E-Book, Deutsch, 151 Seiten
ISBN: 978-3-534-70439-2
Verlag: wbg Academic in Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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Einleitung
Trennung von Natur und Geschichte Die Klimageschichte ist für Fachhistoriker eine Herausforderung, vielleicht sogar immer noch eine Provokation. Um Wissenschaft zu werden, hat sich die Geschichte im Laufe des 18. Jahrhunderts von der Naturgeschichte getrennt. Zwar haben Urväter der modernen Geschichtswissenschaft wie Jules Michelet (1798–1874) und Universalhistoriker wie Arnold J. Toynbee (1889–1975) natürlichen, gesellschaftsexternen Faktoren wie dem Klima in ihren Darstellungen der Menschheitsentwicklung immer wieder eine gewisse Beachtung geschenkt. Die Neuprofilierung der Geschichte als historischer Sozialwissenschaft im 20. Jahrhundert ging jedoch mit einer nahezu vollständigen Eliminierung solcher Faktoren einher. Gegenläufige Trends, vor allem in der Umweltgeschichte, stoßen auf Widerstand, der es den Subdisziplinen der Geschichtswissenschaft an der Grenze zwischen Sozial- und Naturwissenschaften schwer macht, sich zu etablieren. Die Skepsis ist selbst historisch durch die Ausdifferenzierung der modernen Wissenschaft zu erklären, die sich auf die Unterscheidung zwischen zwei grundlegend verschiedenen Ursachenmodellen für sozialen Wandel einerseits und natürliche Prozesse andererseits festgelegt hat. Aktualität der Frage nach Klima und Geschichte Die Pioniere der Historischen Klimatologie, Hubert Horace Lamb (1913–1997), Emmanuel Le Roy Ladurie (*1929) und Christian Pfister (*1944), waren in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorrangig mit der Rekonstruktion des Klimas der letzten tausend Jahre befasst. Ihre Ergebnisse mussten sie vor allem auf dem Feld der Paläoklimatologie behaupten, das von naturwissenschaftlichen Methoden dominiert wird. Seitdem zuverlässige Rekonstruktionen vorliegen, die ältere Mutmaßungen über ein wärmeres Klima im Mittelalter und ein vergleichsweise kühleres in der frühen Neuzeit bestätigen und präzisieren konnten, d.h. etwa seit Beginn der 1990er Jahre, kehrt die Frage nach dem Verhältnis von Klima und Geschichte zurück auf die Tagesordnung. Sie ist durch die globale Klimaerwärmung zu einer drängenden Gegenwartsfrage geworden. Historiker sollten ihre Beantwortung nicht länger anderen Disziplinen überlassen, weil sie qua ihrer Profession Adressaten der Frage sind. Historiker generieren Wissen über die politische, soziale und wirtschaftliche Geschichte und machen dieses Wissen für andere verfügbar. Bei ihnen liegt es daher, die historische Bedeutung von Klimawandel mit der notwendigen Komplexität zu untersuchen. Dies aber erfordert letztlich eine neue Methodendebatte innerhalb der Geschichtswissenschaft, die auf eine Theorie der Wechselbeziehung zwischen Gesellschaft und natürlicher Umwelt (darunter des Klimas) hinauslaufen muss. In jedem Falle bedarf es operationalisierbarer Verfahren, die zu empirisch fundierten Aussagen führen. die Kleine Eiszeit Dieses Buch möchte dafür Denkanstöße geben und versteht sich keineswegs nur als Überblick über die Klimageschichte zwischen 1500 und 1900. Für die Wahl des Zeitraums sprechen verschiedene Gründe: Es handelt sich um die Hochphase der Kleinen Eiszeit, die durch historische Zeugnisse sehr gut dokumentiert ist. Für sie liegen heute ausgezeichnete Klimarekonstruktionen vor. Und Historiker der frühen Neuzeit haben bereitwilliger als Vertreter anderer historischer Epochen Ergebnisse der Klimageschichte in ihre Überlegungen einbezogen. Die Frühneuzeitforschung hat innerhalb der Geschichtswissenschaft noch die meisten Erfahrungen im Umgang mit der Klimageschichte gesammelt. Die Historische Klimatologie ihrerseits erkannte zu Recht in der frühen Neuzeit die Epoche der vorinstrumentellen Periode, die aufgrund der Dichte der schriftlichen Überlieferung die besten Aussichten für eine erfolgreiche Rekonstruktion der Klimageschichte versprach. