E-Book, Deutsch, 752 Seiten
Mehring Carl Schmitt
2. Auflage 2022
ISBN: 978-3-406-78564-1
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Aufstieg und Fall
E-Book, Deutsch, 752 Seiten
ISBN: 978-3-406-78564-1
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Reinhard Mehring hat 2009 die grundlegende Biografie Carl Schmitts vorgelegt, der bis heute neben Martin Heidegger und Max Weber der weltweit am meisten rezipierte deutsche Denker des 20. Jahrhunderts ist. Ein meisterhaftes Buch über eine geradezu Shakespeare’sche Gestalt im Zentrum der deutschen Katastrophe. Nun liegt das Werk in einer grundlegend überarbeiteten und aktualisierten Neuausgabe vor.
Ein "weißer Rabe" – so hat Carl Schmitt sich selbst gern wahrgenommen. Der neidbeladene junge Mann aus einfachen Verhältnissen bahnt sich dank seiner brillanten Fähigkeiten den Weg bis an die Spitze der deutschen Rechtswissenschaft – und wird doch nie heimisch im Establishment der Gelehrten und Geachteten. Während er in seinen Schriften den liberalen Rechtsstaat als Verfassungsfassade demontiert und die Legitimität der Diktatur auslotet, jagen ihn Dämonen: sein wilder Antisemitismus, eine selbstzerstörerische Sucht nach Sexualität, das tiefsitzende Ressentiment gegen die Selbstgefälligkeit jeder bürgerlichen Existenz. So ist er disponiert, als die Nationalsozialisten die Macht ergreifen. Er bricht mit seinen jüdischen Freunden, hält Adolf Hitler juristisch den Steigbügel und "verstrickt" sich tief. Doch schon 1936 kommt er durch Intrigen zu Fall. Nach dem Krieg lebt er zurückgezogen in seiner sauerländischen Heimat und wird zu einer diskreten Schlüsselfigur der intellektuellen Szene. Seine radikalen Theorien über Freund und Feind, Legalität und Legitimität, den Begriff des Politischen werden in alle wichtigen Weltsprachen übersetzt und von erzkatholischen Konservativen gleichermaßen intensiv gelesen wie von den kommunistischen Revolutionären der Dritten Welt.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Wissenschafts- und Universitätsgeschichte
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Kultur- und Ideengeschichte
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politikwissenschaft Allgemein Politische Geschichte
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtswissenschaft Allgemein Biographien & Autobiographien: Historisch, Politisch, Militärisch
Weitere Infos & Material
1. Ein «obskurer junger Mann bescheidener Herkunft»
Eifeler Herkunft der Eltern
Carl Schmitt bezeichnete sich immer wieder als Moselaner. Das trifft aber schon für seine Eltern nicht genau zu. Alle Verwandten der väterlichen Linie[1] kommen aus Bausendorf, einem Dorf am Alfbach in der Eifel etwa 6 Kilometer Luftlinie von der Mosel entfernt. Bis Bernkastel-Kues, dem Hauptort der Mittelmosel, sind es etwa 15 Kilometer. Nach 1815 wurde Bausendorf preußisch. Die überwiegend katholische Bevölkerung, im 19. Jahrhundert etwa 500 Einwohner, lebte von der Landwirtschaft und vom Handwerk. Weinbau gab es nicht. Bausendorf hatte eine eigene Pfarrei; der Wallfahrtsort Heinzerath lag in der Nähe. Die väterliche Linie zeigt einen Übergang vom Bauern zum Handwerk. Ein Urgroßvater war Bäcker, Bauer und Gastwirt. Der Großvater Nikolaus Schmitt betrieb eine Bäckerei mit Wirtschaft, besaß eine Scheune und Stallungen sowie einen Schul- und Tanzsaal. 