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E-Book

E-Book, Deutsch, 364 Seiten

Meier Apeirophobia

Roman

E-Book, Deutsch, 364 Seiten

ISBN: 978-3-98857-112-0
Verlag: Hirnkost
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Europa im 22. Jahrhundert: Die wieder erstarkte katholische Kirche hat Himmel und Hölle real werden lassen. Rom kontrolliert eine Technik, die die Körper Verstorbener wiedererweckt. Damit zwingt sie den Menschen in einem äußerlich modernen Staat eine mittelalterliche Moral auf.
Micha Berg, 21 Jahre alt und hochbegabt, giert nach Wissen. Sie will um jeden Preis Naturwissenschaften studieren, auch wenn es an der Päpstlichen Universität sein muss. Doch stattdessen wird sie in einem Sozialzentrum zur frommen Ehefrau ausgebildet. In ihrer Verzweiflung nimmt sie Kontakt zu den "Neuen Illuminaten" auf, einer Untergrundgruppe, die die geheimen Machenschaften des Vatikans aufdecken will. Auch dem "ewigen Papst" Bonifaz X. fällt Michas Genialität auf und sie gerät ins Visier seiner Heiligkeit. Als sie erkennt, was ihr übermächtiger Gegner vorhat, beginnt Micha einen scheinbar aussichtslosen Kampf ums Überleben der Welt.
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•2•
Die nächsten Tage rattern routiniert herunter, mit Küchendienst in einer Verwaltungskantine, Putzdienst in einem Versorgungszentrum, mittäglichen Gymnastikgruppen, nachmittäglichen Kursen im Sozialen Zentrum; Pflichten, die niemand hinterfragt. Die Liras landen auch so auf dem Konto. Ich funktioniere, ohne etwas zu fühlen, ohne etwas Erinnernswertes zu sehen oder zu hören. Das Hamsterrad surrt glatt und leer. Nachts tauche ich in mein papierenes Abenteuerland ab. Dort ringe ich mit Texten, Gleichungen und Graphen. Die Zeit gewinnt Leben und Struktur. Sie verwandelt sich in ein Feuerwerk, in dem jeder Funke eine Geschichte erzählt und mit jedem anderen Funken in Verbindung tritt, um ein faszinierendes Netz zu bilden, aus dem neue Bedeutungen und Ahnungen aufsteigen. Es sind uferlose Nächte geistiger Ekstase. Wie ein Ausbruch aus dem festen Gefüge. Der nächste Tag, ein Sonntag, beginnt mit einer Flexibusfahrt in das Wohnviertel hoher Verwaltungsbeamter. Es ist ein sonniger, warmer Novembertag. Frau Mutter trägt ihr Sonntagskleid, den Rücken durchgestreckt, den Blick streng nach vorne gerichtet, den Griff der hellbraunen Handtasche umklammernd, die auf ihrem Schoß ruht. Ich trage einen grünen Schleier über meinem offenen Haar und dazu mein Sonntagskleid, das mir seines weichen Stoffs wegen angenehmer ist als die Alltagskleidung. Es würde mir sogar gefallen, mich schön zu kleiden – wenn ich selbst bestimmen könnte, wann und für wen. Doch das sind Träume, ferner und blasser als der Andromedanebel. Ich sehe aus dem Busfenster hinaus, doch über die vorbeiziehenden Fassaden legt sich zunächst undeutlich und dann klarer werdend ein anderes Bild. Eine tote Landschaft unter einem blutroten Mond. Baumgerippe, an deren knochigen Zweigen Eiszapfen wie Früchte des Todes hängen, ungesundes Donnergrollen. Jetzt erst sehe ich die schlanke Gestalt mit dem blassen Gesicht. Sie kommt näher, ruft mir etwas zu, doch ich höre sie nicht. Ich friere bis in die Knochen hinein. Die Gestalt formt mit den Händen einen Trichter vor ihrem Mund. Ein besonders lauter Donner. »… so entgehst du ihnen nicht!