Maraini | Die stumme Herzogin | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 149, 364 Seiten

Reihe: Transfer Bibliothek

Maraini Die stumme Herzogin

E-Book, Deutsch, Band 149, 364 Seiten

Reihe: Transfer Bibliothek

ISBN: 978-3-99037-103-9
Verlag: Folio
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Blühende Orangenbäume, der Duft von Jasmin - die Geschichte einer Emanzipation und das farbenprächtige Gemälde Siziliens im 18. Jh. Dacia Maraini beschwört in ihrem preisgekrönten Klassiker und großen Familienroman eine untergegangene Welt herauf. Die taubstumme Herzogin Marianna Ucrìa wird mit 13 Jahren an ihren über 30 Jahre älteren Onkel verheiratet. Ihr Vater bringt ihr Lesen und Schreiben bei, so kann sie mit ihrer Umgebung kommunizieren. Die Literatur wird für sie Rückzugsmöglichkeit aus der emotionalen Leere ihrer Ehe und Mittel zur intellektuellen Emanzipation. Dank der Bücher und ihrer geschärften Sensibilität nimmt sie die Umwelt aufmerksamer wahr und kann die Freuden und Ängste ihrer Mitmenschen fast körperlich spüren. Erst als Witwe erfährt sie den schockierenden Grund ihrer Taubstummheit und erlebt die wahre Liebe über Standesgrenzen hinweg.