1852 heiratete er eine Katharina Anna Franzen. Aus der Ehe gingen neun Kinder hervor. Carls Vater Johann Schmitt (1853–1945) war der älteste Sohn. Schon väterlicherseits gab es also viele Onkel und Tanten. Carl hat seine Großeltern väterlicherseits nie kennengelernt. Der Vater kam mit fünf Jahren auf die Bausendorfer Knabenschule. Mit 14 Jahren begann er im nahegelegenen Weinort Kröv eine Ausbildung bei der Post und erhielt bald das Postamt Bleialf in der Nordeifel. Später trat er in den besser besoldeten Eisenbahndienst über. 1874 wurde er ins westfälische Siegen/Siegerland und dann nach Werdohl an der Lenne versetzt; im September 1876 kam er nach Plettenberg-Eiringhausen ins westfälische Sauerland. 1878 trat er dort als kaufmännischer Angestellter bzw. Buchhalter in die Schrauben- und Mutterfabrik Graewe & Kaiser (Graeka) ein. Die Fabrik war erst 1872 gegründet worden, expandierte stark und prägte die Strukturen des Stadtteils. Dienstreisen führten Johann Schmitt auch ins Ausland. 1878 lernte er Maria Rehse (1850–1882) kennen. Im August 1879 heirateten sie. Maria war evangelisch, so dass Johann mit der Heirat die Konfessionsgrenze überschritt. Sie bekamen zwei Kinder: Ernst (1880–1919) und Maria (1881). Das zweite Kind verstarb und die Ehefrau folgte 1882 nach längerer Krankheit. Pfingsten 1886 begegnete Johann dann auf einer Reise Louise (Luise) Steinlein (1863–1943), Carls Mutter. Sie war 1863 in Blasweiler/Kreis Ahrweiler in der Eifel als uneheliches Kind geboren worden. Ihre Mutter Augusta Louise Bell heiratete 1865 den Trierer Zollbeamten Franz Josef Anton Steinlein. Franz gilt als Louises Vater. Wahrscheinlich war aber dessen Bruder Nikolaus, ein Pfarrer, der leibliche Vater, weshalb Louise erst 1865 nach Geburt des Sohnes Andreas legitimiert wurde. Die Steinleins, Carls Großeltern, bekamen nach Louise und Andreas noch fünf weitere Kinder. Auch mütterlicherseits hatte Schmitt also viele Verwandte, teils in Lothringen, wo die Mutter aufwuchs. Links: Der Vater Johann Schmitt. «Er hat in einer damals noch sehr harten Diaspora der katholischen Sache ein langes Leben hindurch treu gedient.» – Carl Schmitt am 9. September 1960 an den Historiker Rudolf Morsey. Rechts: Die Mutter Louise. Carl spricht gelegentlich ziemlich negativ über sie. Johann Schmitt und Louise heirateten nach kurzer Bekanntschaft im September 1887. Am 11. Juli 1888, dem Drei-Kaiser-Jahr, wurde Carl dann in Plettenberg geboren. Es folgten die Geschwister Auguste (1891–1992), Joseph (1893–1970) und Anna Margarethe (1902–1954). Beide Schwestern blieben kinderlos und unverheiratet. Der Bruder Joseph (Jupp) heiratete, hatte drei Töchter (Claire-Louise, Auguste, Paula) und praktizierte als Arzt in Köln. Der Halbbruder Ernst wurde Metzger und hatte sechs Kinder. Carl Schmitt heiratete zwei Mal. Aus zweiter Ehe stammte eine Tochter Anima Louise (1931–1983), die nach Spanien heiratete und vier Kinder (Beatriz, Carlos, Jorge, Álvaro) bekam. Carl hatte also insgesamt eine große Verwandtschaft. Nur einen Opa lernte er kennen; doch der war vermutlich nicht sein leiblicher Großvater. Zeitlebens hielt Carl enge Familienkontakte. Oft kam er für längere Zeit nach Plettenberg, wo seine Eltern erst im hohen Alter verstarben. Auch mit seinen Geschwistern pflegte er engen Umgang. Der Vater ging 1928, mit 75 Jahren, nach fünfzigjähriger Tätigkeit als kaufmännischer Angestellter bei Graeka in den Ruhestand. Unter den damaligen Bedingungen war sein Aufstieg beachtlich. Schulzeit in Plettenberg und Attendorn
