Leutnant Julija Mykytenkos Kampf für die Ukraine
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-608-12450-7
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Lara Marlowe, geb. in Kalifornien, studierte Französisch an der UCLA und der Sorbonne sowie Internationale Beziehungen in Oxford. Sie begann ihre Karriere im Journalismus als Associate Producer bei der CBS-Sendung '60 Minutes' und berichtete aus Beirut für die Financial Times und das TIME Magazin über die arabische Welt. 1996 wechselte sie als Paris-Korrespondentin zur Irish Times und kehrte 2013 nach Paris zurück. Für ihren Beitrag zu den französisch-irischen Beziehungen wurde Marlowe 2006 zum Ritter der Ehrenlegion ernannt.
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I Die Russen im Anmarsch
Sein Schicksal wählt man nicht … Man nimmt es an, wie es auch sei. Und nimmt man es nicht an, dann wählt es einen gewaltsam. Wassyl Stus, aus »Lagernotizen«, 1981/82 Sakytne, ein kleines Dorf im Donbass am Donez,
15. Januar 2024
Am Abend zuvor hatte ich meiner vordersten Gruppe den Befehl erteilt, ihren Unterstand aufzugeben. Sie lagen seit 24 Stunden unter Feuer und konnten nicht einmal eine Drohne starten, um herauszufinden, von wo wir beschossen wurden. Es hatte keinen Sinn, sie dort weiter ausharren zu lassen. Beladen mit Drohnen und Laptops, Funkgeräten, Munition und Sturmgewehren stapften sie wie Lasttiere fünf Kilometer durch die Dunkelheit ins Basislager. Bei der Ankunft verloren sie nicht viele Worte, das tun Soldaten selten. Ich sagte ihnen, sie sollten sich schlafen legen. Wir wollten noch in derselben Nacht losziehen und einen neuen Unterstand ausheben, der, einen Kilometer vom vorigen entfernt, ihnen bessere Deckung bieten konnte. Später, wenn ich mich überzeugt hätte, dass wir die neue Position halten konnten, sollte er dann auch mit Holz ausgekleidet und mit Vorräten bestückt werden, um ihn für die Drohnenpiloten halbwegs komfortabel zu machen. In der Zwischenzeit ist unser Frontabschnitt praktisch blind. Die Russen, diese hinterhältigen Mistkerle, werden weiter vorrücken. Genau wie wir setzen sie nur ausnahmsweise Panzer und gepanzerte Fahrzeuge ein, die leichte Beute für Drohnen sind. Der technische Ausdruck für eine Drohne lautet UAV, Unmanned Aerial Vehicle, aber wir bezeichnen sie einfach als »Vögel«. Ich befehlige einen Drohnenaufklärungszug mit 25 Soldaten. Meine Drohnen sind meine Babys. Wir hatten schon mal 50 oder ein paar mehr. Ab und zu wird eine Drohne abgeschossen oder auf ein Selbstmordkommando geschickt. Niemand kann sich die langen Seriennummern merken, daher geben wir unseren Drohnen Namen. Wenn ich den Jungs erzähle, dass Bonnie abgestürzt ist oder Clyde, dann wissen sie, welche Drohne ich meine. Die kleinen heißen Joy oder Dream oder Bars, was auf Ukrainisch Schneeleopard bedeutet. Eine habe ich Jane getauft, nach meiner Lieblingsautorin Jane Austen. Die Russen mussten ihre Strategie ändern. Wir auch. Ihre Drohnen und Minenfelder waren ein wesentlicher Grund für das Scheitern unserer Gegenoffensive im Jahr 2023. Mit einer Drohne gewinnt man Überblick. Wir haben in einer Hausruine eine Werkstatt eingerichtet, in der unsere Jungs Sprengladungen an FPVs anbringen. FPV heißt First Person View, was bedeutet, dass die Drohne mit