Sie zielen auf dein Innerstes
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
ISBN: 978-3-947619-63-4
Verlag: Polarise
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie leicht lässt du dich manipulieren?
Deutschland in naher Zukunft. Sophie König steht kurz vor ihrem Ziel: die Psyche von Menschen in deren Datenspuren zu erkennen. Um ihren Traum zu verwirklichen, schließt die KI-Forscherin einen Pakt mit dem zwielichtigen Andy Neville, der früher Wähler digital manipuliert hat.
Zur gleichen Zeit macht der charismatische Jungpolitiker Boris Riemann eine steile Karriere. In seinem Ringen um Wählerstimmen attackiert er die etablierte "Präventionspolitik" von Bundeskanzler Frederik Mager.
Bald verbinden sich die Erfolge von Sophie und Riemann auf tödliche Weise...
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2
Berlin, März 2041
Durch ihr Bürofenster ließ Sophie König den Blick über die Skyline gleiten: vom Fernsehturm und den Wohnhochhäusern am Alexanderplatz nach Westen bis zum Expertenbaum, der die Kuppel des Reichstags weit überragte. Das Holzhochhaus strahlte etwas von seinem Stolz auch auf sie. Vom Stolz ihrer Zunft: der Wissenschaft. Ein greller Blitz leuchtete plötzlich in der Mitte des Gebäudes auf, ein weiterer an seiner Spitze. Flammen schlugen von beiden Stellen weit in die Höhe. Sophie schnappte nach Luft und riss sich das Augmented-Reality-Visier vom Kopf. Das Feuer war weg, der Expertenbaum unversehrt. Das Meer aus Dachgärten ließ die Stadt wie ein Idyll aussehen. Das AR-Visier hatte den Brand als erweiterte Realität auf Sophies Netzhaut projiziert. Das musste einer dieser fiesen KI-Agenten gewesen sein, die von wissenschaftsfeindlichen Aktivisten neuerdings ins Euronet geschleust wurden. Der Digitalschild war noch nicht perfekt auf diese intelligente Software adaptiert, so fand sie immer wieder ihren Weg bis in die AR-Visiere, wo sie Anschläge oder Attentate vorgaukelte. Sophie atmete durch und setzte das AR-Visier wieder auf. Es klopfte dreimal, die Bürotür schwang auf und Pete spazierte herein. Ihr Datenspezialist hob die rechte Hand, lächelte breit und schnippte mit den Fingern. Harfenklang. Funken sprühend tanzten zwei Tickets vor Petes Hand. »Rate mal, was ich hier habe!« Sophie hob die Augenbrauen, seufzte und schielte in die Ecke des Schreibtischs, wohin ihr AR-Visier die Uhr projizierte. »Pete, ich halte gleich Vorlesung.« Er lachte auf. »Immer noch die graue Professorin von der Humboldt-Universität! Sophie, du bist inzwischen eine Koryphäe in der datengetriebenen Psychologie. Studenten aus aller Welt schalten sich in deine Vorlesung. Du kannst, nein, du musst sie warten lassen.« »Du kennst mich schlecht, wenn du glaubst, ich würde deshalb meine Pünktlichkeit aufgeben.« Er hielt ihr die Tickets entgegen. »Die sind fürs Thetis. Eine Retro-Veranstaltung. Science-Fiction. Genauer gesagt Star Trek. Du stehst doch auf Mister Spock!« Sophie blies die Backen auf. »Ich mag Lieutenant Commander Data. Thetis, sagst du? Du meinst doch nicht dieses Kino?« Pete nickte. Sophie lachte trocken. »Du willst mich in eine Veranstaltung locken, in der alle gleichzeitig auf dieselbe Leinwand starren? Du kennst mich wirklich schlecht, Pete.« »Oh my God!«, rief er ihr zu. »Typisch Europäer! Ihr verbringt zu viel Zeit hinter euren AR-Visieren. Jeder lebt in seiner eigenen Blase! Ihr geht kaum unter Leute. Daran sind eure Regierungen schuld. Diese Präven… ahm …« »Präventionspolitik?« Sophie ging zur Bürotür. »Ja, genau! Das macht euch ängstlich und unsozial!« »Fast die ganze Welt macht Präventionspolitik«, stellte sie richtig. »Ihr drüben doch auch!« »Ja, aber wir ordnen nicht alles den Naturgesetzen unter!« Vor dem Hinausgehen drehte Sophie sich um. Pete machte keine Anstalten, das Büro zu verlassen. »Noch was, Pete?« »Ahm, ja, noch etwas. Unser Datenerheber… Ach, dieses deutsche Monster von Wort!« »Du meinst den Datenerhebungsantrag?« »Ja, genau. Die Datenschutzbehörde hat ihn weitergeleitet. An die … äh, warte …« Er legte zwei Finger an die Schläfen. »… an die algorithmische Antragsverarbeitung.