E-Book, Deutsch, 96 Seiten
Mit Poster und Arbeitshilfen zum Downloaden
E-Book, Deutsch, 96 Seiten
ISBN: 978-3-451-83511-7
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Es liefert außerdem Praxisideen zu Ritualen, Streitschlichtung und Umgang mit Herausforderndem Verhalten für den Alltag in Schule und Ganztag sowie konkrete, Fallbeispiele die für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen helfen können.
Weitere Infos & Material
Menschen, die in einer unterstützenden Rolle mit anderen arbeiten, insbesondere mit Kindern, sollten ein Verständnis dafür haben, was sie brauchen, um sich wohlzufühlen und sich gesund zu entwickeln. Zunächst kommen einem die körperlichen oder auch biologischen Grundbedürfnisse wie Nahrung, Schlaf, Luft, Wärme etc. in den Sinn. Doch es bedarf mehr, damit ein Mensch gesund ist. Nicht nur die körperliche Gesundheit ist konstitutiv, sondern auch die psychische Gesundheit ist für das gesamte Leben von großer Bedeutung. Unter anderem ist psychische Stabilität sehr wichtig, um erfolgreiche Lernprozesse zu ermöglichen (Krapp 2005). Aber was ist seelische Gesundheit und wie ist diese konkret im Alltag mit Kindern zu fördern? Ein wichtiges, wissenschaftlich abgesichertes Konzept zum Verstehen und Erklären von menschlichem Verhalten ist das Modell der seelischen Grundbedürfnisse von Grawe (2004). In seinen Ausführungen betont er, dass Bedürfnisse eine wichtige, treibende Kraft im menschlichen Verhalten sind. Sie sind Grundvoraussetzung für das psychische Wohlbefinden und müssen angemessen erfüllt werden, um seelische Störungen zu vermeiden. Grawes Befunde bezogen sich auf die Arbeit mit Erwachsenen in der Psychotherapie. Borg-Laufs und Spancken (2010) haben die Gültigkeit und Anwendbarkeit seiner Theorie der psychischen Grundbedürfnisse bei Kindern und Jugendlichen mit ihren Forschungen bestätigt. Grawe identifizierte in seiner Arbeit vier Grundbedürfnisse, die erfüllt sein müssen, um psychisch gesund zu sein: • Bindung & Zugehörigkeit • Kontrolle & Orientierung • Selbstwerterhöhung & Selbstwertschutz • Lustgewinn & Unlustvermeidung Im Folgenden werden die vier psychischen Grundbedürfnisse knapp dargestellt. Es ist spannend zu sehen, was genau dahintersteckt und welche Chancen sich daraus für die Menschen herausbilden; diese Chancen sind auch für die pädagogische Arbeit in der Ganztagsschule von großem Nutzen. Die Reihenfolge der Ausführungen stellt keine hierarchische Abfolge dar. Das Bedürfnis nach Bindung und Zugehörigkeit
Besonders in der frühen Kindheit ist dieses Bedürfnis konstitutiv. Es wird durch emotionale Feinfühligkeit und die Verfügbarkeit von Bezugspersonen geprägt. Bindungen zu anderen Personen sind das ganze Leben relevant, jedoch nimmt die Prägnanz und der Wirkungsgrad im Laufe des Alters ab. Es werden vier verschiedene Bindungsstile unterschieden. Das Wissen darüber ist sehr hilfreich im Umgang mit Kindern, besonders dann, wenn sie ein herausforderndes Verhalten zeigen (Grawe 2004). 1. Sicherer Bindungsstil: Kinder mit diesem Bindungsstil haben immer wieder die Erfahrung gemacht, dass ihre Bezugspersonen sie unterstützen und zur Verfügung stehen. Wenn sie in Not geraten oder Angst verspüren, suchen sie ihre engsten Bezugspersonen auf und fühlen sich von ihnen aufgefangen. Nach dem situativen Auffangen können die Kinder sich ihrer vorherigen Tätigkeit wieder zuwenden. Das Bindungsmuster wird von Kindern außerhalb des familiären Kontextes auf Ersatzbezugspersonen, wie beispielsweise auch pädagogische Fachkräfte, übertragen. Sie holen sich dort in für sie schweren Situationen Hilfe und Rat, können nach Klärung wieder zurück zu ihren Freunden oder die vorherige Tätigkeit wieder aufnehmen. 2. Unsicher-vermeidender Bindungsstil: Diese Kinder haben die Erfahrung gemacht, in Notsituationen nicht von ihren Bezugspersonen aufgefangen zu werden. Um weitere Ablehnungen zu vermeiden, ziehen sie sich zurück, zeigen sich distanziert und fordern keine Unterstützung mehr ein. Um Enttäuschung und Verletzungen zu vermeiden und um sich gegen mögliche Bindungsabbrüche zu schützen, meiden sie Freundschaftsaufbau und zeigen stattdessen ein gesteigertes Interesse an der Erkundung von Spielsachen oder anderen Objekten. 