einer Kamera ausgestattet ist und mittels einer Videobrille praktisch aus der Sicht eines Piloten ferngesteuert wird. Mit solch einer 500-Dollar-Drohne kann man einen Panzer zerstören, der Millionen gekostet hat. Das ist eine Revolution der Kriegsführung, die erst wieder vom Schlachtfeld verschwinden wird, wenn es den Russen oder uns gelingt, die Dinger mit elektronischen Gegenmaßnahmen lahmzulegen oder zuverlässig per Laser abzuschießen. In der elektronischen Kriegsführung haben die Russen derzeit die Oberhand, was mir große Sorge bereitet. Unsere Kommandeure sagen, wir könnten vorrücken, sobald wir Luftunterstützung durch die F-16-Kampfjets bekommen, die uns die NATO versprochen hat. Mag sein. Bis dahin ist Lowtech Trumpf. Die Front sei festgefahren, heißt es überall, aber das stimmt nicht. Die Russen kommen: Langsam, aber sicher und unerbittlich rücken sie an unseren Frontabschnitt bei Lyman vor, und das seit Monaten. Nachts schicken sie kleine Trupps los, die hauptsächlich aus Sträflingen, Männern mit geringer Qualifizierung oder ukrainischen Separatisten bestehen, mithin aus Leuten, die sie für entbehrlich halten. Manchmal sind es nur zwei oder drei Soldaten, im Höchstfall 20. Wir sehen sie im Gänsemarsch durch das Niemandsland zwischen den Linien schleichen, den Blick wie Zombies stur geradeaus gerichtet, selbst wenn wir auf sie feuern. Nach 100 Metern bleiben sie stehen, heben ein Schützenloch aus und verharren dort. Nach und nach sickern weitere ein, die die Stellung verstärken, bis sie in der Lage sind, einen Angriff zu starten. Sobald sie das tun, eröffnen wir das Feuer auf sie. Dadurch können die Drohnen der Russen unsere getarnten Stellungen ausmachen, und sie antworten ihrerseits mit Artillerie. Wir feuern zurück, aber wir müssen sparsam mit unseren Granaten umgehen. Auf jedes unserer Geschosse entgegnen die Russen mindestens fünf. Die Einheiten östlich und westlich von uns haben bereits Verluste erlitten. Auch uns drohen Verluste. Gestern wurde unser Basislager, das eigentlich nur ein zerstörtes Dorf in der Oblast Donezk an der Grenze zur Oblast Luhansk ist, mit einem Mehrfachraketenwerfer des Typs BM-27 Uragan beschossen. Eine Rakete schlug in der Unterkunft auf der anderen Straßenseite ein, zum Glück gab es keine Verwundeten. Heute Morgen um fünf explodierte eine Lancet-Kamikazedrohne vor unserem halb zerstörten Gebäude. Die Russen hatten es auf unsere Panzer abgesehen, aber die Drohne flog zu kurz, und der Schaden beschränkte sich auf kaputte Scheiben in unseren Allradfahrzeugen und Armeelastwagen. In unserem Frontabschnitt wird bald der Durchbruch erfolgen, so meine Erwartung. Wieder einmal werden wir dann alles zusammenpacken und uns zurückziehen müssen, so wie schon letztes Jahr, als die Wagner-Söldner von Soledar in Richtung unseres damaligen Basislagers in Swaniwka vorrückten. Bleiben wir, schießt ihre Artillerie uns in Stücke. Ich bin Oberleutnant Julija Mykytenko, Ukrainerin, 28 Jahre alt. So sieht zurzeit und in absehbarer Zukunft mein Leben aus. Ich versuche, nicht getötet zu werden und meine Männer zu beschützen, während die russischen Streitkräfte sich Stück für Stück den Donbass einverleiben. Lassen Sie mich erzählen, wie es dazu gekommen ist. Wyshnewe, eine Schlafstadt südwestlich von Kyjiw.
