E-Book, Deutsch, 157 Seiten
ISBN: 978-3-95824-740-6
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Beatrix Mannel studierte Theater- und Literaturwissenschaften in Erlangen, Perugia und München und arbeitete dann zehn Jahre als Redakteurin beim Fernsehen. Danach begann sie - auch unter ihrem Pseudonym Beatrix Gurian - Romane für Kinder, Jugendliche und Erwachsene zu schreiben, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Für ihre aufwändigen Recherchen reist sie um die ganze Welt. Außerdem gründete sie gemeinsam mit einer Kollegin 2016 die Münchner Schreibakademie. Bei dotbooks erschienen bereits die Jugendromane Jule, filmreif, Jule, kussecht, die Serie S.O.S. - Schwestern für alle Fälle mit den Einzelbänden: Willkommen in der Chaos-Klinik Ein Oberarzt macht Zicken Flunkern, Flirts und Liebesfieber Rettender Engel hilflos verliebt Prinzen, Popstars, Wohnheimpartys und der historische Jugendroman Die Tochter des Henkers. Mehr Informationen auch auf der Website der Autorin: www.beatrix-mannel.de www.münchner-schreibakademie.de/
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
GEPLATZTE TRÄUME
Seine Küsse schweben lachend durch die Luft zu mir. Kitzeln die glitzrigen Salzkristalle auf meiner braunen Haut und bringen mein Herz zum Kochen. Dabei ist mir doch sowieso schon unglaublich heiß von all der Sonne. Ich schaue Twister an, und bevor ich endgültig verglühen kann, zieht er mich mit seinen großen Händen hoch, und wir stürzen uns nackt und glücklich in die schaumigen Wellen. Tauchen unter und blubbern aus der dunkelgrünen Stille silbrige Luftblasen an die Oberfläche, bis wir nicht mehr können ... Ja, genau so habe ich, Jule Neumann und liebeskranker Schwachkopf, mir die Sommerferien vorgestellt. Falls es euch erstaunen sollte, dass ich trotz meiner beachtlichen 1,68 Meter im Quadrat davon fantasiert habe, mit meinem Freund Twister nackt allein am Strand zu liegen, das hat einen ganz einfachen Grund: Ich sehe komischerweise nackig besser aus als im Badeanzug. Es gibt einfach keinen, der mir passt. Andererseits ist das eigentlich auch piepegal, denn mein Freund Twister hatte nur ein müdes Lächeln für diese, wie er es nennt, »romantische Sülze« übrig. Nicht mal drei Tage wollte er mit mir wegfahren! Und warum nicht? Weil er arbeiten muss. Jetzt habt bloß kein Mitleid mit ihm. Denn er muss nicht arbeiten, weil seine Familie am Hungertuch nagt. Nein, er will sich ein neues Foltergerät zulegen. Sprich ein Mountainbike mit »full suspension«. Fully genannt. Wer braucht so etwas, frage ich euch. Twister hat schließlich schon ein Mountainbike. Und es kommt noch besser. Was arbeitet Twister? Geht er etwa einer harten und wie ich finde für Jungs absolut angebrachten Tätigkeit nach? Spült er in einer Großküche die fettigen Töpfe? Kehrt er die Reste in einer Fischfabrik zusammen? Sortiert er eklige Krankenhauswäsche nach Farben? Pah, weit gefehlt. Soll ich euch mal eine Handbewegung vormachen, damit ihr es besser erraten könnt? Tja, leider gibt es keine. Die einzige Bewegung, die er dort machen wird, ist Augengymnastik, sprich Glotzen. Er arbeitet nämlich als Bademeistergehilfe in einem Freibad. »Arbeit« hat er so Mitleid heischend gestöhnt, dass ich beinahe weich geworden wäre. Aber dann ist mir eingefallen, warum das Freibad, in dem er arbeitet, so beliebt bei den vielen Fotomodellen der Stadt ist. Dort gibt es eine Frauennacktbadezone, zu der Männer keinen Zutritt haben, mit einer Ausnahme. Ja richtig! Die gilt für Bademeister und selbstverständlich auch für ihre Assistenten. Twister versteht mich natürlich