E-Book, Deutsch, 200 Seiten
ISBN: 978-3-95824-733-8
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Beatrix Mannel studierte Theater- und Literaturwissenschaften in Erlangen, Perugia und München und arbeitete dann zehn Jahre als Redakteurin beim Fernsehen. Danach begann sie - auch unter ihrem Pseudonym Beatrix Gurian - Romane für Kinder, Jugendliche und Erwachsene zu schreiben, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Für ihre aufwändigen Recherchen reist sie um die ganze Welt. Außerdem gründete sie gemeinsam mit einer Kollegin 2016 die Münchner Schreibakademie. Bei dotbooks erschienen bereits die Jugendromane Jule, filmreif, Jule, kussecht, die Serie S.O.S. - Schwestern für alle Fälle mit den Einzelbänden: Willkommen in der Chaos-Klinik Ein Oberarzt macht Zicken Flunkern, Flirts und Liebesfieber Rettender Engel hilflos verliebt Prinzen, Popstars, Wohnheimpartys und der historische Jugendroman Die Tochter des Henkers. Mehr Informationen auch auf der Website der Autorin: www.beatrix-mannel.de www.münchner-schreibakademie.de/
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EISZEIT
Kennt ihr das, wenn man auf seinem Bett liegt und völlig sinnlos rumheult? Das mache ich gerade, und es bringt natürlich nichts, nur dicke rote Augen und eine geschwollene Nase. Ich konnte noch nie weinen wie eine Feenprinzessin, der Tränen wie schimmernde Glasperlen von der bleichen Wange tropfen. Mir läuft der Rotz aus der Nase, und ich kriege keine Luft. Bestimmt wollt ihr endlich wissen, wieso ich dann trotzdem dieser Tätigkeit so intensiv nachgehe, statt etwas wirklich Schönes zu tun, wie zum Beispiel – ähh – Hausaufgaben zu machen. Es ist ganz einfach – und einfach schrecklich. In meiner Klasse redet keiner mehr mit mir. Jetzt macht bloß nicht gleich wieder das Buch zu. Ich hab niemanden verpetzt, ich hab auch keiner Freundin den Typen ausgespannt, nein, mein Verbrechen ist anscheinend viel schlimmer: Ich habe eine Zeit lang bei einer Fernsehserie mitgespielt. Und seit das vorbei ist und ich wieder zurück bin, sagen die anderen nur noch zu mir: »Na, fette Fernsehziege« oder auch »Na, Ex-Fernsehstar«. Ich verstehe das nicht. Ich habe mich überhaupt nicht wie ein Star benommen. Ehrlich. Es klopft an meiner Tür. Ich versuche mir das Gesicht abzuwischen, aber wahrscheinlich ändert das wenig an meinen Kaninchenaugen. Es ist meine große Schwester Cindy, die da durch das Zimmer schwebt und sich auf mein Bett setzt. Sie sieht aus wie immer: perfekt. Sie ist groß und schlank und hat wunderschöne, leuchtende, blonde, lange Haare. Nicht so stachelige, fettige, rote Zipfelfransen wie ich. Cindy rümpft ihre kleine Stupsnase. »Hier mieft es. Du solltest frische Luft reinlassen.« Sie geht zum Fenster und reißt es auf, so weit, dass ich hören kann, wie die Pappel vor meinem Fenster im Sommerwind leise rauscht. Ist Cindy nicht wunderbar? Sie fragt mich nicht, wieso ich heule, sie gibt keine fiesen Kommentare über mein verquollenes Boxergesicht ab und zwingt mich nicht, sie anzulügen und zu behaupten, ich hätte Heuschnupfen. Cindy weiß nämlich, dass ich es verabscheue, beim Heulen erwischt zu werden. Sie dreht sich um und mustert mich mit strengem Blick. »Wieso heulst du denn?«, fragt sie mich allen Ernstes. Von wegen wunderbar! »Herzblatt hat mir abgesagt«, versuche ich einen Witz, aber Cindy verzieht nicht mal ansatzweise ihre paprikaroten Mundwinkel. »Jule, ich will dir doch nur helfen. Was ist denn los?« »Nichts«, antworte ich stur und denke: Genau! Das trifft es auf den Kopf. Funkstille. Nichts. »Was heißt nichts?