Medwedew | Antifaschismus für alle | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 313 Seiten

Medwedew Antifaschismus für alle

Manifest, Essays und Gedichte

E-Book, Deutsch, 313 Seiten

ISBN: 978-3-95757-649-1
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Gefeiert als vielversprechendster Dichter seiner Generation, kehrte Kirill Medvedev vor rund 10 Jahren dem Literaturbetrieb den Rücken. Er verweigerte öffentliche Lesungen, gab das Copyright seiner Texte auf und veröffentlichte sie fortan im Internet: 'für alle', um seine 'intellektuelle Souveränität wiederherzustellen'. Seine radikale und kompromisslos selbst gelebte Kritik an den Umständen in Russland und dem entfesselten globalen Kapitalismus führte ihn zum politischen Aktivismus von unten. Antifaschismus für alle versammelt nun Texte aus einem Jahrzehnt - erzählende Gedichte, wütend, zärtlich, voller Gewalt und sie gleichzeitig verdammend, sowie Essays über Literatur und Politik. Seine Texte sind somit nicht nur beeindruckende Literatur, sondern auch brennendes Zeugnis des Wunsches nach Veränderung und der Überzeugung, dass diese möglich ist.

Kirill Medvedev, 1975 in Moskau geboren, ist Schriftsteller, Übersetzer, Gitarrist und Sänger der Band Arkady Kots. Seine Texte wurden vielfach übersetzt und erregten international Aufmerksamkeit. Er lebt als politischer Aktivist und einer der Verleger der Freien Marxistischen Presse in Moskau.
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Mein Faschismus (einige Wahrheiten)
Aus dem Buch Der humanistische Aufstand
Ich bin einer dieser Menschen, über die man sagt, dass sie ihr Leben lang »in Watte gepackt waren«. Ich bin arglos sowohl dem äußeren Anschein nach als auch im Inneren. Ich bin herzensgut, nachgiebig und unentschlossen. Meine Umgangsformen sind nicht zu beanstanden. Ich trinke selten, führe kein maßloses Sexualleben, und schon seit fünf Jahren halte ich mich ganz von Drogen fern. Aber ich bin voller Idealismus. Und das ist gefährlicher als Drogen, Alkohol, Satanismus, Kannibalismus, Koprophagie und Nekrophilie. Ich wünsche euch daher, ihr werdet meinen Büchern all das vorziehen, was ich eben aufgezählt habe. In unserem Land ist jetzt eine fürchterliche ästhetische Atmosphäre entstanden. Das nationale kulturelle Bewusstsein präsentiert sich als ein halb sowjetischer, halb bourgeoiser Sumpf, in dem die verwesenden Leichen von Puschkin, Dostojewski, Stalin, Alla Pugatschowa4 und Jesus Christus liegen. Russland ähnelt einer verfaulten Kugel, einem hässlichen Klumpen mit einer Schicht Blattgold drumherum, im Inneren aber ist alles vollgestopft mit Abfall, mit Trash-Food, Trash-Ideologie und Trash-Kultur, mit Bruchstücken von Religion, Bruchstücken von sowjetischem Kitsch, Bruchstücken eines toten Imperiums. All das ist jetzt hervorgetreten und ragt von allen Seiten hässlich hervor, die Kugel dreht sich, gewinnt an Fahrt, kurz davor, in einer Explosion zu zerbersten oder alle niederzuwalzen, die ihr in den Weg kommen. Gerne ließ ich die plumpen Analogien zwischen Politik und Kultur beiseite, auch die brühwarmen kulturellen und politischen Argumente; ich werde sie hier dennoch bringen, weil man an ihnen nicht vorbeikommt. Die Situation, die zur Jahrtausendwende in der russischen Kultur und im intellektuellen Leben entstanden war, wurde in den Duma-Wahlen vom Dezember 2003 zementiert.5 In dieser Zeit schlossen die Leute, die nationalistisch oder einfach konservativ, jedenfalls antiliberal gestimmt waren, ihre Reihen. Der Hass auf den moralisch verdorbenen Liberalismus der 1990er Jahre, auf seine Manifestationen in Politik, Wirtschaft und