Buch, Deutsch, 424 Seiten, Format (B × H): 144 mm x 218 mm, Gewicht: 521 g
Kontroversen um Schmutz und Schund seit dem Kaiserreich
Buch, Deutsch, 424 Seiten, Format (B × H): 144 mm x 218 mm, Gewicht: 521 g
ISBN: 978-3-593-39601-9
Verlag: Campus Verlag GmbH
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Altersgruppen Kinder- und Jugendsoziologie
- Sozialwissenschaften Medien- und Kommunikationswissenschaften Medienwissenschaften Medien & Gesellschaft, Medienwirkungsforschung
- Sozialwissenschaften Medien- und Kommunikationswissenschaften Kommunikationswissenschaften Massenmedien & Massenkommunikation
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Spezielle Soziologie Mediensoziologie
Weitere Infos & Material
Inhalt
Zu diesem Band9
I. Einleitung: Kultur ist sterblich12
II. Weichenstellungen für das 20. Jahrhundert: Der Schundkampf im Kaiserreich31
Eine explosive Konstellation32
Wie definiert man ein Gespenst?50
Die wilhelminische Kampagne75
Bewegte und bewegende Bilder: »Schundfilme«122
Ästhetische Volkserziehung: der »positive« Schundkampf150
Radikalisierung im Ersten Weltkrieg205
III. Soziales Theater241
Bildung Macht Klasse244
Kinderlebenswelten – Kindermedienwelten260
IV. Schlussüberlegungen: Was blieb? 310
Anmerkungen338
Abkürzungen370
Abbildungsnachweise372
Quellen374
Thematisches Literaturverzeichnis391
Preiswerte Heft- und Schriftenreihen416
Register der Personen und Organisationen419
I. Einleitung: Kultur ist sterblich
Am 11. März 2009 ermordete der 17-jährige Tim Kretschmer 15 Menschen und verletzte elf weitere, bevor er sich selbst mit der Tatwaffe, einer Pistole vom Typ Beretta 92, tötete. Die Mehrzahl der Opfer waren Schüler und Lehrer einer Realschule in Winnenden, 20 km nordöstlich von Stuttgart. Das erschreckende und für die meisten unerklärliche Verbrechen löste große Betroffenheit und anhaltende Diskussionen aus; einen Brennpunkt bildete, wie stets in solchen Fällen, die Frage nach der Rolle gewalthaltiger Computerspiele und des Internets in dem Drama. Am 20. März lud die Tübinger Lokalzeitung zu einer öffentlichen Diskussion mit dem Thema "In welcher Welt leben unsere Kinder?" Unter der Überschrift "Fremde Kinderwelt" wurde konstatiert:
"Sie leben in eigenen Communities, beziehen Informationen aus eigenen Medien und nicht wenige verwandeln sich nach der Schule in seltsam aussehende Online-Krieger, die ungerührt und massenweise am Bildschirm morden: Was Jugendliche heute in ihrer Freizeit tun, ist vielen Eltern ein Rätsel. Nicht erst seit dem Amoklauf in Winnenden fragen sie sich, wie gefährlich das zeitraubende Leben in den diversen virtuellen Welten für die Psyche ihrer Kinder ist. Sollen Eltern etwas dagegen unternehmen? Können sie überhaupt etwas unternehmen?"
Welche Erfahrung drückt sich hier aus? Da spricht jemand, der sich große Sorgen macht, vielleicht sogar Angst empfindet: Gibt es nicht immer mehr Jugendliche, die außer am Bildschirm auch real, mit tödlichen Waffen "ungerührt morden" - und nun auch in nächster Nachbarschaft? Das eigentlich Erschreckende aber scheint zu sein: Es sind, aus der Sicht von Eltern wie aus der Perspektive des Staatsbürgers, unsere Kinder - doch es stellt sich immer wieder heraus: Wir wissen offenbar nichts über sie. Sie verbringen einen Großteil ihrer Zeit in eigenen, den besorgten Erwachsenen unbekannten und unzugänglichen Welten - Welten, das darf man ergänzen, die ihnen von profitorientierten Medienunternehmen eröffnet werden. Soweit wir überhaupt ahnen, was sie dort tun, erscheint es den Älteren eher seltsam; doch im Wesentlichen bleiben diese Eigenwelten ein Rätsel. Und zumindest für einige der Jungen scheint das Leben in den virtuellen Weiten der Computerspiele und des Internets gefährlich zu sein: Es verroht sie und macht sie zu einer Gefahr für die Menschen der realen Welt, wie in Winnenden. Die Gesellschaft der Älteren weiß weder, ob sie eingreifen soll, noch wie das geschehen kann. Doch am schlimmsten scheint: Selbst wenn man sich über Maßnahmen verständigen könnte - würden sie die Jugendlichen überhaupt erreichen?
Nicht jeder Leser wird den harmlosen Zeitungstext so verstehen. Die formulierte Interpretation ist gewiss beeinflusst von den Ergebnissen der historischen Studie, die dieses Buch vorlegt. Die Sorge, dass neue Medienangebote der Gesellschaft schaden, indem sie Heranwachsende faszinieren und zur Verrohung der nachrückenden Generation beitragen, durchzog das 20. Jahrhundert. Unaufhörlich wurde gefragt: Was machen unsere Kinder mit Groschenheften, Verbrecherfilmen, schlüpfrigen Schlagern, mit Gewaltcomics, schließlich mit Computerspielen und all den unkontrollierbaren Tabubrüchen im Internet? Und was macht das Wissen, das sie dort erwerben, aus den Halbwüchsigen? Besorgnis wegen einer moralisch hemmungslosen Kulturindustrie und Angst vor den Kindern der Massenkultur, die den Erziehungsbemühungen entgleiten, lassen sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts kaum auseinander halten. Und wiederkehrende Muster, das Problem zu sehen, zu erklären und auf die befürchteten Gefahren zu reagieren, wurden schon vor dem Ersten Weltkrieg Allgemeingut. In ihrer Tradition stehen, das ist eine der Thesen dieser Studie, die heutigen Debatten über Mediengewalt (und damit auch Texte wie der aus dem Schwäbischen Tagblatt).
Werteordnungen können scheitern
Seit es die moderne Massenkultur gibt, wird also breit über die Gefährdung der Ju