Dacia Maraini, geboren 1936 in Fiesole. Aufgewachsen in Japan und Sizilien. Grande Dame der italienischen Literatur; enge Freundschaft mit Alberto Moravia und Pier Paolo Pasolini. Ausgezeichnet mit zahlreichen Preisen, u. a. dem Premio Strega und dem Premio Campiello. Ihre Bücher sind in 25 Sprachen übersetzt. Zuletzt auf Deutsch erschienen bei Folio: Das Mädchen und der Träumer (2017), Drei Frauen (2019).
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1
Ein Vater und eine Tochter, da sind sie: er blond, schön, strahlend, sie plump, sommersprossig, ängstlich. Er in nachlässiger Eleganz, mit heruntergerutschten Strümpfen, schief aufgesetzter Perücke, sie in ein dunkelrotes Korsett gezwängt, das ihre wächserne Hautfarbe hervorhebt. Die Augen des kleinen Mädchens folgen im Spiegel den Bewegungen des Vaters, der gebeugt steht und sich die weißen Strümpfe über die Waden zieht. Sein Mund bewegt sich, aber der Klang seiner Stimme dringt nicht bis zu ihr vor, er verliert sich, bevor er das Ohr des Kindes erreicht, fast als sei die geringe Entfernung, die sie voneinander trennt, nichts als eine Täuschung des Auges. Sie scheinen einander nah, doch sie sind tausend Meilen voneinander entfernt. Das Mädchen beobachtet die Lippen des Vaters, die sich nun rascher bewegen. Sie weiß, was er zu ihr sagt, auch wenn sie ihn nicht hört: dass sie sich schnell von der Frau Mutter verabschieden solle, dass sie sich beeilen solle, mit ihm in den Hof hinunterzugehen und in die Kutsche zu steigen, denn sie seien spät dran, wie üblich. Unterdessen ist Raffaele Cuffa, der immer, wenn er ins „Häuschen“ kommt, vorsichtig und leicht schreitet wie ein Fuchs, vor Herzog Signoretto getreten und stellt einen großen geflochtenen Weidenkorb vor ihn hin, aus dem ein weißes Kreuz herausragt. Der Herzog öffnet den Korbdeckel mit einer leichten Drehung des Handgelenks, in der die Tochter eine seiner typischen Bewegungen wiedererkennt: Es ist die verärgerte Geste, mit der er Dinge beiseiteschiebt, die ihn langweilen. Seine Hand fährt träge und sinnlich zwischen die gut gebügelten Stoffe, erschauert bei der Berührung mit dem eiskalten Silberkreuz, schließt sich um das mit Münzen gefüllte Säckchen und zieht sich rasch wieder zurück. Auf einen Wink hin beeilt sich Raffaele Cuffa, den Korb wieder zu bedecken. Nun bleibt nichts mehr zu tun, als die Pferde nach Palermo zu lenken. Marianna läuft inzwischen ins Schlafzimmer der Eltern, wo sie ihre Mutter im Bett vorfindet, hingegossen zwischen die Leintücher, in einem mit Spitzen überladenen Nachthemd, das ihr an einer Schulter herabgerutscht ist, die Finger der einen Hand fest um eine emaillierte Tabakdose geschlossen. Das Mädchen bleibt einen Augenblick stehen, überwältigt vom Duft des mit Honig versetzten Schnitttabaks, der sich mit den anderen Ausdünstungen vermischt, die das Erwachen der Mutter begleiten: Rosenöl, geronnener Schweiß, getrockneter Urin, mit Lilienessenz parfümierte Pastillen. Die Mutter drückt die Tochter mit einer bedächtigen, zärtlichen Geste an sich. Marianna sieht die Bewegungen der Lippen, doch mag sie sich jetzt nicht anstrengen, um den Sinn der Worte zu erraten. Sie weiß, dass sie ihr sagt, sie solle nicht allein über die Straße gehen, denn taub, wie sie ist, könnte sie leicht von einem Wagen zermalmt werden, den sie nicht kommen gehört hat. Und dann die Hunde, die kleinen wie die großen, sie solle sich nur ja von den Hunden fernhalten. Ihre Schwänze, das wisse sie sehr gut, würden lang und länger, bis sie sie jemandem um die Taille schlingen können, wie es die Schimären tun, und dann, zack!, spießen sie dich mit dem spitzigen Zweizack auf, und du bist tot, noch bevor du es merkst … Einen Augenblick lang starrt das Mädchen auf das dickliche Kinn der Frau Mutter, auf den wunderschönen, fein linierten Mund, auf die glatten, rosigen Wangen, auf die unschuldigen, ergebenen, abwesenden Augen: Niemals werde ich so werden wie sie, sagt sie sich, niemals, nicht einmal, wenn ich dafür sterben würde. Die Frau Mutter spricht noch immer von den Hundeschimären, die lang werden wie Schlangen, die einen mit ihren Schnurrbarthaaren kitzeln, die einen mit ihren boshaften Augen verzaubern, aber das Kind läuft weg, nachdem es ihr noch einen flüchtigen Kuss gegeben hat. Der Herr Vater sitzt schon in der Karosse. Aber er schimpft nicht, er singt. Das erkennt das Mädchen daran, wie er die Wangen bläht und die Augenbrauen hebt. Kaum hat sie den Fuß auf das Trittbrett gesetzt, fühlt sie sich von innen gepackt und in den Sitz gedrückt. Die Wagentüre wird mit einem trockenen Schlag von innen geschlossen. Und die Pferde rasen im Galopp davon, von Peppino Cannarota mit der Peitsche angefeuert. Das Mädchen lässt sich in den gepolsterten Sitz zurückfallen und schließt die Augen. Zuweilen sind die beiden Sinne, auf die sie am meisten vertraut, so angespannt, dass