Kunst, einte sie. Der intellektuelle Drive jener Zeit implizierte mehrere Aufgaben: das Verfechten der nationalen Werte auf Kosten aller anderen, einen nebulösen, aber machtvollen gesellschaftlichen Auftrag für ein unzweideutiges, positives Weltbild sowie das Implementieren eines aufgeblasenen spekulativen Konstrukts »konservativer«, »überindividueller« Werte, die angeblich dem liberalen Konsumismus und dem postmodernen Relativismus entgegenstünden. Die sogenannten Liberalen existierten zu diesem Zeitpunkt praktisch nicht mehr. Die Journalisten und Politiker, Geistesfürsten der frühen 1990er Jahre, waren zu gewöhnlichen Menschen mit gewöhnlichen Tugenden und Lastern geworden. Sie hatten entschieden, dass sie in einem normalen Land leben und dass sie so leben können, wie es ihnen passt. (Und so hätte es wahrscheinlich auch sein sollen, aber eben nicht in Russland, denn aus Russland war kein »normales Land« geworden). Kulturell konservierten sie das Niveau der Perestroika, und ihre Sprache war nach zehn Jahren einer entrückt-privaten oder konformistischen, mitunter unverhohlen betrügerischen Existenzweise verwittert und erstarrt, und man musste schon gar nicht mehr die Wahlergebnisse abwarten, um zu verstehen, dass hinter dieser Sprache kaum noch jemand stand. Der Dichter Dmitri Bykow, einer der Hauptvertreter der »antiliberalen Revolution« in der Publizistik des neuen Jahrtausends, entwickelt beharrlich seine Idee von einer fatalen »grenzenlosen Permissivität« weiter fort. Diese werde in der Politik durch betrügerische Businessmen und bestechliche Politiker verkörpert, in der Kunst indes durch avantgardistische Dichter und zeitgenössische Künstler – die sogenannten »Abstrakzissen und Päderasten«6 –, in der Philosophie schließlich durch die zeitgenössischen Philosophen, die Bykow so humorvoll das »ganze Gederrida« nennt. Eine solche grenzenlose Permissivität, wie sie sich in den 1990er Jahren breitgemacht habe, werde immer und müsse auch diesmal wieder eine blutige politische Reaktion gebären. Über dieses Thema hat Bykow den Roman Orthographie7 geschrieben, der auf einer Parallelisierung von Revolutionszeit und heutiger Zeit basiert. Diese Botschaft erscheint mir gefährlich, nicht nur, weil sie verlogen ist, sondern weil sie eine Lüge darstellt, die wahr werden könnte. Sie ist Ausdruck einer Neigung der Intelligenzija, vergangenen Zeiten, insbesondere dem Anfang des 20. Jahrhunderts, nachzuhängen. Sie zeigt ihre Unfähigkeit, die Gegenwart und ihre Gesetze zu akzeptieren. Bei all seinem Streben nach einer exklusiven und unabhängigen Position zeigen sich deshalb an Bykow viele Symptome der liberalen Intelligenzija. Die Hauptaufgabe der liberalen Intelligenzija der 1990er Jahre bestand darin, die westliche Kultur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verdauen, d. h. die fürchterliche sowjetische Rückständigkeit zu überwinden, um dann auf natürliche Weise voranzuschreiten und damit zu beginnen, eine wirklich »konkurrenzfähige« nationale Kultur und Ideologie zu schaffen. Nachdem allerdings die liberale Intelligenzija (ich meine ihre einflussreiche Elite) das erhalten hatte, wofür sie in sowjetischer Zeit gekämpft hatte – das modernistische Erbe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts –, wollte sie nicht voranschreiten in ihrer Entwicklung. Sie setzte die Diskussionen darüber fort, ob denn nun Malewitschs »Schwarzes Quadrat« Kunst sei, und über andere Fragen dieser Art. Es gab zwar einige oberflächliche Verschiebungen, aber unter der Oberfläche herrschte der gleiche Passivismus vor, die provinziellen Ambitionen, die an das eigene Kaff gebundene