Plettenberg liegt im südlichen Winkel des märkischen Sauerlands. «Das bedeutet: konfessionelle Minderheit in einer intensiv evangelischen, zum Teil auch protestantisch-sektiererischen Umgebung.»[2] Schon Ende des 19. Jahrhunderts war Plettenberg kleinindustriell geprägt. Die Bevölkerung wuchs zwischen 1880 und 1900 auf knapp 5000. Schmitt stammt also aus einer expandierenden Kleinstadt in nasskalter, hügeliger Mittelgebirgslandschaft im Tal des Flüssleins Lenne. Die Familie wohnt zunächst zur Miete in einem ländlicher gelegenen Ortsteil. Im Sommer 1901 zieht sie in die Bahnhofstraße in ein Doppelhaus in Eiringhausen. Ein Drahtwerk, ein Sägewerk und ein Schmiedebetrieb liegen in der Nähe, eine Schmalspurbahn führt direkt am Haus vorbei. Am Anfang ist die Eisenbahn: Schmitt wächst an einem kleinen Rangierbahnhof auf. Nur wenige Schritte führen zur Lenne und in die Landschaft, die er später immer wieder passioniert durchwandert. Ostern 1894 wird Carl eingeschult. Er besucht die katholische Jüttenschule zunächst im Stadtzentrum und dann ab 1897 im Stadtteil Eiringhausen. Sein Entlassungszeugnis vom 11. April 1900 zeigt die Durchschnittsnote «gut». Der Vater ist im Kirchenvorstand der Gemeinde und im Gabelsberger Stenographenverein engagiert und lehrt ihn die Stenographie, die er zeitlebens intensiv nutzt. Die Mutter, in einem lothringischen Kloster erzogen, vermittelt ihm die französische Sprache sowie das Klavierspiel. Anna Margarethe, die jüngste Schwester, wird später Musiklehrerin. Auch Carl spielt bis ins hohe Alter Klavier. Mit elf Jahren wechselt er in die Quarta des (1515 gegründeten) städtischen Gymnasiums Attendorn.[3] Es liegt nicht leicht zu erreichen etwa 15 Kilometer von Plettenberg entfernt. Carl tritt deshalb auch in das katholische Konvikt Collegium Bernadinum ein. Mit elf Jahren kommt er in ein strenges Internat. Aus der katholischen Diaspora gelangt er in ein dominant katholisches Milieu. Die Ferien verbringt er bei Verwandten an Eifel und Mosel oder bei den französisch sprechenden Verwandten in Lothringen. Onkel André Steinlein, ein Bruder der Mutter, ist dort durch Grundstücksverkäufe an den Bergbau reich geworden. Dessen Sohn André Steinlein befreundet sich eng mit seinem älteren Vetter und kommt in den Ferien gelegentlich nach Plettenberg. Die Quarta hat damals 17 Schüler: 13 Katholiken, 3 evangelische und einen jüdischen Schüler. Der Lehrplan legt den Schwerpunkt auf die Sprachen. In der 7. Klasse hat Carl sieben Wochenstunden Latein und vier Stunden Französisch. Später erhält er acht Stunden Latein und sechs Stunden Griechisch, dazu zwei Stunden Französisch. In der Oberstufe kommen wahlweise zwei Stunden Hebräisch oder Englisch hinzu. Carl wählt Englisch. Die Naturwissenschaften sind nur schwach vertreten. Es gibt auch nur zwei Stunden Religionsunterricht. Die Mutter wünscht, dass Carl Theologie studiert und Priester oder Mönch wird. Dann hätte er aber Hebräisch wählen müssen. Die Entscheidung gegen die Theologie ist endgültig. Erst später fällt die Entscheidung für Jura, die er nie bereut. Nur wenige aussagekräftige Quellen zur Kindheit und Schulzeit sind bekannt: keine Schlüsselszenen und kein Internatsroman. Auf dem Gymnasium lernt Carl Franz Kluxen kennen. Dessen Vater besitzt ein großes Textilkaufhaus am Prinzipalmarkt in Münster. Franz muss die Schule bald verlassen. Beide begegnen einander aber erneut während des Studiums in Straßburg. Kluxen ist künstlerisch stark interessiert. Mit 19 Jahren schon publiziert er eine Schrift Das ‹deutsche Drama› Richard Wagners als künstlerisches Ideal und schöpferische Tat.[4] Später sammelt er moderne Malerei. Durch Kluxen lernt Schmitt...