« Petes Brust hob sich und er lächelte wie nach einem erzielten Tor. Sophie presste die Finger der rechten Hand zur Faust, bis sich die Nägel in die Haut bohrten. Sie hatte gehofft, dass ein Mensch, der ihre Arbeit kannte, den Antrag schnell durchwinken würde. Algorithmische Entscheidungen mochten zwar anfechtbar sein, doch die Verfahren dauerten Monate. Und eine Ablehnung würde faktisch das Ende des Projekts »Carin« bedeuten. »Danke für die Info«, presste sie heraus und wandte sich zum Gehen. »Halt mich auf dem Laufenden, Pete«, rief sie, während sie schon den Gang in Richtung Hörsaal entlangmarschierte. Sie durchquerte das Foyer und betrat den Korridor zum Hintereingang des Hörsaals. Die fensterlose Dunkelheit lastete auf ihr wie nasser Sand. Wann reparierten sie endlich die Lampen! Sie ließ das Visier die Konturen des Korridors anzeigen und beschleunigte den Schritt. Die Helligkeit im Auditorium ließ sie aufatmen. Doch gleich folgte der nächste Schreck. Nicht nur, weil der Hörsaal bis zur obersten Bankreihe gesteckt voll war. Nein, sondern auch, weil darüber noch viel mehr Gesichter erschienen. Die eingeblendeten Reihen wirkten wie die Westkurve eines WM-Stadions beim Finale. Sophie fühlte sich wie eine Fußballerin, die tausende Augenpaare erwartungsvoll anstarrten. Es geht nicht um dich, versuchte sie ihren wieder anziehenden Puls zu beruhigen. Die datengetriebene Psychologie boomt und du bist eine der weltweit führenden Expertinnen auf dem Gebiet. Bleib ganz ruhig! So viel Publikum wie heute hatte sie allerdings noch nie gehabt. Schuld daran war sicher ihr jüngster Auftritt in einer weltweit erfolgreichen Doku über die Frage, wie sich die Seele eines Menschen in seinen Daten widerspiegele. Diese Formulierung war ihr natürlich viel zu effekthascherisch. Sie hatte aber widerwillig mitgemacht, denn Popularität erleichterte in aller Regel den Zugang zu Fördergeldern und vor allem Daten. »Guten Morgen allerseits«, rief Sophie. Wenn man einmal redete, floss der Rest wie von selbst, ermutigte sie sich. Sie kniff die Augen zusammen, führte den Zeigefinger über einzelne Köpfe und ließ ihn dabei leicht hüpfen, als zähle sie. Nach ein paar Sekunden winkte sie ab. »Wie viele Persönlichkeiten mögen hier wohl versammelt sein?« »Es sind viertausenddreihundertzwölf Nutzende anwesend«, ertönte eine Stimme, kaum dass Sophie zu Ende gesprochen hatte. Manche drückten den Wortmeldungsbutton äußerst rasch. »Danke!«, rief Sophie lächelnd in die ungefähre Richtung. »Dann ist die Antwort leicht. Na, wie viele Persönlichkeiten?« »Viertausenddreihundertzwölf!«, sagte eine andere Stimme. »Genau! Natürlich hat jeder Mensch seine ganz eigene Persönlichkeit! Einzigartig und unverwechselbar. Also, warum sind Sie alle hier?« Wieder blickte sie über die Menge. Ihre Aufregung legte sich. Sie fand, dass sie es gut meisterte. Mit einer teilvirtuellen Masse umzugehen, fiel ihr leichter, als mit zwei oder drei Leuten am Esstisch. »Weil wir lernen wollen, wie man die Persönlichkeit aus Datenspuren herausliest!«, antwortete eine Stimme. Sophie wiegte den Kopf. »Sie glauben, dass das geht? Kann ich die Persönlichkeit eines Menschen erkennen, den ich nie im Leben gesehen habe?« »Ja!« »Natürlich!« »Und ob!« »Okay, okay«, fuhr Sophie fort. »Dann muss ich Ihnen ja wohl nur noch erklären, wie das geht.« »Wir sind ganz Ohr!« Sophie trat ein paar Schritte zurück und flüsterte einen Befehl. Eine Kugel, halbtransparent und größer als sie selbst, schwebte vor ihr knapp über dem Boden. »Na, wie viele Punkte hat die Oberfläche dieser Kugel?« »Eine Million?« Sie schüttelte den Kopf und lächelte zaghaft. »Unendlich viele«, riet ein Student. Sophie schnippte mit den Fingern und deutete ungefähr in die Ecke des Sprechers. »Richtig!« Ihr Blick glitt durch die Kugel über die Reihen. »Und dennoch«, sagte sie, »reichen zwei Zahlen, um jeden Punkt auf der Kugeloberfläche eindeutig zu beschreiben: der Längen- und der Breitengrad.« Sie tippte die Spitzen von Daumen und Zeigefinger erneut aneinander. Ein Netz aus waagrechten und senkrechten Linien zog sich über die Kugel, sodass diese aussah wie ein Modell der Erde. »Man könnte auch sagen, die Kugeloberfläche hat zwei Dimensionen. Wie viele Dimensionen, denken Sie, hat die Persönlichkeit?« »Eine Million?« Die Antwort kam von derselben Stimme wie zuvor. Sophie hob etwas genervt die Augenbrauen. »Achthundert?« »Ich verstehe. Sie denken, etwas so Komplexes wie eine Persönlichkeit braucht viele...