E-Book, Deutsch, 154 Seiten
ISBN: 978-3-95824-739-0
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Beatrix Mannel studierte Theater- und Literaturwissenschaften in Erlangen, Perugia und München und arbeitete dann zehn Jahre als Redakteurin beim Fernsehen. Danach begann sie - auch unter ihrem Pseudonym Beatrix Gurian - Romane für Kinder, Jugendliche und Erwachsene zu schreiben, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Für ihre aufwändigen Recherchen reist sie um die ganze Welt. Außerdem gründete sie gemeinsam mit einer Kollegin 2016 die Münchner Schreibakademie. Bei dotbooks erschienen bereits die Jugendromane Jule, filmreif, Jule, kussecht, die Serie S.O.S. - Schwestern für alle Fälle mit den Einzelbänden: Willkommen in der Chaos-Klinik Ein Oberarzt macht Zicken Flunkern, Flirts und Liebesfieber Rettender Engel hilflos verliebt Prinzen, Popstars, Wohnheimpartys und der historische Jugendroman Die Tochter des Henkers. Mehr Informationen auch auf der Website der Autorin: www.beatrix-mannel.de www.münchner-schreibakademie.de/
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ALLER ANFANG IST SCHWER
Ich muss als Erste aus dem Bus steigen. Luzie und Twister winken durch die Fensterscheibe und wünschen mir mit hochgereckten Daumen viel Glück. Die beiden fahren mit dem Rest der Sportskanonen weiter zu den richtigen Pisten. Hoffentlich in ein sehr weit entferntes Gebiet. Ich kann bei meinem Weg in die Hölle keine Zeugen gebrauchen. Ich höre schon eure Kommentare. Wieso Hölle? Snowboarden ist doch himmlisch, und außerdem, wenn man die Hosen im Vorfeld schon so gestrichen voll hat, dann kann das ja nichts werden. Da habt ihr natürlich Recht. Deshalb trichtere ich mir seit zwei Stunden frohe Botschaften ein: Jule, endlich kannst du zeigen, was in dir steckt, endlich eroberst du dir die Welt von Schnee und Eis. Du wirst in zwei Tagen sicher auf dem Board stehen und dann neben Twister die Hänge hinabrauschen. Er wird dann voller Begeisterung an deiner Seite durch den pulvrigen Tiefschnee sausen bis zu einem kleinen Tannenwäldchen. Dort werdet ihr zusammen vulkanartige Leidenschaft erleben und vereint in Lavaströmen der Lust die Kälte vergessen und glühen, glühen, glühen. Hey, ich weiß, meine Fantasien sind etwas übertrieben, aber sie wärmen – wenigstens ein bisschen – von innen. Im Augenblick fällt mir allerdings jeder Schritt in der kalten Luft schwer. Der Schnee knarzt unter meinen Softboots, und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als zu Hause auf meinem Bett zu liegen. Die Snowboardlehrerin heißt Mona Hinteregger und betrachtet mich nachdenklich. Wahrscheinlich bin ich die erste richtig Dicke, der sie Snowboarden beibringen soll. »Sag mal, Jule, kann es sein, dass ich dich schon mal im Fernsehen gesehen habe?« Was wieder einmal ein Beweis dafür ist, dass man nicht versuchen sollte, die Gedanken von anderen zu lesen, man liegt wirklich total oft falsch. Ich zumindest. Trotzdem tue ich es immer wieder. Die fünf Jungs, die außer mir diesen Kurs belegt haben, schauen neugierig zu mir herüber. Ich höre, wie einer von ihnen flüstert: »Klar, die war Star in einer Talkshow zum Thema: Hilfe, mein Kind ist ein Fettkloß!« Die anderen kichern. Ich ignoriere das und wende mich demonstrativ Mona zu: »Ja. Ich habe mal in einer Serie mitgespielt. Aber das ist schon fast ein Jahr her. Sie müssen ein gutes Gedächtnis haben.« »Hieß die Serie vielleicht ›Nachts ist die Liebe dunkler als draußen‹?« »Ja.« Ich nicke. »Die wird gerade im österreichischen Fernsehen wiederholt. Und ich liebe diese Serie.