E-Book, Deutsch, Band 12, 192 Seiten
Reihe: Die Kaminski-Kids (E-Books)
mit Illustrationen von Lisa Gangwisch
E-Book, Deutsch, Band 12, 192 Seiten
Reihe: Die Kaminski-Kids (E-Books)
ISBN: 978-3-03848-596-4
Verlag: Fontis
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Der Autor recherchierte vor Ort in Zusammenarbeit mit dem Kinderhilfswerk Terre des hommes. 'In Marokko wird eine unverheiratete Mutter von der Gesellschaft geächtet', erklärt Carlo Meier. 'Das führt dazu, dass viele junge Frauen keinen anderen Ausweg sehen, als ihre Babys auszusetzen.'
Kindgerecht beleuchtet er das Thema anhand eines Einzelschicksals. Dabei spielt eine Hilfswerk-Mitarbeiterin eine Hauptrolle: Die Schwester von Frau Kaminski lädt die ganze Familie in den Schulferien zu sich nach Marrakesch ein, wo die Kids in eine völlig fremde, exotische Welt eintauchen.
Carlo Meier zählt zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Jugendkrimi-Autoren. Seine Erfolgsreihe 'Die Kaminski-Kids' ist regelmäßig in den Bestsellerlisten vertreten, wird in mehrere Sprachen übersetzt und erscheint auch als Hörspielserie sowie auf Theaterbühnen. Seine beliebten Lesungen haben bereits über 1400 Schulklassen und insgesamt mehr als 30.000 (!) Kinder erlebt. Der Schriftsteller wurde 1961 geboren, ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt mit seiner Familie in der Nähe von Zürich/Schweiz.
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1
In Bedrängnis
«Achtung!» Erschrocken zeigte Simon durch die schmutzige Autoscheibe nach vorne. «Da drängt ein Mofa rein, und in unserer Spur steht ein Eselskarren!» Am Steuer blieb seine Tante Liliane völlig gelassen. «Das ist ganz normal hier», lächelte sie. «Alles unter Kontrolle. Oder besser gesagt: Gar nichts unter Kontrolle.» Raffi kriegte vor Staunen den Mund nicht mehr zu. «In diesem fremden Land hier sieht ja alles ganz anders aus als bei uns zu Hause!» Das konnte man wohl sagen: Auf der schmalen Fahrbahn drängten sich Fußgänger, Kinder, Männer mit Schubkarren, verbeulte Autos und ein ganzer Schwarm hupende Mofas. Dichte Abgaswolken erfüllten die Luft mitten in Marrakesch. Tante Liliane war in dieser afrikanischen Großstadt für ein Kinderhilfswerk tätig und hatte die Kids und ihre Eltern eingeladen, sie in den Herbstferien zu besuchen. «So, da sind wir!», verkündete sie und hielt auf einem belebten, staubigen Platz an. «Ihr könnt schon mal vorgehen, ich bringe nur noch rasch den Wagen weg.» Zwischen den vielen Leuten und Fahrzeugen hindurch deutete sie auf eine bevölkerte Straße. «Die erste Gasse dann gleich rechts rein.» «Okay.» Debora, Raffi, Simon und ihre Eltern kletterten aus dem verschrammten Geländewagen mit der Aufschrift TERRE DES HOMMES und begannen, ihr Gepäck auszuladen. Trockene Hitze schlug ihnen entgegen – auch im Oktober war es hier locker über dreißig Grad heiß. Das Viertel duftete nach Gewürzen und pulsierte vor Stimmengewirr, Geknatter und Gehupe. Rundherum wimmelte es von verschleierten Frauen und Männern, die eine Art bodenlanges Hemd trugen. Ein Einheimischer in einem solchen Kaftan-Gewand beobachtete die Familie aus schmalen Augen. Als das ganze Gepäck ausgeladen war, fuhr Liliane los. Frau Kaminski winkte ihrer Schwester hinterher, die mit dem Jeep davonbrauste. Der Mann im weißen Kaftan blickte dem Auto nach. Sobald es hinter einer Biegung verschwand, trat er rasch vor, griff sich den großen Familienkoffer und fragte, wohin sie müssten. Etwas verblüfft nannte Herr Kaminski die Adresse: «Derb Saleh elf …» Zwar war die Landessprache im Königreich Marokko eigentlich Arabisch, aber viele Leute sprachen auch Französisch, wovon alle Kaminskis mehr als nur ein paar Brocken beherrschten. Und so konnten sie sich einigermaßen verständigen. Der Einheimische mit dem faltigen sonnengegerbten Gesicht zog den Rollkoffer voran, und sie folgten ihm mit ihren Reisetaschen durch das Getümmel auf der Straße. Am Boden saßen Bettler, dazwischen boten verhüllte Gestalten Papiertaschentücher und einzelne Bonbons zum Verkauf an. Jugendliche lehnten an Hausmauern oder streiften mit suchenden Blicken herum. Raffi war ein wenig mulmig zumute. «Sind wir bald da?» «Keine Ahnung …» Vater wischte sich den Schweiß von der Stirn. Am Straßenrand fielen Simon Einheimische auf, die seine Familie aufmerksam aus den Augenwinkeln musterten, als führten sie etwas im Schilde. Warum wohl?, fragte er sich. Machte er sich da zu viele Gedanken, und das Ganze hatte gar nichts zu bedeuten? Oder am Ende eben doch? Man hörte ja so Sachen … Würden die ihnen vielleicht nachher unauffällig folgen? War das etwa ein abgekartetes Spiel mit diesem seltsamen Führer? Wohin brachte der sie denn eigentlich? Wirklich an den richtigen Ort? Oder bloß in eine einsame Gasse, wo … Es blieb keine Zeit, lange darüber