«, höre ich nur noch, bevor das Bild sich auflöst. Nun sehe ich wieder die Jugendstilfassaden und verschnörkelten Straßenlaternen vorbeiziehen. Ich schüttle die Erinnerung an den seltsamen Tagtraum ab. Ich schlafe wohl zu wenig. Draußen stolzieren Passanten in edlen Anzügen und mattfarbenen teuren Kleidern auf breiten Trottoirs. Die Männer tragen Hüte, die Frauen spitzengeschmückte Kopftücher. Die Oberklasse liebt es altbacken. Ich will mich nicht in einem dieser Fetzen vorstellen. Die Aussicht, in einer Altbauwohnung mit drei Meter fünfzig hohen Räumen zu wohnen und einmal in der Woche Fisch zu essen, wirkt abgestanden auf mich. Der Bus hält an einem achteckigen Platz, den besonders stolze Wohnhäuser umschließen. Hier wohnt Balthasar, mein möglicher Ehemann, mit seinen Eltern. Sein Vater ist Volkswirt in der Imperialen Kommission mit einem Büro hier in der Stadt und in der Kommissionszentrale in Rom. Seinem Sohn steht eine ähnliche Karriere bevor. Mir imponiert das null. Die Hoffnung, mehrere Wochen im Jahr in der römischen Dienstwohnung zu verbringen, würde andere locken. Mich erfüllt es nur mit Schauder. »Ich hoffe für dich und dein Seelenkonto, dass du eine gute Vorstellung ablieferst, Tochter«, schärft mir Frau Mutter zum x-ten Mal ein, während sie sich am Edelholzhandlauf die knarrende Treppe in den dritten Stock hinaufzieht. Sie dreht sich zu mir herum, nimmt mein Kopftuch ab, löst mein Haar, sodass es frei über meine Schultern fällt. Sie betrachte es als eine Gnade, predigt sie weiter, dass die Vermittlungsalgorithmen Balthasar und mich zusammengebracht hätten. Man solle zwar nicht spekulieren, was dahinterstecke, doch sie denke, dass Balthasars Unfruchtbarkeit ihn zwinge, unter seinem Stand zu heiraten. Enkel erhofft sich Frau Mutter von Lukas. Das Beste, was ich beitragen kann, ist eine Heirat, die den sozialen Status unserer Familie hebt. Mir selbst schwebt ein Deal mit Balthasar vor: Nach außen die Rolle der perfekten Ehefrau zu spielen und im Gegenzug nach innen die Freiheit unbeschränkten Selbststudiums zu haben. Ich hoffe, dass mein Zukünftiger Beziehungen zur Wissenschaft hat, vielleicht sogar Zugang zu weiterführender Literatur. Ich schicke ein stilles Stoßgebet los – immer klares Zeichen nackter Verzweiflung. Herr, gönne mir diesen Trost! In der halboffenen Wohnungstür erwartet uns eine schlanke Frau, deren Wangenknochen die papierene Gesichtshaut zu durchstechen drohen. Während ihre Augen mich noch sezieren, legt sich ein zufriedenes Lächeln um ihre Lippen. Die Optik ist hier offenbar die halbe Miete. Die Mütter begrüßen sich, für mich gibt es beim Eintreten ein knappes Nicken. Nach dem Ablegen der Garderobe führt mich Frau Mutter am Ellbogen, der Gastgeberin folgend, in einen hellen Raum. Ich halte ritualgemäß den Kopf gesenkt und die Hände vor dem Bauch verschränkt. Das nussbraune Holzparkett glänzt, verstohlen drehe ich die Augäpfel und erkenne stilvoll geschwungene Holzbeine von Stühlen – sowie ein Paar gelackte, schwarze Schuhe, in denen die Beine eines Nadelstreifenanzuges stecken. Die Gastgeberin gibt die Erlaubnis, sich zu begrüßen. Vorsichtig hebe ich den Blick. Ein birnenförmiger Körper erscheint, eine schmale Brust, ein feistes Gesicht, das durch den blonden Bart noch pausbackiger wirkt. Im Kontrast dazu eng stehende Augen, die eine kühle Schärfe ausdrücken. Der schmale Mund ist eine perfekt waagrechte Linie. Bang erwarte ich das Zweiergespräch, das man den künftigen Eheleuten gönnt. Oder besser, dem Mann, denn nur er hat die Freiheit, hinterher nein zu sagen. Wir sitzen uns gegenüber, jeder eine Tasse Hagebuttentee und ein Schälchen mit Mannaplätzchen vor sich. Balthasar schlürft am Tee und schluckt vernehmlich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er irgendeiner Frau gefallen könnte. Wie es andersherum stand, kann ich nicht sagen. Balthasar behält sein perfektes Pokerface bei. Mit einer Geste ermutigt er mich, einen Mannakeks zu kosten. Ich muss den Linsen nicht vortäuschen, dass ich ohne Gier danach greife. Doch beim Hineinbeißen überwältigt mich Süße; eine unmittelbare, starke Wahrnehmung! Ich habe Mühe, trotz aller Übung darin, nach außen unbeeindruckt zu wirken. In den besseren Kreisen mischt man also Honig ins Manna. »Sind Sie …«, stammelt Balthasar unvermittelt los. »Sind Sie gut hergekommen?