« Ich fühle mich ein bisschen besser. Vergnügt schüttelt mir Mona die Hand. Wenn sie lacht, blitzt eine kleine Lücke zwischen ihren Schneidezähnen auf, es sieht irgendwie süß aus. »Also Jungs, also Jule, bevor es losgeht, müssen wir erst einmal herausfinden, welches Bein vorne auf eurem Brett stehen soll.« Ich versuche, über meinen in die rote Daunenjacke verpackten Bauch einen Blick auf die Beine zu erhaschen – gar nicht so leicht. Da kriege ich plötzlich einen kräftigen Schubs in den Rücken und falle nach vorn in den Schnee wie ein nasser Sack. Ich brauche euch nicht zu erklären, wie ich mich fühle, oder? Aber ich lasse nicht locker, ich bleibe weiterhin positiv! So eine Schneemaske ist sicher das Beste für einen frischen Teint. Niemand lacht, was noch unangenehmer ist, als wenn sich alle ausschütten würden. Mona entschuldigt sich. »Das tut mir Leid. Ich wollte eigentlich nur demonstrieren, wie man herausfindet, welches Bein vorne am Brett stehen sollte. Komm, Jule«, sie reicht mir die Hand, »steh auf, und dann probieren wir das gleich noch mal. Ich hätte dich vielleicht vorwarnen sollen.« Sie stellt sich hinter mich, gibt mir einen Stoß, und ich trete mit dem linken Bein nach vorn, um den Stoß abzufangen. »Seht ihr, so geht das. Probiert jetzt bitte kurz ein paar Mal aus, ob ihr mit rechts oder links abfedert. Dann holen wir die Bretter und legen los.« Schnell bilden sich Zweiergruppen. Ich bin nicht nur das einzige Mädchen, sondern auch die Älteste in der Gruppe. Dass ich die Dickste bin, brauche ich euch nicht zu sagen, das ist euch sicher sowieso klar. Der Junge, der sich meiner erbarmt, heißt Friedel und ist höchstens zehn Jahre alt. Er spricht kölsch und findet es toll, jemandem vom Fernsehen in den Rücken zu hauen. Endlich dürfen wir an die Bretter. Als Erstes sollen wir den vorderen Fuß in die Halterung einklicken und dann mit dem anderen anschieben. »Mann, das ist voll easy«, versichert mir Friedel, und seine silberne Zipfelmütze hüpft fröhlich, »echt wie beim Skaten. Endcool.« Da ich nicht skate oder anderen abartigen körperlichen Ertüchtigungswahnsinn treibe, wenn man vom Schulsport einmal absieht, finde ich das weder cool noch easy. Bei dem Versuch, das Brett zu bewegen, fange ich an, zu schwitzen wie im Hochsommer. Ich habe den Verdacht, das Brett bleibt am Schnee kleben, einfach weil ich zu schwer bin. Aber wie gesagt, ich motiviere mich heute, weil ich diesen verdammten Sport lernen werde. Man kann alles lernen, sagt meine Mutter, wenn man nur will. Bei meiner Schwester Cindy stimmt das auch. Mona kommt wieder und wieder zu mir, um mich zu ermutigen. »Toll, Jule!«, ruft sie, als hätte ich gerade den K2 im Alleingang geschafft, wenn ich nur zwei Millimeter vorwärts gleite. Die fünf Jungs sind die gleiche Strecke bereits dreimal hin- und hergefahren, als ich zum ersten Mal am anderen Ende ankomme. Nass geschwitzt und atemlos. Diese Strapaze muss dann zweimal wiederholt werden, bis Mona endlich »Mittagspause« ruft. Nicht nur die Jungs sind begeistert. Mona führt uns in eine »Skihütte«. Drinnen ist es stockdunkel, die Luft rauchverpestet und stickig. Jeder von uns quält sich aus seinen Sachen, und gemeinsam warten wir, dass wir einen freien Tisch bekommen. Es dauert nur eine klitzekleine halbe Stunde, schon klappt's. Die Bedienung teilt uns mit, was alles aus ist, eigentlich die komplette Speisekarte außer Pommes. Die kommen dann nach einer weiteren halben Stunde, latschig und kalt. Nicht meckern, Jule, versuche ich es wieder mit meinem Tagesmotto, du musst