nicht. Von wegen Fotomodelle! Das sei alles nur meinem eifersüchtigen Mädchengehirn entsprungen. In Wirklichkeit müsste er sich mit den kleinen Kotzbrocken herumärgern, die immer von der Seite ins Becken springen. Er müsste Papierchen vom Rasen aufheben und würde abkommandiert zum Kloabchecken. Das sei kein Zuckerlecken. Sagt er und schlägt mir vor, ihn jeden Tag besuchen zu kommen, um mich selbst davon zu überzeugen. So, und da war ich dann völlig platt. Ich, Jule Neumann, lege mich ins Schwimmbad und überwache meinen Freund? Was hat er sich denn dabei gedacht? Dass ich wie eine Walrossmutti in meinem schrecklichen Badeanzug Größe 48 in der Sonne liege, schnaufe und ab und zu ein Küsschen in seine Richtung werfe, während er die Mülleimer ausleert? Ich gebe gern mal eine lächerliche Figur ab, aber auch für mich existieren Grenzen. Zuerst war ich nur wütend. Habe mir überlegt, wie ich Twister ärgern könnte. Habe mir ausgemalt, wie ich mit einem Supermann an meiner Seite ins Schwimmbad gewackelt komme und überall Kaugummipapiere hinwerfe. Aber irgendwie blieb danach ein schlechter Geschmack im Mund zurück. Es hat keinen Spaß gemacht, sich so etwas vorzustellen. Twister soll mein strahlender Held sein. Niemand sonst. Tja, und deshalb räkele ich mich im Moment nicht auf einem quittengelben Handtuch und lasse mir den Rücken einölen, sondern bin hier. An einem Ort, von dem ihr vielleicht noch nie gehört habt und den ihr bestimmt für todlangweilig haltet. Luzie jedenfalls hat mich gefragt, warum ich nicht gleich einen Platz im Sarg miete, als ich erwähnte, wo ich hingehe. Luzie ist meine beste Freundin und ganz anders als ich. Sie hat Haare schwarz wie Rabenfedern und Augen blau wie Mentholkaugummis. Und genauso wie beim ersten Bissen in eines dieser Dinger muss man auch bei Luzie nach Luft schnappen, wenn man sie das erste Mal richtig anschaut. Vielleicht haben ihre Eltern sie deshalb für die Öffentlichkeit aus dem Verkehr gezogen. Luzie wurde nämlich für die Dauer der Sommerferien in ein Schweizer Mädchen-Ferieninternat namens »Sommertraum« verfrachtet. Am letzten Schultag haben Luzie und ich deshalb eine kleine Trauerfeier veranstaltet. Eigentlich war es mehr eine Trostfeier. Luzie hat sich in der Eisdiele bei mir um die Ecke an einem Jogurteis ohne Sahne festgehalten und ich an einem Nussbecher, meinem Lieblingseis. Aber das hat auch nichts genutzt. Am liebsten hätten wir beide geheult. Luzie hasst es, eingesperrt zu sein. Außerdem ärgert sie sich, weil dieses Ferienlager als eine Art Strafe für sie gedacht ist. In den Osterferien haben Luzie und ich ihre Eltern recht ausgiebig angelogen, nur um zusammen in die Ferien fahren zu können. Leider ist Luzies Mutter uns auf die Schliche gekommen und geht jetzt auf Nummer sicher, dass ihr Augapfel nicht irgendwo in der Weltgeschichte herumgondelt. Persönlich hat sie die Verbannung ihres Lieblings nach »Sommertraum« überwacht. Aber auch vor mir liegen sechs endlose, superöde Ferienwochen. Mein bester Freund Matthias hat einen Job als Fahrradkurier. Meine Schwester Cindy ist für ein Jahr als Au-pair nach Kalifornien abgedampft. Nur weil ich bis zum letzten Moment gedacht habe, dass Twister vielleicht doch noch sein Herz für die Urlaubsfreuden entdeckt, bin ich als Einzige ohne Beschäftigung. Luzie fand allerdings, dass ich nicht jammern dürfte. Ich müsste wenigstens nicht mit vier anderen Mädchen in einem Zimmer schlafen. Ich dürfte weiterhin jeder Art menschlicher Kommunikation nachgehen, sprich Handy, SMS und Internet. Für sie wären diese unbestreitbaren Segnungen der Zivilisation