Kleine Geschichten und Stücke
E-Book, Deutsch, 200 Seiten
Reihe: diaphanes Broschur
ISBN: 978-3-03734-400-2
Verlag: diaphanes
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
9 - 14 Ach könnt ich ewig in meinen vier Wänden bleiben! (Angelika Meier)
15 - 20 Das hätte ich gern (Angelika Meier)
21 - 26 Jürgen Klinsmann schlägt die Straße (Angelika Meier)
27 - 32 Letzte Reise (Angelika Meier)
33 - 46 Drei Heringe sitzen auf einem Baum und kämmen sich (Angelika Meier)
47 - 50 We can work it out (Angelika Meier)
51 - 64 Das warme Händchen (Angelika Meier)
65 - 70 Einer geht noch (Angelika Meier)
71 - 78 Seite an Seite (Angelika Meier)
79 - 88 Joachim Löw wohnt hier nicht mehr (Angelika Meier)
89 - 102 Wo Sie mich finden, wohl unter Linden (Angelika Meier)
103 - 136 Ägyptisches Abenteuer mit Ich und Jack (Angelika Meier)
137 - 194 Wasser! Element! Penthesilea liest Kleist (Angelika Meier)
Drei Heringe sitzen auf einem Baum
und kämmen sich
Vor zehn, zwölf Jahren wusste ich noch wirklich zu leben. Jeden Tag habe ich meinen kaputten Rücken ausgeführt und das hat mir sehr gut getan. Damals habe ich mehr gesehen und gehört von der Welt als heutzutage, wo mein Rücken wieder heil ist und ich mühelos zehn Stunden am Tag mein Büro bespiele. Ja, damals war ich immer draußen, kreuz und quer bin ich durch die Stadt gelaufen. Manchmal hatte ich das schöne Gefühl, ich bin ein Strandläufer. Obschon es keinen Strand in der Stadt gibt und auch sonst keinen natürlichen Saum, an den man sich halten kann und meine Wege daher vollkommen wahl- und ziellos waren, schienen sie mir immer genau die richtigen Wege, vorgezeichnet, wie von meinem Körper in den Stadtplan eingezeichnet. Obwohl er mir so zugesetzt hat, bin ich meinem Rücken also dankbar, dass er mich damals aus dem Haus getrieben hat, und ich erinnere mich sehr lebendig an diese Zeit. Besonders erinnere ich mich natürlich an den Montag im Frühling, an dem meine beiden Gespenster zum ersten Mal aufgetaucht sind. Von da an sollten sie mir einige Jahre jeden Tag erscheinen. Immer pünktlich um vier Uhr nachmittags, immer zu zweit. Und immer in wechselnder Gestalt. Sieben Stunden war ich an jenem Montag mit meinem Rücken durch den Tiergarten Gassi gegangen, bevor ich vollkommen erschöpft an der TU-Mensa strandete. Die Mensa hatte längst geschlossen, nur die Cafeteria war noch offen, und ich holte mir einen Gemüseburger mit Pommes rot-weiß und eins dieser arktisch überkühlten Desserts, Mokkacreme mit Betonsahne drauf. Ich setzte mich in den Nichtraucherbereich und begann mit großem Genuss, mein Menü zu essen. Mein Blick streifte die Uhr über der Theke, es war kurz vor vier, ich biss gerade in den lauwarm schlabberigen Gemüseburger, als am Tisch vor mir die Luft seltsam zu flirren begann, sich dann trüb verdickte und schließlich langsam einfärbte, bis eine durchscheinende Gestalt in selbstverständlichster Haltung an dem Tisch saß, als habe sie dort schon immer gesessen. Das Gespenst war ein Mann um die vierzig, fünfundvierzig. Er saß über seine Zeitung gebeugt, die er mit nur einer Hand vor sich hielt. Mit der anderen Hand hielt er seine Kaffeetasse umklammert, mit dem kleinen Finger unter der Tasse. Dann ließ er die Tasse plötzlich los, sodass sie nur auf seinem kleinen Finger balancierend hin- und herwackelte, und da kam auch schon ein zweites Gespenst, ein zweiter durchsichtiger Mann im gleichen Alter, an den Tisch des ersten gehetzt und begrüßte seinen Kollegen atemlos: »Du, ich muss dir was erzählen, da will ich mal hören, was du dazu sagst. Unglaubliche Sache, ich war wieder bei dem Laden, dem Vertragshändler, wegen der Chipkarte, hast ’n Moment Zeit, dann hol ich mir ’n Kaffe.