die Dinge positiv sehen. Ich freue mich deshalb lieber, dass die Pommes billig für nur fünf Euro zu haben sind. Fröhlich lächelnd würge ich die Dinger runter, spüle mit einer Apfelschorle ohne Kohlensäure nach und mache mich frohgemut zum Klo auf, bevor ich die ganze Montur wieder anziehen muss. Nach dieser dumpfigen Hütte scheint sogar die kalte Luft angenehm. Beinahe gefällt es mir, wie die Sonne die Eiskristalle in schimmerndes Silber verwandelt. Für den Nachmittag steht der Babyhang auf dem Programm. Babyhang! Das Wort ist eindeutig falsch. Es sei denn, es sollte zum Ausdruck bringen, dass hier nur Babys – in Ungewissheit, was das Wort Todesgefahr bedeutet – fahren würden. Nachdem wir keuchend den Berg erklommen haben, weist uns Mona an, die Snowboards anzulegen. Tolle Idee, finde ich! Da sitzt man auf seinem Hintern, der nicht nur von innen, sondern auch von außen langsam feucht wird, und schafft es nicht einmal aufzustehen. Zum Glück haben auch die Jungs Probleme damit. »Immer wieder probieren, einfach probieren«, sagt Mona und macht es uns vor, wie ein Stehaufmännchen. Die Frau muss Muskeln aus Stahl haben. Ich hebe meinen Hintern ein winziges bisschen aus dem Schnee. Nichts. Die Schwerkraft lässt mich zurücksacken. Die Jungs haben mittlerweile den Bogen raus und fahren einer nach dem anderen ab. Einige kommen schon wieder hochgekraxelt, und an dieser Stelle werde ich so sauer auf mich selbst, dass endlich genug Adrenalin durch meine Adern schießt, um meine Kilos hochzuwuchten. Nur um festzustellen, dass es fast senkrecht nach unten geht. »Da fällt man ja kopfüber, so steil ist das!«, bemerke ich ziemlich kleinlaut zu Mona. Die tätschelt beruhigend meine Schulter. »Das kommt dir nur so vor. Wirklich, es ist ein winziger Hang mit nur sehr wenig Steigung. Du wirst sehen. Versuch einfach, die Balance zu halten, und lass dich unten ausgleiten, ja?« Und dann gleite ich nach unten. Ich werde wahnsinnig schnell. Und noch schneller und schneller. Die Landschaft verwischt in den Augenwinkeln, und mein Herz fängt an zu rasen. Eine riesige Hand umklammert Herz, Magen, Gedärme, mein Bauch krampft sich zusammen. Alles verschwimmt vor den Augen. Meine Adern schwellen an, und das Blut darin wird eiskalt, dehnt sich trotzdem aus, steigt durch die Brust hoch zu meinem Hals. Erstickt mich. Anhalten. Sofort anhalten! Aber wenn ich mich bei dieser Geschwindigkeit auf den Hintern fallen lasse, dann bin ich wahrscheinlich tot. Und ich werde immer noch schneller. Ich kriege keine Luft mehr, röchle. Okay, ich werde mich auf den Hintern fallen lassen. Ade, Mama, ade, Twister, macht's gut. Ich hab euch lieb gehabt. Ich schließe die Augen und lasse mich fallen. »Jule!« Mona steht vor mir. Bin ich im Himmel? »Jule, warum hast du so geschrien?« Ich lebe noch! Und ich fühle gleich mal nach meinen Knochen. Was für eine köstliche Vorstellung, ich könnte mir etwas gebrochen haben! Dann wäre ich fein raus. »An diesem Babyhang hat sich noch nie jemand etwas gebrochen, du wärst die Erste!«, fährt Mona sauer fort. »Was war denn los?« Mein Herz hämmert immer noch. »Ich weiß nicht, ich hatte – ähh – Angst.« »Angst, an diesem Babyhang?« Mona deutet auf die Jungs, die gerade wieder einer nach dem anderen abfahren. Von hier unten sieht das wirklich nicht sehr schnell aus. »Das ist wie beim Reiten«, stellt Mona energisch fest. »Wenn man vom Pferd stürzt, soll man sofort wieder aufsteigen.« Ein paar Jungs aus der Gruppe stoßen zu uns. »Ist was passiert?«, fragt Friedel sensationslüstern. »Ich habe mir die Zunge gebrochen...