sie aneinandergeraten. Die Augen haben den Ehrgeiz, die Formen voll und ganz zu erfassen, und der Geruchssinn bemüht sich seinerseits, die ganze Welt durch die beiden winzigen Öffnungen einziehen zu lassen, die sich an der Spitze der Nase befinden. Nun hat sie die Lider gesenkt, um den Pupillen einen Augenblick Ruhe zu gönnen, und die Nasenlöcher haben begonnen, die Luft einzusaugen und peinlich genau die Gerüche zu erforschen und zu klassifizieren: Wie aufdringlich doch der Geruch des Lattichwassers ist, mit dem die Weste des Herrn Vaters imprägniert ist! Darunter erahnt man den angenehmen Duft des Reispuders, der sich mit dem schmierigen Geruch der Polsterung, dem sauren Dunst der zerdrückten Wanzen vermischt sowie mit dem Kitzeln des Straßenstaubs, der durch die Türritzen dringt, zusammen mit einem Hauch von Minzkraut, der von den Wiesen der Casa Palagonia heraufsteigt. Aber ein besonders heftiger Schlag zwingt sie, die Augen wieder zu öffnen. Sie sieht, dass der Vater auf dem gegenüberliegenden Sitz eingeschlafen ist, der Dreispitz ist ihm auf die Schulter gerutscht, die Perücke hängt schief über der schönen, verschwitzten Stirn, die blonden Wimpern ruhen anmutig auf den frisch rasierten Wangen. Marianna zieht die mostfarbenen Vorhänge über dem Relief aus vergoldeten Adlern beiseite. Sie sieht ein Stück der staubigen Straße und ein paar Gänse, die mit ausgebreiteten Flügeln vor den Wagenrädern fliehen. In die Stille ihres Kopfes drängen sich die Bilder der Landschaft um Bagheria: die knorrige Korkrinde über den nackten rötlichen Stämmen, die Olivenbäume mit ihren von winzigen grünen Eiern behangenen Ästen, die Brombeersträuche, die die Straße zu überwuchern drohen, die Äcker, die Kaktusfeigen, die Büschel des Schilfs und im Hintergrund die windumbrausten Hügel der Aspra. Die Karosse passiert nun das Tor der Villa Butera und schlägt die Richtung nach Ogliastro und Villabate ein. Die kleine Hand umklammert weiterhin den Vorhang, trotz der Hitze, die der grobe Wollstoff ausströmt. Marianna sitzt auch deshalb so still und steif da, weil sie den Herrn Vater nicht durch irgendwelche unbeabsichtigten Geräusche wecken will. Aber wie dumm von ihr! Denn was ist mit dem Lärm von der Karosse, die über die Straßenlöcher holpert, und mit den Schreien von Peppino Cannarota, der die Pferde anspornt? Und mit dem Schnalzen der Peitsche? Und dem Gebell der Hunde? Wenn es für sie auch nur imaginäre Geräusche sind, für ihn sind sie wirklich. Und doch fühlt sie sich davon gestört und er nicht. Welche Scherze der Verstand den verkümmerten Sinnen doch spielt! An den steifen Rohrhölzern, die der von Afrika herüberwehende Wind aufwirbelt, erkennt Marianna, dass sie sich nun in der Nähe von Ficarazzi befinden. Dort vorne links steht schon das große gelbe Gebäude, das „die Zuckerfabrik“ genannt wird. Durch die Türritzen dringt ein schwerer, säuerlicher Geruch. Es ist der Geruch des zerkleinerten, aufgeweichten, zerfaserten und in Melasse verwandelten Rohrs. Die Pferde scheinen heute zu fliegen. Der Herr Vater schläft noch immer, trotz der heftigen Stöße. Es gefällt ihr, wie er dort liegt, ihrem Schutz ausgeliefert. Hin und wieder beugt sie sich vor und rückt ihm den Dreispitz zurecht oder verscheucht eine allzu lästige Fliege von seinem Gesicht. Das Schweigen ruht wie ein totes Gewässer im behinderten Körper des Kindes, das vor Kurzem das siebte Lebensjahr vollendet hat. In jenem stillen und klaren Wasser schwimmen die Karosse, die Terrassen mit der zum Trocknen ausgebreiteten Wäsche, die davoneilenden Hühner, das in der Ferne sichtbare Meer, der schlafende Vater. Alles wiegt leicht und bewegt sich rasch von der Stelle, doch sind die Dinge allesamt miteinander verbunden durch jene Flüssigkeit, die die Farben zerfließen lässt und die Formen auflöst. Als Marianna wieder zum Fenster hinausschaut, sieht sie mit einem Mal das Meer vor sich. Das Wasser ist klar und schlägt leicht gegen die großen grauen Steine. Ein Schiff mit schlaffen Segeln bewegt sich von der einen Seite des Horizonts zur anderen. Ein Maulbeerzweig schlägt gegen das Fenster. Dunkelrote Beeren klatschen kräftig gegen das Glas. Marianna zuckt zurück, doch nicht schnell genug: Durch den Stoß hat sie sich den Kopf am Fensterrahmen angeschlagen. Die Frau Mutter hat schon recht: Ihre Ohren können sie nicht beschützen, und die Hunde könnten sie jeden Moment...


Dacia Maraini, geboren 1936 in Fiesole. Aufgewachsen in Japan und Sizilien. Grande Dame der italienischen Literatur; enge Freundschaft mit Alberto Moravia und Pier Paolo Pasolini. Ausgezeichnet mit zahlreichen Preisen, u. a. dem Premio Strega und dem Premio Campiello. Ihre Bücher sind in 25 Sprachen übersetzt. Zuletzt auf Deutsch erschienen bei Folio: Das Mädchen und der Träumer (2017), Drei Frauen (2019).


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