3. Unsicher-ambivalenter Bindungsstil: Die Kinder haben erfahren, dass sie sich nicht auf ihre Bezugspersonen verlassen können und zeigen ihnen gegenüber ein klammerndes und eventuell weinendes Verhalten. Ihre Nöte zeigen sie eindringlich, damit sie nicht verlassen werden. Kinder mit einem unsicher-ambivalenten Bindungsstil haben im frühen Kindesalter Kontakt zu Bezugspersonen, die sich mal liebevoll und zugewandt zeigen, dann aber auch unvorhersehbar Beziehungen abbrechen oder emotional außer Kontrolle geraten, indem sie toben oder heftig reagieren. Für diese Kinder ist der Kontakt unsicher, da sie nie wissen, was im nächsten Augenblick geschehen wird. Kinder mit diesem Bindungsstil können in einem Moment sehr zugewandt sein und im anderen abstoßend durch Beleidigungen, Handgreiflichkeiten o. Ä. 4. Desorientierter Bindungsstil: Kinder mit diesem Bindungsstil scheinen keine Bindung aufgebaut zu haben. Sie haben traumatische Erfahrungen gemacht wie beispielsweise Misshandlung, Vernachlässigung und/oder häufigen Bezugspersonenwechsel. Hier spricht man von einer Bindungsstörung. Diese Kinder sind nicht in der Lage, das Verhalten anderer empathisch zu interpretieren. Sie verlieren sich möglicherweise in Gewaltfantasien, verstehen die Gesichtsausdrücke ihrer Mitmenschen nicht oder interpretieren sie immer auf ähnliche Weise. Ihre Reaktionen und Handlungen sind eher impulsiv. Kinder mit einem unsicheren Bindungsmuster haben weniger Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeitserwartungen, was mit einem geringeren Selbstwert einhergeht. Dadurch resultiert auch ein schlechterer Kontakt zu Gleichaltrigen und ein ungünstiger Umgang mit herausfordernden Situationen (Ainsworth et al. 2015, Grawe 2004). Das Bedürfnis nach Kontrolle und Orientierung
Grawe betont, dass Menschen ein fundamentales Bedürfnis nach Kontrolle über ihr Leben und ihre Umgebung haben. Das Streben nach Kontrolle ist ein zentrales Element für das emotionale Wohlbefinden. Wenn Menschen das Gefühl haben, dass sie ihre Umgebung beeinflussen können, fühlen sie sich kompetent und selbstwirksam. Es geht hierbei nicht nur um das Kontrollieren einer bevorstehenden Situation, sondern auch um das Bestreben, sich in einem großen Handlungsspielraum im Leben zu bewegen. Das Bedürfnis nach Orientierung bezieht sich darauf, dass Menschen einen Sinn und eine Struktur in ihrem Leben suchen. Dieses Bedürfnis zeigt sich in der Suche nach Klarheit, Verständnis und einem Sinn für Zusammenhang in den Ereignissen ihres Lebens. Orientierung bietet ein Rahmen, der es Menschen ermöglicht, ihre Erfahrungen zu verstehen und mit ihnen umzugehen. Grawe betont, dass die Befriedigung dieser Grundbedürfnisse entscheidend ist für die psychische Gesundheit und das emotionale Wohlbefinden. Das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz
Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz meint, dass Menschen sich wertvoll fühlen und von ihren Mitmenschen geschätzt werden möchten. Diese Bedürfnisse bestimmen unser Lebensgefühl. Der Selbstwert bildet sich mit zunehmendem Alter aus. Ein Säugling ist sich seiner selbst noch nicht bewusst. Aber ein Kleinkind im Alter von zwei Jahren vergleicht sich mit anderen und entwickelt u. a. dadurch ein Bewusstsein über sich selbst. Auch die Bindung zu den Eltern und engen Bezugspersonen trägt zur Entwicklung des Selbstwertgefühls bei. Je nach Prägung der Eltern, dem Umgang mit dem Kind etc. bildet sich ein günstiges oder ein eher ungünstigeres Selbstbild aus. Psychisch gesunde Menschen tendieren laut Grawe zu einer Selbstwerterhöhung. Dies ist ein gutes Signal. Diese Menschen nehmen sich besser wahr als es der Realität entspricht und erinnern sich an Erfolge besser als an negative Ereignisse. Unterstützung bedürfen die Menschen, die ihren eigenen Selbstwert abwerten. Sie haben weniger Erfolge, weil sie ein Vermeidungsverhalten zeigen. Borg-Laufs hat in einer Untersuchung mit Schulkindern gezeigt, dass Kinder von ihren Bezugspersonen Unterstützung bei der Befriedigung dieser Bedürfnisse benötigen. Durch Lob und Unterstützung kann der Selbstwert positiv beeinflusst werden. Selbstwertverletztende Verhaltensweisen wie Kritik und Abwehr führen zu Selbstwertverminderung. Mit zunehmendem Alter können Kinder selbst mehr und mehr selbstwerterhöhende Situationen zur Befriedigung dieses Bedürfnisses wählen (Jarzombek 2020). Das Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung
Dieses Bedürfnis ist das offensichtlichste Bedürfnis, da jeder darauf abzielt, angenehme Zustände zu erreichen. Alles, was wir Menschen erleben, wird von uns als gut oder schlecht bewertet. Hinzugezogen werden in diese Bewertungen nicht nur Reize der Sinnesorgane, sondern auch das soziokulturelle Umfeld, die bestehenden Erwartungen, Lerneffekte und Abwägungen. Wir streben nach lustvollen Ereignissen, um Unlust zu vermeiden. Denn Lustgewinn aktiviert unser Annäherungssystem. Dieses System gehört u. a. zu dem motivationalen System. Unser Vermeidungssystem springt hingegen an, wenn wir negative Situationen erleben: Diese unangenehme Situation möchte man nicht mehr...