« Cindy zieht eine Haarsträhne aus ihrem Pferdeschwanz und fängt an, darauf herumzukauen. Ich weiß, was das bedeutet. Sie ist beunruhigt. »Nichts heißt nichts. Ich habe eine Allergie.« Genau genommen eine Allergie gegen meine Klasse. »Jule, du bist so kindisch. Als ob ich nicht wüsste, was in der Schule läuft. Ich hab gestern Katharina und Sophie belauscht. Sie saßen im Bus vor mir.« Meine beiden Lieblinge. Katharina, Liebling Nummer eins, ist unsere Klassensprecherin und Chefin dieser Schweigekampagne gegen mich. Sie ist in etwa so sympathisch wie eine unterernährte afrikanische Tüpfelhyäne. Allerdings sieht sie aus wie ein Engel: blond, süß, pausbackig ... obwohl, nein, das nehme ich zurück. Das wäre eine Beleidigung für echte Engel. Sophie, Liebling Nummer zwei, dient Katharina als Leibsklavin und würde auf Befehl ihrer Herrin keine Sekunde zögern, jemandem von hinten ein Messer in die Rippen zu stoßen; allerdings nicht, ohne vorher ihr Make-up zu prüfen. Dass Cindy es überlebt hat, ein Gespräch der beiden zu belauschen, grenzt an ein Wunder. Schließlich kann sie nicht einmal eine Kakerlake erschlagen! »Was hatten die Süßen denn so Weltbewegendes zu bereden?«, erkundige ich mich. »Hat sich Katharinas Bauchnabelpiercing entzündet? Oder möchte Sophie nun doch ein passendes Schlangentattoo auf ihrem Knöchel haben?« Cindy schüttelt ihren Kopf. »Nein, es ging darum, dass du ganz schön alt aussiehst, jetzt, wo keiner mehr mit dir spricht.« Mir fällt leider nichts ein, was ich dazu sagen könnte. Cindy legt ihren Arm um meine Schultern. »Mach dir nichts daraus. Sie sind alle bloß neidisch, Jule. Du tust ihnen einen Gefallen, wenn du dich über diese kindische Aktion ärgerst!« Sie hat gut reden. Cindy kennt solche Probleme überhaupt nicht. Obwohl sie schön und klug ist, schart sich immer ein Pulk von Busenfreundinnen um sie herum. Von den schmachtenden Jungs gar nicht erst zu reden. Ich dagegen habe nur ein paar Kumpels, männliche wohlgemerkt. Einen besten Freund habe ich allerdings auch, Matthias. Aber der ist leider nicht in meiner Klasse. Ich weiß nicht, warum, aber mit Mädchen freunde ich mich schwer an. Vielleicht liegt es an meinen Kilos? Ich bin nämlich 1,68 m und so hoch wie breit. Immer noch, obwohl ich in letzter Zeit dünner geworden bin. Ich kann neuerdings meine Fußspitzen sehen, wenn ich über meinen Bauch gucke, aber von Modelmaßen bin ich weit entfernt. Cindy spuckt ihre Haarsträhne resolut aus. »Hör mal, Jule, ich kann mir vorstellen, wie schrecklich das für dich ist. Du musst etwas dagegen unternehmen. Und ich habe auch schon eine Idee.« Sie strahlt mich aus ihren blauen Augen an, als würde sie mir gleich ein Geschenk überreichen. Cindy hat selten überraschende Ideen. Ich bin trotzdem gespannt. Alles ist besser als dieses eisige Schweigen, jeden Tag sechs Stunden oder länger. Cindy steht auf und stolpert über meinen bunten Flickenteppich. Aber sie ist so in Fahrt, dass sie es gar nicht merkt. »Du trittst in die Theater-AG ein. Da sollen sehr nette Leute drin sein, nicht solche Giftspritzen wie in deiner Klasse. Und außerdem wird sie vom Zwilling geleitet.« Ich bin verblüfft. Und zwar zum einen, weil meine Schwester gerade das Wort »Giftspritze« in den Mund genommen hat. Das ist höchst ungewöhnlich. Cindy spricht sonst immer druckreif. So etwas Ordinäres wie »Mist«, geschweige denn »Scheiße« oder »Arschloch«, kommt niemals aus ihrem Mund gekrochen. Sie ist einfach nicht fähig zu bösen Gedanken. Zum anderen habe ich keinen blassen Schimmer, wen sie mit Zwilling meint. Ich frage nach, und prompt bekommt Cindy einen verzückten Gesichtsausdruck. »Zwilling ist der neue Deutschlehrer in der Oberstufe. Er hat eine Theater-AG für alle Jahrgangsstufen gegründet.