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass die Methoden der Historischen Klimatologie aus der Arbeit mit frühneuzeitlichen Quellen entwickelt wurden. Zeitlicher Rahmen der Abhandlung Wie gerade bemerkt, fällt die Zeit zwischen 1500 und 1900 in die sogenannte Kleine Eiszeit. Diese Epoche der Klimageschichte wird heute mit den Rahmendaten 1300 bis 1900 verbunden. Die Datierung überschreitet an beiden Enden gewöhnliche Epocheneinteilungen der Geschichtswissenschaft, einerseits die Grenze zwischen Spätmittelalter und früher Neuzeit, andererseits die zwischen früher Neuzeit und neuerer Geschichte. Wenn für dieses Buch der Zeitraum 1500 bis 1900 gewählt wurde, so hat dies mit pragmatischen Entscheidungen zu tun. Die Klimageschichte des Mittelalters ist weniger gut erforscht als ihr Verlauf seit dem 16. Jahrhundert. Der Beginn lässt sich weiter dadurch rechtfertigen, dass die Kleine Eiszeit keine Periode konstant sinkender oder (im Vergleich zum 20. Jahrhundert) niedrigerer Temperaturen war. Vielmehr schwankte das Klima zwischen wärmeren und kälteren Perioden. Kurz nach 1550 setzte eine besonders prägnante Kaltphase ein, nachdem vor allem im späten 15. und in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts mildere Verhältnisse vorgeherrscht hatten. Die anschließend einsetzende Verschlechterung entging der Wahrnehmung der Zeitgenossen nicht. Sie hat viele Spuren in schriftlichen Zeugnissen hinterlassen und die demographisch wie räumlich (Kolonialismus) expandierenden Agrargesellschaften Europas, die gleichzeitig in religiöse und zahlreiche militärische Auseinandersetzungen verwickelt waren, vor besondere Herausforderungen gestellt. Epochenschwelle: Industrialisierung als Klimaantrieb Die Jahreszahl 1900 stimmt mit dem Ende der Kleinen Eiszeit und dem Beginn des „warmen 20. Jahrhunderts“ überein. Gesellschaftsgeschichtlich macht eine Epochengrenze „1900“ freilich wenig Sinn, weil die Industrialisierung in Europa zu so grundlegenden ökonomischen und sozialen Veränderungen führte, dass seitdem das Verhältnis von Gesellschaft und Klima eine neue Qualität angenommen hat. Das hat unter anderem mit der rapide sinkenden Bedeutung des Agrarsektors in den europäischen Wirtschaftssystemen und dessen gleichzeitiger Revolutionierung zu tun. Aber noch in anderer Hinsicht bedeutet die Industrialisierung einen epochalen Einschnitt im Verhältnis von Menschen- und Klimageschichte: Angetrieben von Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum hat der exorbitant gestiegene Energiebedarf und dessen Deckung durch Verbrennung fossiler Brennstoffe (Kohle, Erdöl, Erdgas) die industrialisierte Gesellschaft zum Antriebsfaktor im Klimasystem gemacht. Die anthropogene Emission von Treibhausgasen, insbesondere CO2, hat heute solche Ausmaße angenommen, dass bei Fortsetzung des industriellen Energieparadigmas zum Ende des 21. Jahrhunderts mit einem Anstieg der Temperaturen um 3,4 C oder mehr im Vergleich zu den Durchschnittswerten für 1980–1999 zu rechnen ist. Die Erwärmung im 20. Jahrhundert ist mit großer Gewissheit bereits Folge der Industrialisierung. Pointiert könnte man sagen, der Mensch habe die Kleine Eiszeit beendet und, freilich ohne dies zu beabsichtigen, ein neues Klimaregime „installiert“. „Anthropozän“ Um dieser Tatsache Rechnung zu tragen, hat Paul J. Crutzen vor einigen Jahren den Begriff Anthropozän vorgeschlagen und den Beginn dieser neuen Epoche der Klima- wie überhaupt der Erdgeschichte im 19. Jahrhundert angesetzt (Crutzen u.a. 2000). Ich halte diesen Vorschlag auch umwelthistorisch für tragfähig und bin der Meinung, dass eine Darstellung, die nicht nur die klimatischen Veränderungen der Kleinen Eiszeit, sondern auch ihre Auswirkungen auf die Gesellschaften Europas im Blick hat, dieser Zäsur Rechnung tragen sollte. Damit ist dieses Buch zugleich von einer umfassenden und komplexen Darstellung des industriellen Paradigmas und seiner Folgen entlastet. Sie bleibt der bisher ungeschriebenen Klimageschichte des 19. und 20. Jahrhunderts vorbehalten. Das Enddatum 1900 betrifft also in erster Linie die Rekonstruktion des Klimas der Kleinen Eiszeit. Einige Aspekte der Klimafolgen im kalten 19. Jahrhundert werden in den späteren Kapiteln des Buches dann noch berührt, jedoch nicht unter dem Gesichtspunkt des epochalen Einschnitts der Industrialisierung. Es handelt sich entweder um Beispiele oder Fallstudien („Jahr ohne Sommer“ 1816) aus einer Übergangsphase oder um Vergleiche. Das 19. Jahrhundert wird hier aber nicht in seinem Eigencharakter zur parallelen Klimageschichte ins Verhältnis gesetzt. Aufbau der Darstellung – Kapitel II Der Aufbau dieses Buches geht von der Definition...