4:30 Uhr, 24. Februar 2022
Die erste Explosion reißt mich aus dem Halbschlaf. Einen Moment lang glaube ich, wieder im Osten der Ukraine zu sein. Den Lärm versuche ich, als gewöhnlichen Artilleriebeschuss abzutun. Zwei Jahre an der Front im Donbass haben mich gelehrt, ihn wie schlechtes Wetter hinzunehmen. Den Impuls, aus dem Bett zu springen, ignoriere ich, drehe mich um und ziehe mir das Kissen über den Kopf. Mein Geist und mein Körper sind in Watte gehüllt. Eine Explosion folgt der nächsten. Die Wohnung meiner Mutter Tamara, mein Zuhause seit meinem neunten Lebensjahr und immer noch mein ständiger Wohnsitz, liegt in der Nähe von Hostomel und Schuljany, den zwei Flughäfen außerhalb von Kyjiw, die die Russen bombardieren. Ich schlüpfe in den Bademantel und tappe ins Wohnzimmer. Tamara ist auch schon wach. Wir umarmen uns müde. »Es geht los«, sage ich. »Ja, sieht ganz so aus«, antwortet sie. »Ich mach uns einen Kaffee.« Meine Familie hat schon viel zu viel mitgemacht, als dass wir jetzt in Panik verfallen würden. Tamara ist Psychotherapeutin; auch in schwierigen Situationen hat sie gelernt, Ruhe zu bewahren. Wir machen die Heizung an, lassen uns in Bademänteln auf dem Sofa nieder und kleben am Fernseher. Krieg ist etwas, was man eher mit den Ohren als mit den Augen wahrnimmt. Unsere Wohnung liegt im Erdgeschoss. Flugzeuge, die die Flughäfen bombardieren, können wir nicht sehen, aber hören. Die Morgendämmerung hat noch nicht begonnen. Es herrscht Dunkelheit, die sich bei jeder Explosion in fahles Grau verwandelt. Die Russen greifen Hostomel mit Marschflugkörpern an, denen umgehend die Kampfhubschrauber folgen. Hostomel verfügt über eine sehr lange Start- und Landebahn, die auch für die größten Transportflugzeuge geeignet ist. Die Russen beabsichtigen, auf dem Flughafen eine Luftbrücke für ihren Angriff auf Kyjiw einzurichten. Die Ukrainer machen die Landebahn unbrauchbar und töten am ersten Tag etwa 300 russische Fallschirmjäger. Am folgenden Tag werden die Russen Hostomel und die umliegenden Dörfer einnehmen, womit sie dann nur noch wenige Kilometer von unserem Haus entfernt stehen. »Sollen wir rauf aufs Dach gehen, Mama? Vielleicht können wir die Bombardierung sehen.« »Bist du verrückt! Wir müssen Switlana und deinen Bruder anrufen und beratschlagen, was wir nun tun.« Meine Tante Switlana ist 67 Jahre alt, zehn Jahre älter als Tamara, und lebt in der Nähe eines Militärstützpunkts bei Tschernihiw, 140 Kilometer nördlich von uns. Die Russen rücken von dort über die nach Belarus führende Fernstraße nach Kyjiw vor. »Hier ist es unerträglich laut«, klagt Switlana am Telefon. Wir hören die Explosionen im Hintergrund. »Ab in den Keller, Titka Switlana«, sage ich zu ihr unter Verwendung des ukrainischen Kosenamens Titka für »Tante«. In meinen fünf Jahren in der ukrainischen Armee habe ich mir einen Kommandoton angewöhnt, besonders unter Beschuss. Switlana ist störrisch. »Nein, auf keinen Fall. Ich bin schon alt, ich habe keine Angst vor dem Tod.« »Bitte, Titka. Wenn du schon nicht in den Keller gehst, dann wenigstens ins Badezimmer, damit du zwei Mauern zwischen dir und den Explosionen hast.« Anschließend rufen wir Bohdan an, meinen jüngeren Bruder. Er lebt in Lasariwka, etwa 80 Kilometer westlich von uns in der Oblast Schytomyr, in der Backstein-Datscha, die Ljuba, unserer verstorbenen Großmutter väterlicherseits, gehörte. »Im Moment ist es hier noch ruhig«, sagt Bohdan. »Wenn die Russen kommen, plündern sie garantiert den Laden, aber da lässt sich nichts machen. Jetzt haben wir jedenfalls noch genug zu essen....