« »Machst du auch mit?« Cindy schüttelt den Kopf. »Ich muss leider fürs Abi lernen. Endspurt! Wenn alles gut geht, dann helfe ich vielleicht bei den Kostümen oder Kulissen. Ich sag dir, dieser Zwilling ist wunderbar.« Cindy dreht begeistert eine Haarsträhne hin und her. »Und was soll ausgerechnet mir die Theater-AG bringen? Dann sagen die anderen bloß, ich will jetzt auch noch ein Bühnenstar werden ...« »Quatsch, wenn du in der Theatergruppe nicht geschnitten wirst, dann verpufft diese miese Aktion doch total.« Ich überlege kurz. Was meint ihr? Ist das eine gute Idee? Oder macht es alles noch schlimmer? Andererseits, schlimmer kann es sowieso nicht mehr werden. Cindy zumindest ist begeistert von ihrem Vorschlag. Oder liegt das vielleicht eher an dem Lehrer ihres Vertrauens? »Woher kennst du den Zwilling?« »Er ist mein neuer Deutschlehrer, Frau Meister musste den Kurs abgeben, weil sie angeblich einen Nervenzusammenbruch hatte.« »Und was gefällt dir so an ihm?« Cindy zieht ihre Nasenflügel zusammen. Das tut sie immer, wenn sie angestrengt nachdenkt. Und es sieht ein bisschen so aus, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen, weil ihre Nase ganz weiß wird. Schließlich schüttelt sie den Kopf. »Ich habe keine Ahnung. Er ist nicht wie Superman oder so, aber er hat was. Er ist, na ja, er ist klug.« Na prima! Das sollte man von einem Lehrer wohl erwarten dürfen, oder? Und hattet ihr schon mal einen Lehrer, der Superman ähnelte? Ich nicht. Das Beste, an das ich mich erinnere, war mal ein Sportlehrer, der ausgesprochen durchtrainiert war. Aber leider hatte er so einen ekligen blonden Schnauzer und spuckte beim Reden. Cindy setzt sich wieder dicht neben mich aufs Bett. Wie macht sie es nur, dass sie immer so angenehm riecht? Fast so gut wie Mama. Cindy nimmt meine Hand. O Gott, was soll das werden? Schwören wir gleich auf die Bibel, die Wahrheit zu sagen und nichts als die Wahrheit? Cindy schaut mich durchdringend an. »Also versprich mir, dass du gleich morgen zum Zwilling gehst und dich eintragen lässt.« »Ich schwöre, so wahr mir Gott helfe! Amen«, rufe ich mit kräftiger Stimme und schlage mir mit der freien Hand auf meine ziemlich magere Brust. »Dass du aber auch über alles Witze machen musst.« Enttäuscht steht Cindy auf und verlässt mein Zimmer. Tja ihr merkt schon, sie hat, und das ist eins der wenigen Dinge, die ihr fehlen, wenig Sinn für Humor. Ich sinke zurück auf mein Bett und starre aus dem offenen Fenster. Ich liebe diese Silberpappel. Wenn die Blätter durch den Wind hin und her flirren, sieht das aus wie flüssiges Quecksilber und manchmal sogar wie das Glitzern der Sonne auf dem Meer. Vielleicht denkt ihr jetzt, dass es ziemlich öde ist, so einen Baum anzuglotzen, wo es doch jede Menge Soaps gibt oder Playstation 2. Na ja, erstens habe ich keinen Fernseher in meinem Zimmer, weil meine Eltern in dieser Hinsicht aus dem Mittelalter sind. Und zweitens ist das auch etwas ganz anderes. Ich sag es nicht gerne, weil es sich ganz schön verrückt anhört. Aber der Baum versteht mich irgendwie. Ich kann mit ihm reden. Der Baum weiß auch, dass ich davon träume, ein wunderbarer, zarter, goldener Glanz zu sein. Oder vielleicht sollte ich sagen, dass ich davon geträumt habe. Manchmal kommt es mir so vor, als würde ich mit diesem Wunsch etwas zu hoch greifen. Oder zu...