nachzudenken – sie mussten zusehen, dass sie dem Mann im Gedränge überhaupt folgen konnten und ihn nicht aus den Augen verloren. Im Gehen versuchte Debora, irgendwo einen Straßennamen zu erkennen. «Derb Saleh», murmelte sie. Derb hieß Gasse … Aber alles stand da in arabischen Schriftzeichen. Man hatte keine Chance, die Schilder mit den Schlangenlinien und Tüpfelchen zu entziffern und sich in der Gegend irgendwie zurechtzufinden. Plötzlich entstand in der Nähe ein Aufruhr. Ein junges Paar wurde von drei Marokkanern lautstark angeschnauzt. Das Pärchen stammte anscheinend aus Deutschland und verteidigte sich hitzig mit Worten und Gesten, was die Einheimischen bloß noch zorniger machte. Sie stießen den Mann an und lärmten herum, bis er widerwillig einen Geldschein aus der Tasche kramte. Die drei Männer nahmen den Schein und zogen damit ab. Vater und Mutter warfen sich daraufhin einen sehr beunruhigten Blick zu. Den Kids ging es nicht anders. Was sollte das denn?, dachten sie. Würden sie wohl auch gleich von ein paar Einheimischen bedrängt werden? Wer konnte das schon wissen – das war alles so schwer einschätzbar hier … Der Führer im weißen Kaftan bog mit dem Rollkoffer von der Hauptgasse ab, und die Familie Kaminski tauchte in eine einsame Gegend ein. Hier waren nur noch wenige Menschen unterwegs. Beidseits der Gasse erhoben sich hohe fensterlose Mauern von angrenzenden Häusern. Nach ein paar Biegungen konnten die Kids einen Blick durch eine offene Hintertür in eine Gasthausküche werfen. Drinnen schälten Kinder Karotten und spülten von Hand Geschirr. Einige von ihnen waren so klein, dass sie noch nicht mal zur Schule gingen. Ein dunkel gelockter Junge in Deboras Alter steckte gerade einem etwas älteren, hübschen Mädchen mit rotem Kopftuch einen Brocken Brot zu, den sie sofort hungrig hinunterschlang. Die Kids rissen sich von dem befremdlichen Anblick los und gingen weiter. Raffi hatte einen dicken Kloß im Hals, weil dieses Mädchen solchen Hunger hatte. So arme Kinder hatte sie bisher nur auf Bildern gesehen … An der nächsten Ecke hielt ihr Führer kurz bei einem Mann an, der an der Hausmauer lehnte, und murmelte ihm etwas zu, worauf dieser mit unbewegter Miene in Arabisch zurückmurmelte. Was hatte das nun wieder zu bedeuten …? Die Gassen wurden zunehmend schmaler, düsterer und ärmlicher. An manchen Stellen blätterte die Farbe oder bröckelte sogar das Gestein ab. Hin und wieder ertönte hinter den schroffen, abweisenden Mauern das Krähen eines Hahns, sonst blieb alles still. Irgendwann war überhaupt niemand mehr zu sehen. Plötzlich folgten ihnen zwei junge Männer, und Simons ungutes Gefühl verstärkte sich noch. Da war er nicht der Einzige. «Ich weiß nicht, ob mir das gefällt», sagte Vater und blieb stehen. Abwartend musterte er den Führer, der unentwegt voranmarschierte. Mutter nickte. «Ich habe keine Ahnung, wo der uns hinbringt. Und was das hier werden soll.» Bange griff Raffi nach Simons freier Hand. Schmerzlich vermisste sie Zwockel – wäre der Hund da, würde sie sich bedeutend sicherer fühlen … «Hab keine Angst, Raffi.» Simon zog die Kleine dicht an seine Seite und ließ Debora zwischen sich und die Eltern, damit sie gegen hinten geschützt war. Mit der anderen Hand hielt er seine Reisetasche fest gepackt. Er überlegte, wie er sich verteidigen könnte, falls es hart auf hart kommen sollte. Sein Taschenmesser war im Koffer, also nicht griffbereit – womit würde er sich sonst wehren? Unauffällig schaute er sich schon mal nach Fluchtwegen um. Es gab keine. Hinter ihnen waren die jungen Männer, vor ihnen der Führer. Und da – dieser dunkle Hauseingang dort vorne sah ganz danach aus, als könnte jemand darin verborgen sein … «Warten Sie mal, Monsieur1», rief Vater in diesem Moment dem alten Mann zu. «Ist es noch weit?» Der Führer schüttelte den Kopf und lächelte. In seinem Mund kamen dabei ein paar einsame gelbe Zahnstummel zum Vorschein. Mutter schaute Vater zögernd an. «Wollen wir wirklich weiter in diese verlassene Gegend hinein?» Angespannt wandten die Kids sich um. Die zwei jungen Männer kamen immer näher, verlangsamten aber den Schritt. «Zurückfinden würden wir auf keinen Fall», murmelte Debora beklommen. «Hier sieht eine Gasse wie die andere aus. Das ist das reinste Labyrinth.» Auf einmal ertönte hinter der Biegung ein Getrappel. Entschlossene Schritte kamen rasch näher. Die Kinder hielten den Atem an. Da bog jemand um die Ecke. Eine Frau mit langen schwarzen Haaren. Tante Liliane. Erleichtert bliesen die Kids Luft aus. «Da seid ihr ja!», rief Liliane beschwingt. Doch als sie den Führer mit dem Rollkoffer sah, wich das Lächeln aus ihrem Gesicht. Energisch trat sie vor und wechselte ein paar arabische Worte mit ihm. Ihre Rede schien ihm überhaupt nicht zu gefallen. Er widersprach und wurde ziemlich laut dabei. ...