Buch, Deutsch, 310 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 214 mm, Gewicht: 386 g
Ästhetische Erfahrung der Gegenwart
Buch, Deutsch, 310 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 214 mm, Gewicht: 386 g
ISBN: 978-3-593-38602-7
Verlag: Campus
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Inhalt
Einleitung: Zur ästhetischen Erfahrung der Gegenwart
Kaspar Maase
Grundlegungen
Zur Kritik der ästhetischen Ökonomie
Gernot Böhme
Die Erforschung des Schönen im Alltag. Sechs Thesen
Kaspar Maase
Ästhetische Konzepte in der Geschichte
der US-amerikanischen Populärkultur
Winfried Fluck
Nachrichten aus dem gelingenden Leben.
Die Schönheit des Populären
Hans-Otto Hügel
Bilder und Dinge
Die Schönheit des Populären und das Fernsehen
Knut Hickethier
Me, Myself, I:
Schönheit des Gewöhnlichen.
Eine Studie zu den fluiden ikonischen
Kommunikationswelten bei flickr.com
Birgit Richard, Jan Grünwald und Alexander Ruhl
Fumetti – Der Comic schwebt zwischen den Extremen
Andreas Platthaus
Schönheit im Industriedesign. Es gibt vier Richtungen.
Und dazu: Design und Liebe (Philippe Starck)
Gudrun Scholz
Populäre Musik
Moment und Erzählung
Diedrich Diederichsen
Rau, süßlich, transparent oder dumpf – Sound als eine
ästhetische Kategorie populärer Musikformen.
Annäherung an einen populären Begriff
Susanne Binas-Preisendörfer
Ästhetische Erfahrungen mit populärer Kultur
Mohini Krischke-Ramaswamy
Körper
Das Populäre und das Nicht-Populäre. Über den Geist
des Sports und die Körperlichkeit der Hochkultur
Thomas Alkemeyer
Ars erotica – eine populäre Kunst?
Richard Shusterman
Anhang
Literaturverzeichnis
Glossar
Autorinnen und Autoren
Abbildungsnachweise
Personenregister
Die Erforschung des Schönen im Alltag.
Sechs Thesen
Kaspar Maase
Wer sich in den Alltag begibt, der kommt darin um – zumindest als Wissenschaftler.
Denn Wissenschaft betreibt Unterscheidung; Alltag hingegen gilt
(nicht ganz zu Unrecht) als fragloses, kaum reflexiv durchdrungenes Tun
und Erleben – und das schließt grosso modo auch die alltägliche Erfahrung
des Schönen ein. Ordentliche Wissenschaft präpariert einzelne Beziehungen
heraus, sucht mögliche Faktoren und Variablen zu isolieren und die Regeln
ihres Wirkens zu bestimmen. Dazu muss sie alle anderen als die gerade untersuchten
Einflüsse systematisch eliminieren, als Störvariablen behandeln.
Für unser Thema heißt das: Wer ästhetische Erfahrung nach den Regeln ordentlicher
Wissenschaft untersucht, muss die Beziehung zwischen den Menschen
und den Gegenständen ihrer Erfahrung theoretisch-methodisch reduzieren.
Will er nicht in den Sümpfen der Trivialität versinken, in denen alles
mit allem zusammenhängt, so muss er zwei Dinge voraussetzen: dass die
Untersuchten sich auf den Gegenstand ihrer ästhetischen Erfahrung konzentrieren
und eine rein ästhetische Beziehung zu ihm haben. Das ist methodologisch
zwingend, und genau so hat die akademische Theorie der Ästhetik
über Jahrhunderte gearbeitet. Der Kulturwissenschaftler volkskundlicher
Prägung kann sich aber des Eindrucks nicht erwehren, auf diese Weise werde
die Spezifik des Gegenstands verfehlt – denn die liegt gerade darin, dass im
Alltag solche Konzentration die Ausnahme bildet. Ja, der störrische Ethnograph
mag sich nicht einmal festlegen, was genau den Gegenstand ästhetischer
Erfahrung im Alltag darstellt und wie der sinnvoll einzugrenzen ist.