« »Ja …«, antworte ich unsicher. »Sehr gut, danke. Unser Transportsystem ist äußerst effizient.« Seine Mundwinkel heben sich kaum merklich. Meine Ausdrucksweise scheint ihn zu überraschen. »In der Tat«, antwortet er. »Es ist imperiumsweit führend, nicht einmal in Rom funktioniert es so reibungslos.« »Sind Sie oft dort?« Er stutzt, schwankt offenbar, wie er meine Direktheit einordnen soll. »Nicht oft, nein. Drei, vier Mal im Jahr, je zwei Wochen etwa. Sie würden in diesen Zeiten allerdings hier die Stellung halten.« Ich stutze. Mit welcher Schärfe er »Stellung halten« ausgesprochen hat! »Natürlich«, sage ich bescheiden, um einem Zittern der Seelenuhr vorzubeugen. Er plane eine Karriere bei der Kommission, berichtet Balthasar, da er am »großen Rad« drehen wolle. Da der Boden der Ursprung der imperialen Wirtschaftsordnung sei, strebe er ein hohes Amt in der Bodenverwaltung an. Ihn interessiere die unter Volkswirten vernachlässigte Frage, wie sich das minimal nötige Wirtschaftswachstum regeln lässt, ohne die engen Grenzen der natürlichen Ressourcen vor dem Jüngsten Gericht zu erreichen. Was nicht zuletzt deshalb sehr schwierig sei, da der Termin der Apokalypse nicht feststehe. Planbarkeit sehe anders aus. Ich nicke ehrfürchtig, bis das Gespräch stockt. Zaghaft lasse ich den Blick im Raum umherschweifen. Die Wand schmückt ein hellgrüner Wandteppich mit Blumenmuster sowie einige Landschaftsgemälde. Zwischen all der Pracht hängt eine eingerahmte Buchseite, über die sich fünf rußige Brandflecken ziehen, ganz klar die Spuren einer Hand. »Was ist das?«, frage ich geradeheraus, erneut die Etikette missachtend. Meine Seelenuhr vibriert. Sicher war nun eine Rüge fällig! Doch Balthasar lächelt mit kaum unterdrücktem Stolz. »Das ist etwas sehr Besonderes«, sagt er. »Die Seite eines Gebetbuches mit den Fingerspuren meiner verstorbenen Großmutter. Wegen eines beginnenden Krebsleidens wurde ihr Lebenshilfe zuteil, als ich noch ein Kind war. Während meiner Kindheit hatte sie mir sehr gefehlt. Als ich achtzehn wurde, hat uns ihr auferstandener Leib hier besucht und mich gebeten, Messen für sie lesen zu lassen, für sie zu beten und dem Fürbittenfonds zu spenden, um sie schnellstmöglich aus dem Fegefeuer zu befreien. Auf dieser Buchseite zeigte sie mir ihr Lieblingsgebet.« Sein Blick richtet sich beglückt und erschauert in eine unbestimmte Ferne. »Es war ein … unglaublich intensives Erlebnis, sehr ungewöhnlich. Die Vatikanischen Medien berichteten davon. Kennen Sie die Geschichte nicht?« Ich bin zu schockiert, um zu antworten, schüttle nur den Kopf. Hausbesuche von Fegefeuerinsassen: Etwas Grauenvolleres kann ich mir kaum vorstellen! Balthasar beugt sich mir entgegen. »Sie sind ja ganz blass. Besser wir wechseln das Thema.« Wenigstens bemüht er sich, spricht eine Viertelstunde über Leichteres, etwa woher die Gemälde stammen und was sie darstellen. Das finde ich...


Christian J. Meier, geboren 1968, hat Physik studiert und arbeitet als Buchautor und Journalist. Er schreibt populärwissenschaftliche Sachbücher und Artikel für renommierte Medien wie Süddeutsche Zeitung, Neue Zürcher Zeitung oder Riffreporter. Als leidenschaftlicher Science-Fiction-Fan hat er selbst zwei Romane und mehrere Kurzgeschichten veröffentlicht, die sich meist um Digitalisierung, künstliche Intelligenz oder den technisch erweiterten Menschen von morgen drehen. "Apeirophobia" ist sein dritter Science-Fiction-Roman. Christian J. Meier lebt im südhessischen Groß-Umstadt am Rande des Odenwaldes.


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