« Das erste Gespenst grinste das zweite etwas herablassend an und grummelte: »Hm … wollt eigentlich grad los, aber okay, dann hol dir schnell ’n Kaffe.« Also ging der zweite Gespenstermann Kaffee holen, und während ich auf seine Rückkehr wartete, betrachtete ich das Profil des ersten. Er trug seine leicht gewellten, dunklen, schon von reichlich Grau durchzogenen Haare altmodisch straff zurückgekämmt, und er sah aus wie eine Kreuzung aus Boris Jelzin und Thomas Bernhard, auch wenn er keinem von beiden tatsächlich ähnelte. Dieser Eindruck verdankte sich eigentlich nur seiner Frisur und seiner herrisch nach vorn geschobenen Unterlippe, die ihm einen durchgehend angewiderten und zugleich beleidigten Ausdruck verlieh. Das andere Gespenst kam im wehenden blauen Lodenmantel zurückgeeilt, die Kaffeetasse im Sicherheitsabstand der ganzen Armlänge vor sich hertragend. Es trug eine runde Brille, was die kindliche Anmutung seines unbeholfenen, drängenden Gangs und seines lauten Sprechens verstärkte. Es hatte seinen Bekannten noch nicht erreicht, als es schon wieder anfing, aufgeregt auf ihn einzureden: »Das glaubst du nicht, was mir da wieder passiert ist. Ich hatte doch neulich noch zu dir gesagt, was mach ich, wenn die Chipkarte kaputtgeht? So. Und jetzt ist es tatsächlich so gekommen. Ich also hin zu dem Laden in der Wilmersdorfer, dieser Vertragsladen von Blaupunkt, und will eine neue Karte besorgen, da sagt der mir, dass ich die einzeln nicht mehr bekommen kann und dass ich nun alle drei auf einmal kaufen muss, und – jetzt kommt’s – ich soll dafür achtzig Euro zahlen, obwohl die eine, die ich brauche, nur sechzehn Euro kostet. Achtzig Euro! Da hab ich gesagt, aber ich war doch vorigen Monat da, da hätten sie mir doch sagen müssen, dass ich die alle beide, beziehungsweise gleich alle drei auf einmal kaufen muss. Ich hab doch noch gefragt, was denn ist, wenn mir die Chipkarte kaputtgeht. Da haben Sie mir nichts von gesagt, habe ich gesagt. Da hat der nur frech mit den Schultern gezuckt!« Boris Bernhard sah nur kurz zu seinem Tischgenossen auf und nickte dann wieder sarkastisch grinsend in seine Zeitung hinein. Der Mann mit der Chipkarte fuhr fort: »Pass auf, jetzt hör mal zu, das geht ja noch weiter. Da hab ich gesagt, wie gehen Sie denn mit Kunden um? Sie wussten doch genau Bescheid, als ich vorigen Monat gefragt habe, was denn ist, wenn das Ding kaputtgeht, und ich weiß ja, dass die so produziert werden, dass die sofort kaputtgehen, da hat der aber nix gesagt, damals, nix, da hab ich noch gesagt, wie krieg ich den Code denn dann wieder? Hab ich ja noch gefragt! Und jetzt stellt sich raus, der hätte mir die Ladekarte gleich mitverkaufen müssen, für sechzehn Euro, und jetzt guckt der mir einfach dummdreist ins Gesicht, als wär nix. Da hab ich gesagt, ich will Ihren Chef sprechen, sofort! Hat der nur mit den Schultern gezuckt und den Meister geholt. Und dem hab ich dann aber ins Gesicht gesagt, das ist doch Betrug! Da ist der ganz ruhig geblieben, als wär nix.« Boris Bernhard hob nur lasch die linke Schulter: »Ist ja auch nicht direkt Betrug. Die müssen dir das nicht sagen. Ist Geschäftemacherei, klar, aber nicht direkt Betrug.