Millionen Deutsche machen es sich sonntagabends um 20.15 vor dem
Fernseher gemütlich: Sie suchen eine bequeme Sitzgelegenheit, die angenehmes
Körpergefühl garantiert, sie kuscheln sich vielleicht behaglich aufs
Sofa; wählen mit Bedacht ein Getränk und andere Genussmittel aus; vielleicht
wollen sie das Vergnügen mit Freunden teilen, und die werden sich
gewiss nicht 90 Minuten lang schweigend auf den Tatort am Bildschirm
konzentrieren. Es ist nämlich mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht der erste
Film der Serie, den sie sehen, und da gibt es eine Menge zu kommentieren;
schließlich hat man sich auch einiges mitzuteilen, das – für den Außenstehenden
– gar nichts mit dem Werk zu tun hat. Gehören solche bewusst geschaffenen
Rahmenbedingungen, die ja durchaus der sinnlichen Erkenntnis
(aisthesis) zuzurechnen sind, zur ästhetischen Erfahrung oder nicht? Bildet
nur der Film, wie ihn der Filmwissenschaftler an seinem High-Tech-Arbeitsplatz
analysiert, den Gegenstand ästhetischen Wohlgefallens? Hieß es nicht
einmal, der Film entstehe im Kopf des Zuschauers, in unserem Beispiel also
aus der Interaktion aller Anwesenden? Und was folgt daraus, dass die Aufmerksamkeit
der Beteiligten sich wechselnden Gegenständen zuwendet, sich
teilt, aber auch immer wieder den Tatort fokussiert?
Bisher hat man sich dafür entschieden, solche komplexen und fluiden,
gemischten und unordentlichen Alltagspraktiken einfach als nicht ästhetisch
relevant zu behandeln. Aber wenn wir bedenken, dass die Beteiligten ihr Tun
als höchst angenehm und befriedigend empfinden, dass sie sich nicht von
einer reineren, tieferen Erfahrung abgehalten fühlen, dass sie vielmehr bewusst
solche Erlebnissituationen schaffen – können wir da noch sagen, intensive
geistige Konzentration sei die Voraussetzung jeder wirklich ästhetischen
Erfahrung, zumindest jeder untersuchenswerten? Ist das eine sachlich
begründete Prämisse? Oder wird hier die Not methodisch sauberer Erfassung
zur Tugend einer Eindeutigkeit erklärt, die subjektiv höchst bedeutsame
Wirklichkeit ausschließt?
Eigentlich müsste der Untertitel dieses Aufsatzes also lauten: 1001 Fragen.
Er heißt aber, bescheidener: sechs Thesen. Die beiden ersten behandeln
methodisch-begriffliche
Fragen; die anderen vier sprechen Spezifika alltäglicher
Erfahrung des Schönen an.
These 1: Mozart und Alessi
Ästhetische Erfahrung im Alltag bezieht sich auf zwei große Gegenstandsbereiche:
auf die Künste von Abba bis Zurbaran, und auf schöne Dinge und
Situationen. Dabei wird ›Das Schöne‹ im Alltag ausdrücklich nicht beschränkt
auf das Harmonische, Erfreuliche, unmittelbar Angenehme. Einbegriffen
sind vielmehr das Melodram, Tragisches und Erhabenes, Satire, Horrorgenuss
und tränenreich Mitleiderregendes. Die Erfahrung sagt uns zwar,
dass das Erfreuliche, das Happy Ending, das sinnlich Schmeichelnde und
emotional Aufbauende deutlich überwiegt; doch das ist ein pauschaler und
noch dazu wesentlich historischer Befund.
Wenn im Folgenden vom Schönen die Rede ist, dann meint das die ganze
Palette dessen, was im Alltag ästhetische Erfahrung auslöst, speist, ermöglicht.
Die zirkulär klingende Formulierung ist bewusst gewählt – weil die
Frage in meinen Augen primär empirisch anzugehen ist. Im Folgenden werden
Vorschläge unterbreitet für das Programm einer induktiv und abduktiv
vorgehenden 'Ästhetik von unten' (Fechner 1876: 1, passim). Die Formulierung
und erste Schritte auf diesem Pfad sind keineswegs neu; sie stammen
aus Gustav Theodor Fechners Vorschule der Ästhetik von 1876. Fechner hat
selbst solche Studien vorgenommen;1 ihm verdanken wir den Nachweis,
dass die Proportion des sogenannten Goldenen Schnitts in unserer Kultur
anderen Proportionen ästhetisch vorgezogen wird: Wir finden sie schöner.
