Gesamtausgabe
E-Book, Deutsch, 773 Seiten
ISBN: 978-3-7504-4126-2
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Klaus Mann lebte von 1906 bis 1949 und war ein deutscher Schriftsteller.
Autoren/Hrsg.
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Es gab das Grandhotel mit dem roten Saal und mit der Terrasse, den Deutschen Hof und das Friesenheim; es gab die beiden Friseurläden, den populären, der auch im Winter offen hatte und zur Ortschaft gehörte, und seine feinere Konkurrenz, den ein unternehmungslustiger blonder junger Berliner während der Sommermonate leitete. Es gab die Bücherstube, wo ein anspruchsvolles Geschöpf mit Brille und streng geschnittenem Haar bediente, wo in der Auslage neben hoher Literatur bunte Postkarten lockten; es gab, aus rotem Ziegelstein, das Postgebäude, den kleinen Laden, wo man Photoartikel und Drogeriewaren, den anderen, wo man Bademäntel, Schokolade, Briefpapier, Himbeermarmelade und gelbe Spazierstöcke verkaufte. Die Atmosphäre solcher Badeorte ist magisch; sie verschluckt die übrige Welt. Hat man drei oder vier Tage lang in diesen Geschäften Einkäufe gemacht, glaubt man nicht mehr ernstlich daran, daß es anderswo auch noch Geschäfte gäbe. Auch daß anderswo noch Leute existieren, glaubt man nicht mehr ganz ernsthaft. Das hier sind »die Leute«, alles andere ist schattenhaft geworden. »Die Leute« sind diese ungezählten egoistischen und neugierigen alten Damen, die auf allen Promenaden der Welt ihre Sonnenschirme und Beutelchen spazierentragen, norddeutsche Matronen, ganz pikierte Würde, ganz strafende Pedanterie. »Leute« sind der Oberlehrer mit gelblich verwittertem Hängeschnurrbart und seine geduldige, eingeschnurrte Gattin, der er am Strande aus dem Hamburger Fremdenblatt vorzulesen pflegt. Sie sagt müde: »Gott, wie interessant!« Indessen überschlägt sich, gerade vor ihnen, prachtvoll die Welle. Die Welle steht eine leuchtende Sekunde lang im Höhepunkt, es ist ihres Daseins unzweideutiger Gipfel; ihr pathetischer Moment, denkt der zarte junge Mann, der im cremefarbenen Strandanzug promeniert. Wann ist dieser Moment in unserem Leben? sinniert er, während er weiterspaziert. Und wie fassen wir ihn? Merken wir ihn überhaupt? Der Welle ist klareres, gesammeltes Leben beschieden: sie hat einen triumphierenden Augenblick, wo sie kristallen prunkt, mit ungebrochener Kraft den Himmel spiegelt; dann überschlägt sie sich und ist aus. Der junge Mann läßt sich nieder, auf die Umfriedung einer verfallenden Sandburg. Er muß, da er kränklich ist, auf sich achtgeben, darf nicht zu lange hintereinander gehen. Mein Herzleiden, erinnert er sich mit einer gewissen Zärtlichkeit. Wenn ich zum Horizont schaue, denkt er, kommen die besten Einfälle. Vielleicht schreibe ich doch noch mein Buch. Es müßte von meiner Jugend und von meiner Kindheit handeln. Indessen denkt hinter ihm jemand, der ganz in Sand eingegraben ist, so daß man so gut wie nichts von ihm sieht: Das ist der Kränkliche, er hat einen schmalen, sympathischen Rücken. Baby, die Cellistin und Saxophonistin von »Freddys Band«, die aus warmem Sand das blinzelnde Gesicht gehoben hat, läßt es wieder zurücksinken. Warum stört er mich übrigens? denkt sie und kneift die Augen fest wieder zu. Ich dachte gerade so schön an Kansas City. Mittelwesten Amerikas, ihre