in ihrem Ferienlager verboten. Was für uns beide bedeutet, dass wir uns nur per Schneckenpost unterhalten können. Eine schreckliche Vorstellung! Luzie hat mich aus ihren blauen Augen so traurig angeschaut, dass ich wirklich dachte, es wären nicht bloß die Sommerferien, die vor uns lägen, sondern ewige dunkelste Nacht. Nach unserer dann doch nicht ganz tränenfreien Verabschiedung ging für mich, wie aus dem Nichts und völlig unerwartet, die Sonne auf. Ein einziger Telefonanruf befreite mich mit einem Schlag von den trüben Aussichten. Am Apparat war Franziska. Sie ist eine Regisseurin, die ich bei meinem kurzen, aber sehr ereignisreichen Gastspiel als lustige Dicke in einer Seifenoper mit dem sprechenden Titel »Nachts ist die Liebe dunkler als draußen« kennen gelernt habe. Franziska hat mir eine Menge beigebracht. Immerhin musste ich in der Serie zum allerersten Mal einen Jungen küssen. Vor laufender Kamera! Dabei habe ich mich ziemlich blöde angestellt. Jetzt, ein Jahr später, wäre das für mich kein Problem mehr. Jedenfalls war Franziska sehr geduldig mit mir. Als ich dann wieder aus der Serie rausgeworfen wurde, übrigens, weil ich verbotenerweise ein paar Kilo abgenommen hatte, da bot sie mir an, ich könnte irgendwann einmal bei einer ihrer Reportagen mitarbeiten. Wie schön, dass ausgerechnet jetzt irgendwann ist. Übrigens kriege ich nicht einen Euro für meine Arbeit. Wie mir Franziska erklärt hat, ist ein Praktikum beim Film fast immer unbezahlt. Aber das ist mir egal. Alles kommt mir besser vor, als den ganzen Tag darüber nachzugrübeln, wie es gewesen wäre, wenn Twister und ich zusammen hätten wegfahren können. Franziska hat sich über meine Zusage ziemlich gefreut, Kein Wunder, denn sie muss in drei Monaten gleich drei Reportagen abgeben und kann jede Hilfe nur zu gut gebrauchen. Ich verstehe, wenn ihr langsam ungeduldig werdet und endlich wissen wollt, wo ich denn eigentlich bin. Okay, ich befinde mich in der Bayerischen Staatsbibliothek. Nicht zum Bücherabstauben. Nein, ich recherchiere hier gerade. Falls ihr nicht wisst, ob Recherchieren eine todsichere Methode ist, garstige Bücherwürmer zu vernichten, oder eher eine ausgeklügelte Anmachtechnik für Leseratten, verrate ich es euch. Es ist ziemlich simpel: Ich sammle Informationen zu einem Thema. Das klingt lange nicht so besonders wie: recherchieren. Und ich tue es, weil eine Reportage natürlich nicht einfach so entsteht. Diese spezielle Reportage hat übrigens ein Superthema, etwas, worum mein Leben kreist, wenn ich nicht gerade an Twister denke: um Schokolade! Allein bei dem Gedanken an Schokolade bekomme ich gute Laune. Es erscheint mir fast, als wäre ich schon eine Ewigkeit in diesem fast kirchenartigen Raum. Niemand schnäuzt sich, keiner erlaubt sich ein Husten in dieser feierlichen Stille. Jedes Mal, wenn die Bibliothekarin einen neuen Bücherrollwagen hereinschiebt, bin ich erstaunt, dass es nicht der Papst mit einem Rudel von Ministranten ist. Manchmal frage ich mich, ob ich vielleicht die einzig Lebendige hier bin. Die über die Bücher gebeugten Rücken sehen aus wie erstarrt. Noch nie habe ich einen von ihnen bei einer Bewegung ertappt. Was die anderen wohl so Spannendes recherchieren? Der Greis neben mir liest ein fünfbändiges Werk über die Bedeutung der Diphthongverschiebung im späten Mittelhochdeutschen. Keine Ahnung, was das wohl zu bedeuten hat. Wenn ich jetzt ein Zaubermittel hätte, mit dem ich die Gedanken, die hier im Raum schweben, sichtbar machen könnte, wüsste ich vielleicht, was es damit auf sich hat. Dann wäre über meinem Nachbarn eine Art...