Und die umgangssprachliche Bezeichnung als schön – oder geil, super,
cool, Wahnsinn – nimmt der Empiriker schon ziemlich ernst als Hinweis auf
das Vorliegen ästhetischer Erfahrung. Man kann freilich noch andere valide
Indikatoren heranziehen. Sprachlos überwältigtes Staunen kann ebenso ein
Signal sein wie begeisterter Redeschwall; und wo Künste im Spiel sind, darf
man ohnehin ästhetische Erfahrung vermuten.
Doch selbstverständlich reicht das nicht hin. Wir brauchen ein abstrakteres,
intersubjektiv erörterbares Instrument, um ästhetische von anderen
Erfahrungen zu unterscheiden. Dazu eine Arbeitshypothese; sie soll den
Kreis der Kandidaten einengen und sich zugleich weiter entwickeln mit den
Befunden und ihrer Interpretation. Notwendig für ästhetische Erfahrung ist
eine ›außergewöhnliche‹, aus dem Strom der Eindrücke herausragende sinnliche
Wahrnehmung, die vom Wahrnehmenden
mit Bedeutungen verbunden
und in der emotionalen Gesamtbilanz als angenehm, erfreulich, lustvoll
empfunden wird. Wegen der positiven Gefühle gesucht und genossen wird
eine Vorstellung, eine mentale Repräsentation oder – denken wir an Literatur
– eine Imagination. Das ästhetische Begehren – da dürfen wir Kant folgen
– richtet sich also nicht auf die physische Verfügung über ein Objekt. Besitzerstolz,
die Freude daran, bewundert oder beneidet zu werden, das angenehme
Gefühl, etwas Gutes getan oder ein Schnäppchen gemacht zu haben,
als wir das seidige Batiktuch oder den schönen Kessel von Alessi kauften – all
diese Empfindungen kommen nicht als ästhetische in Frage, weil sie sich
1 Zu Leistungen und Grenzen von Fechners Ansatz vgl. Schneider (1996: 126–133).
nicht auf die sinnlich gegründete und mit Bedeutungen verknüpfte Vorstellung
eines Schönen beziehen.2 Die Arbeitsdefinition schließt also schon einiges
analytisch aus; die verbleibende Unschärfe scheint beim jetzigen Stand der
Dinge mehr Vor- als Nachteile zu haben.
Im Blick auf Mozart und Alessi bleibt noch, die hier verwendete Bedeutung
von ›Alltag‹ zu erläutern. Mir scheint es sinnvoll, von alltäglicher ästhetischer
Erfahrung immer dann zu sprechen, wenn die Beziehung auf das
Schöne nicht professioneller Natur ist – nicht die des aktiven Künstlers, Kritikers,
Forschers.3 Alltag in diesem Sinn herrscht also nicht nur, wo man sich
beim Bügeln durch Musik oder ein Hörbuch unterhalten lässt, sondern gleichermaßen
für die meisten Besucher in Oper und Kunstmuseum, und auch
für den Literaturkritiker beim Bundesligafußball oder den Kunsthistoriker
beim Rock-Konzert. Nicht um Alltag, sondern um professionelle Aufmerksamkeit
handelt es sich hingegen, wenn ein anerkannter Geschichtenerzähler
zuhört, wie jemand anders in geselliger Runde eine Anekdote präsentiert.
Zur Begründung für diese Definition hier nur so viel. Wenn ästhetische
Analyse und Bewertung immer wieder große Felder ästhetischer Erfahrung
ausschließen oder abwerten, dann deshalb, weil sie einzig den professionellen
Maßstab konzentrierter, ernsthafter und arbeitsförmiger, analytisch orientierter
und intellektuell durchreflektierter Befassung mit zumeist kanonisierten
Gegenständen anlegen. So wird sicher eine Spielart ästhetischer Erfahrung
repräsentiert, aber eben nur eine. Die meisten Konstellationen des
Umgangs mit dem Schönen haben anderen Charakter.