbat, in Händen hielt. – – – Was ihm blieb – war die Tochter! Wenn Olga an ihre »Jugend« dachte, dann graute ihr besonders vor einer Erinnerung; die fiel in jene Jahre, die man als die holdesten, blühendsten eines Mädchens zu bezeichnen pflegt. Mit 15 Jahren war sie zuerst vor ihrem Spiegelbild stutzig geworden … Unter den kurzen Backfischkleidern sahen die Füße, in plumpen Stiefeln, lang hervor. Die Gestalt schien eckig und stämmig, nichts saß, wie es sitzen sollte. Die Blutarmut machte das Gesicht blaß, den Teint unrein, häufig von leichten Ausschlägen bedeckt, dazu sommersprossig, wie bei Rothaarigen gewöhnlich. Eine fast immer gedrückte Stimmung preßte die Züge nieder, senkte die Mundwinkel, ließ die Muskeln schlaff hängen und legte um die Augen etwas Trostloses. Mit Grauen gedachte sie immer wieder dieser besonderen Häßlichkeit ihrer ersten Jugend. Später, als ihr Temperament, welches unter einem fast grüblerischen Verstand...