« Für einen Moment wich alle Farbe aus dem Chipkartenmann, aber er fing sich schnell wieder, zupfte seinen Bekannten am Ärmel, und etwas kleinlauter sagte er: »Nahörma, kein Betrug, na du bist ja gut.« »Ja, isses nicht, streng genommen.« »Nahörma, kein Betrug, du machst mir ja Spaß! Die haben doch gewusst, dass ich das Radio wegwerfen kann ohne die Chipkarte, ich muss die doch kaufen jetzt bei denen, für achtzig Euro, statt für sechzehn. Und der Meister steht da in aller Seelenruhe unter seinem Meisterbrief, lauter so Urkunden an den Wänden, in der Mitte der Meisterbrief, dicker Meisterbrief in seinem Vertragsladen, Jahrgang dreiundvierzig der Mann, steht da unter seinem Meisterbrief und sagt mir frech ins Gesicht, da hätte ich auch selber drauf kommen können. Da hab ich gesagt, wissen Sie was, ich werd beim Verbraucherschutz anrufen und das melden, so kann man doch nicht mit Kunden umgehen! Das ist doch darauf angelegt, einen zu bescheißen.« »Naja, es ist so, guck mal.« B. B. holt ein Blatt Papier raus, auf das er etwas malt, das ich von meinem Platz aus nicht sehen kann, und erklärt dem anderen mit einer Reihe technischer Begriffe, wie das mit diesen Chipkarten so funktioniert. Der Chipkartenmann sagt dazu immer wieder mit wegwerfender Handbewegung Jaja, ist ja klar, aber darum geht’s doch nicht! und bestärkt damit meine Vermutung, dass die beiden Gespenster arbeitslose Ingenieure sind. Wahrscheinlich haben sie vor langer Zeit einmal hier studiert. Ich konnte ja noch nicht ahnen, dass sie mir gleich am nächsten Tag als amerikanisches Touristenehepaar wieder erscheinen würden. B.B. erklärt und erklärt, aber der Chipkartenmann lässt sich nicht besänftigen: »Ja, alles schön und gut, aber es ist und bleibt Betrug, die hätten mir sagen müssen, dass ich gleich alle drei Karten kaufen muss. Und das hab ich dem Meister auch ins Gesicht gesagt. Der steht da unter seinem scheiß Meisterbrief, als wär nix. Meinste nicht, da könnt ich mich mal direkt bei Blaupunkt beschweren?« B.B. winkt grinsend ab: »Ach, das ist doch denen egal. Jetzt komm, vergiss es, regst dich doch nur sinnlos auf.« »Ja aber ich hab eine Stinkwut, hab ich auf die. Dass die mit so was durchkommen! Meinste, das ist direkt von Blaupunkt so eingefädelt?« »Ach Quatsch, jetzt ärger dich doch nicht mehr so …« »Na aber hörma, wenn nicht, dann muss man denen das doch melden und sich beschweren, ist ja ein Blaupunktvertragshändler, dann müssen die doch in Hildesheim die Verantwortung übernehmen, wenn es ihr Vertragsladen ist.« »Nee, nur weil es ihr Vertragsladen ist, können die doch nicht für alles grade stehen, was die Händler da machen.« »Ja aber Blaupunkt kann das doch nicht hinnehmen, oder aber die stecken selbst mit drin in dem Beschiss. Ja klar, die produzieren das ja so, mit der dritten Karte, die du nur als drei Karten zu achtzig Euro bekommst – achtzig Euro! Und die beiden anderen brauchste ja gar nicht, musste aber mitkaufen! Steht der Sack unter seinem scheiß Meisterbrief, nee, da hört bei mir alles auf …« »Na komm, ist ja gut.« »Ja, ich mein ja nur … Willst du auch noch ’n Kaffe? Ich hol mir noch einen.« »Naja, nee, eigentlich nicht … na doch, ich wollte längst los, aber jetzt ist auch egal, geh, aber … ach nee, vielleicht gehst du dir erst ’n Kaffe holen und dann geh ich, vielleicht gibt’s schon ’nen kleinen Schluck Rotwein, die Frau ist ja immer ganz nett hier.« »Ja, die ist nett, gibt auch noch nette Menschen. Also geh ich erst, ja? Hab ich richtig verstanden, ja? Und du...