öde Heimat. Wellington, häßlichste Stadt der Erde, zehntausend Einwohner, Wellington im Staat Kansas, meine öde Heimat, denkt am Nordseestrand Baby. Unser gemütliches Heim, our cosy home, oh, mit Radio und Fordwagen. Geliebte Hauptstraße, Mainstreet, mit dem Postgebäude, dem unentbehrlichen Kino, dem winzigen Hotel. Öde, geliebte Landschaft, die sich in grenzenloser Kahlheit auftut, dort, wo Mainstreet in die Landstraße übergeht. Während die Wellen, deren jede ihren pathetischen Moment hat, sich mit grollendem Aufjubeln überschlagen, eine nach der anderen, denkt Baby an Autofahrten in Frühlingsnächten, an diese verrückten Ausflüge: in einem phantastischen Ford zwei Jungens, zwei Mädchen. Hielt man nicht mitten auf der Landstraße, durch die großartig Wind fuhr? Und die Jungens hatten plötzlich Whiskyflaschen da. Wind und Whisky, Landstraße, Nacht, ein Singen und ein Gelächter: war das ihr Höhepunkt, ihr pathetischer Moment? Indessen steht der Kränkliche auf. Nun gehe ich wieder ein Viertelstündlein. Wo mag Freddy in diesem Augenblick sein? denkt Baby, die halb aufgerichtet dem Kränklichen nachschaut; der geht mit bedachten Schritten davon. Freddy, charmanter Erster Geiger von Freddys Band, betritt in diesem Moment das feinere Friseurgeschäft. Über dem schönen roten Bademantel ist sein Gesicht braun, mit mandelförmigen Augen und einem zu kleinen Mund. »Rasieren«, sagt er und beschenkt den Friseur mit dem gewohnheitsmäßig bezaubernden Lächeln; dabei sind seine Augen im Spiegel. Der junge Berliner, während er ihn einseift, bemerkt: »Die Saison läßt nach.« Der Geiger mit der Halbmaske von weißem Schaum zuckt gehässig: »Lorensen wird schon noch seine Erfahrungen machen.« Lorensen neigt sich zu einem neuen Gast, einer sympathischen und sanften Dame mit zwei blonden Kindern. »Unsere Kapelle spielt ja famos; leider ist der Geiger ein bißchen süßlich.« Herr Lorensen mag den Geiger nicht, er findet ihn geradezu zierbengelhaft; heimlich wurmt ihn, daß er mit seinen Perlenzähnen und Mandelaugen Baby aus Kansas so den Hof macht. Die neue Dame lächelt gewinnend. »Das kann bei einem Geiger nichts schaden.« Ihr Gatte ist reich und vergöttert sie, es wird deutlich an der freundlichen Verwöhntheit ihres Lächelns. Sie ist starke Liebe und eine gediegene Villa in guter Lage gewohnt. Mit ihren Kindern reist eine ältliche Pflegerin, die nun grau und gütig im Hintergrunde erscheint. Herr Lorensen denkt erbittert: Freilich, solchen Dämchen macht der Zierbengel Eindruck. Ihr Gesicht ist von einem empfindlichen Hellbraun; die bräunlichen, schmalen, langgeschnittenen Augen sind von sympathisch schimmernder Feuchte. Das Untergesicht ist ein wenig vorgebaut, was ihr das Ansehen eines verklärten Äffchens gibt. Der Berliner Friseur seift Freddy zum zweitenmal ein, natürlich weniger gründlich als für die erste Rasur. »Mein Geschäft in der Augsburger Straße geht ausgezeichnet«, erzählt er, während er oben, am rechten Wangenknochen, gegen den Strich zu schaben beginnt. »Aber ich finde, im Sommer muß der Mensch frische Luft haben.