Weltanschauung. Es entwickelte sich praktisch keine für die postmoderne Epoche charakteristische Intellektuellenschicht, d. h. Menschen, die ihre Aufgabe in einer uninteressierten Kritik der Macht sehen, in der anti-identifikatorischen Abweichung von jeglichem Machtdiskurs. Bis auf wenige Ausnahmen stieß diese Aufgabe in der gebildeten Schicht Russlands auf kein Verständnis. Neben der Bykow’schen Wahrheit über die Verhältnisse von Politik und Kultur gibt es jedoch noch andere. Eine besteht darin, dass ›grenzenlose Permissivität‹ in der Kunst etwas ganz anderes ist als im politischen oder im sozialen Leben. In der Kunst ist sie ein Zeichen für die Stabilität einer Gesellschaft und die Robustheit eines Systems. Dafür hat sich im Westen schon lange ein Verständnis entwickelt, seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Eben deshalb unterstützt dort das System (vertreten durch den Staat oder private Strukturen, Stiftungen) die aktuelle Kunst. Man ahnt, dass sich in der Kunst bis heute, selbst wenn sie von ganz arglosen, intelligenten Menschen betrieben wird, zahllose explosive Komplexe und Ambitionen konzentrieren und dass deswegen dort eine gewaltige zerstörerische Energie verdichtet ist, die unter Kontrolle gebracht werden muss. Bis zum Krieg war dieses System der Eindämmung noch nicht vollends entwickelt, die Künstler waren nicht vorhersehbar, die Kraft ihrer Worte war noch weitaus stärker. Und manchmal ging das dann auch richtig schief mit der Eindämmung: Man denke an Céline und Ezra Pound – also forderte man repressive Maßnahmen. Nach dem Krieg operierte das System hingegen nur noch mit Anreizen, und deshalb fungierte die zeitgenössische Kunst im Westen, selbst in ihren aggressivsten Manifestationen, lediglich als ein Ventil, das negative Energie abließ. Sie wurde sogar zu einem Objekt der Kontrolle und, einer weitverbreiteten Meinung nach, zur ideologischen Waffe im Kalten Krieg. Nach dem spontanen Aufblitzen einer Energie der Kunst in den 1960er Jahren wurde den Dichtern endgültig die Rolle der »Privatperson« zugewiesen. Wenn nun in der Folge zeitgenössische Dichter ihr Anrecht auf soziale Stellungnahme geltend machten, wurden sie Gottesnarren oder Besessenen ähnlich, die sich ganz einem ohnmächtigen Pathos hingaben, beduselt von ihrem Idealismus. Russische Dichter gleichen auch Besessenen, insbesondere die, die, so wie ich, den Hang dazu haben, viel auf sich zu nehmen. Allerdings haben wir hier die Situation, dass solche Dichter mehr zu hoffen haben als die, die sich lediglich mit ihrer Privatsache beschäftigen wollen. In Russland hat die Privatperson keine überzeugende Verkörperung erfahren, obwohl viele auf die eine oder andere Art diesen Anspruch geltend gemacht haben. Nehmen wir Brodski – das ist jemand, der seit seiner Jugend einen gewaltigen Einfluss auf seine Umwelt ausübte und der von einem vielköpfigen und auf seine Weise einflussreichen gebildeten Milieu dazu berufen wurde, dessen Werte auf dichterische Weise zu äußern. Er kam mit dieser Aufgabe ausgezeichnet zurecht und erhielt beachtliche moralische und zudem, wie es das Schicksal so wollte, materielle Dividenden. Der Gerichtsprozess gegen ihn wurde zu einem jener Momente, der das Land, unter moralischen und ästhetischen Gesichtspunkten...


Kirill Medvedev, 1975 in Moskau geboren, ist Schriftsteller, Übersetzer, Gitarrist und Sänger der Band Arkady Kots. Seine Texte wurden vielfach übersetzt und erregten international Aufmerksamkeit. Er lebt als politischer Aktivist und einer der Verleger der Freien Marxistischen Presse in Moskau.


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