« Stumm, die Landstraße hinunter, träumt Baby, die im Sand mit hochgezogenen Knien hockt. Sah der Junge, der mich damals geküßt hat, nicht Freddy ähnlich? Ich bin immer auf diesen Schnitt der Augen geflogen. Ach, auf Kleinigkeiten kommt es doch an. – Was hat übrigens Herr Lorensen mich in letzter Zeit immer so anzustieren? Der Alte ist närrisch. Frau Lorensen, Agathe, mit dem energischen roten Gesicht, der harten, blonden Lockenfrisur, ist an den Tisch der neuen Dame getreten. Die weiße Bluse zum blauen Rock ist nicht ganz sauber, die blauen quellenden Augen sind völlig die einer Kuh. Daß ihr Viktor zu lange mit den fremden Damen plaudert, hat sie gar nicht besonders gern. »Töchting«, ruft sie, »wo bleibt die Suppe für die gnädige Frau?« Töchting ist von den beiden Kellnerinnen die ältere; blond, mit störrischer Stirn, auf den rauhen Wangen von violetten Äderchen ein Netz. Wie sie sich am Büfett im leeren Speisesaal rekelt, wo im Halbdunkel unfrisch die Nußtorten träumen, sieht sie mißmutig aus. Sie hat Grund dazu; denn wäre ihre Stiefmutter in Altona kein so schlechter Charakter, könnte sie in der Wirtschaft ihres Vaters arbeiten – ihr Vater hat eine Wirtschaft – anstatt hier den Dienstboten zu machen. Hat man denn keinen Moment seine Ruhe, denkt Töchting böse, weil Frau Lorensen ruft. Indessen biegt der vergnügungssüchtige, stämmige und brünette junge Mann, der abends im roten Saal oder auf der Terrasse immer am eifrigsten tanzt, mit seiner ebenso stämmigen, blendend weiß gekleideten Freundin, dröhnend lachend vom kleinen Weg in die Hauptstraße ein. »Es gibt heute Kino«, konstatiert er genüßlich. Sie schlendern am Friseurgeschäft vorbei, wo Freddy vorm Spiegel steht und sein Kinn zärtlich betastet. Baby richtet sich in ihrer Sandburg auf, klopft sich den Sand ab, schaut mit leerer Nachdenklichkeit übers Meer. Töchting stellt die Suppenschüssel verärgert vor die verwöhnte Dame hin. Nun ist es höchste Zeit umzukehren, fällt dem besorgten Kränklichen ein. Ich fühle in den Knien schon leichtes Zittern. »Und so kann es auch in Palästina leicht Unruhen geben«, meint der Oberlehrer, der das Hamburger Fremdenblatt zusammenfaltet. Freddys Band war schon für den Nachmittagstee verpflichtet. Es wurde auch um diese Stunde getanzt, die jungen Leute taten es oft in Bademänteln. Freilich, so angeregt wie abends war der Betrieb noch nicht. Viele blieben am Strand, wo Baby auch so gern geblieben wäre. Dafür stellten die Autotouristen sich ein. Gegen diese verhielten Bedienung wie Kapelle sich etwas hochmütig, selbst wenn sie in großen eleganten Wagen daherkamen. Sie gehörten nicht zur Familie. Nachmittags arbeitete die Band in leichter Tracht; Baby im Leinenkleidchen, die Jungen ohne Jackett, die Arme frei bis zu den Ellenbogen. Erst machten sie eine halbe Stunde lang Konzertmusik. Sie spielten Liszt, Brahms, Tschaikowsky; gelegentlich Wagner. Baby verwaltete das Cello, sie strich ernsthaft und bekam ein angestrengtes Schulmädchengesicht dabei. Freddy hingegen legte das zärtlich horchende Gesicht schräg und bezaubert zum Instrument, das er singen ließ, als müsse es schmelzen. Er war nicht so behend und aufgeräumt wie abends, wo er bei der Tanzmusik federte und zuckte. Die schwärmerischen Schritte, die er jetzt zuweilen, vom Podium hinunter, in den Saal hinein wagte, waren das Wandeln eines Hypnotisierten. Die Musik verzaubert ihn, dachten einige alleinstehende norddeutsche Damen. Er schließt die Augen, als würde ihm schwindlig vor Glück, stellten sie zugleich entzückt und beängstigt...