E-Book, Deutsch, 464 Seiten
Lyga / Baden HIVE - Tödlicher Code
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-641-25429-2
Verlag: cbj
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein spannender Cyber-Thriller
E-Book, Deutsch, 464 Seiten
ISBN: 978-3-641-25429-2
Verlag: cbj
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Bekanntheit im Netz war noch nie so tödlich
Früher waren die sozialen Medien völlig außer Kontrolle. Menschen stellten sich gegenseitig bloß und selbst Hacker wie Cassies Vater waren machtlos dagegen. Aber dann kam der Hive. Er ist dazu da, Menschen für das, was sie online tun, zur Rechenschaft zu ziehen. Wer Ärger macht, sammelt Verurteilungen. Werden es zu viele, wird ein Hive-Mob zusammengerufen, der dem Missetäter im realen Leben eine Lektion erteilt.
Als Cassie nach dem unerwarteten Tod ihres Vaters an eine neue Highschool wechselt, ist sie erfüllt von Trauer und Wut - und kurz vorm Ausrasten. Von ihren neuen Freunden angestachelt, macht sie online einen geschmacklosen Witz. Cassie bezweifelt, dass er jemandem auffallen wird. Aber der Hive bemerkt alles. Und während ihr Online-Kommentar ein ganzes Land in Aufruhr versetzt, fordert der Hive Vergeltung. Gestern noch war Cassie ein Niemand, heute kennt jeder ihren Namen und sie muss um ihr Leben rennen.
Ein atemberaubender Cyber-Thriller über die Macht der sozialen Medien - packend und gleichzeitig erschreckend aktuell
Barry Lyga hat bereits mehrere in den USA gefeierte Jugendbücher geschrieben. Seit den Recherchen für seinen Debüt-Thriller »Ich soll nicht töten« weiß er beunruhigend gut über alle Methoden Bescheid, wie man eine Leiche verschwinden lassen kann. Der Autor lebt und arbeitet in New York City.
Weitere Infos & Material
10010100101 1 Irgendwo in der Nähe ging es zur Sache und Cassie McKinney musste unbedingt dabei sein. Sie folgte der Menge eine Straße hinab, die von Schatten spendenden Bäumen gesäumt wurde, und dann um eine Ecke, an die sie sich gut erinnerte. Sie waren auf dem Weg zum Baseballfeld in ihrem alten Viertel, wo Cassie öfter zum Schlag ausgeholt und den Ball verfehlt hatte, als sie zählen konnte. Dort, wo Cassies Vater, Harlon McKinney, sie bei einem aufgeschürften Knie, nach einer herben Niederlage oder nach einer hämischen Bemerkung vom Werfer in den Arm genommen hatte. Mit jedem Schritt kochte ihr Blut in den Adern, pumpte der Atem schneller durch Cassies Lungen. Sie schirmte sich mit der Hand die Augen gegen die blendende Sonne ab, die gerade über den Bäumen zum Vorschein gekommen war, als wüsste diese, dass die Menge ihren eigenen Zuschauer brauchte. Als Cassie den Platz erreichte, konnte man die Spannung, die in der Luft lag, förmlich mit Händen greifen. Diese Menschen hatten trotz ihres verschiedenen Alters, ihrer unterschiedlichen Herkunft und Lebensumstände eine gemeinsame Mission und Cassie spürte die Energie in ihrem Körper. Ihre Finger zuckten, ihr Magen schnürte sich zusammen. Ich mache mit, dachte sie. Und dann, ein wenig unsicherer: Bitte, lass mich etwas Neues fühlen. Irgendetwas. Ihre Mutter, Rachel McKinney, hatte die Hive-Benachrichtigungen auf Cassies Handy ausgeschaltet, aber ihre Mutter konnte nichts mit einem Handy anstellen, was Cassie nicht wieder rückgängig machen konnte. Rachel war Professorin für Altertumswissenschaften, keine Programmiererin. Cassies Handy lief nicht einmal mit der Originalsoftware, sondern mit einer angepassten Version, die sie mit ihrem Vater ausgetüftelt hatte. Das Handy gab plötzlich einen Benachrichtigungston von sich und Cassie fuhr zusammen. Das war das Zeichen. Überall um sie herum empfingen die Menschen dieselbe Nachricht, die sie gerade über ihr In-Ear-Headset gehört hatte: Er war hier. Die Menge johlte und Cassie stimmte mit ein. Der Klang, der aus ihrer Kehle aufstieg und sich in ihrem Mund breitmachte, überraschte sie. Es fühlte sich unerwartet gut an, zu schreien. Weil alle anderen mit dem Fuß aufstampften und die Fäuste schüttelten, tat sie es ihnen nach, und auch das fühlte sich irgendwie gut an. Es war real, und es war kein Schmerz – das war doch schon mal was. Obwohl Cassie versuchte, nicht zu sehr darüber nachzudenken, war sie seit Monaten das Gefühl nicht losgeworden, die Welt nur noch aus der Distanz wahrzunehmen, als befände sie sich auf einer anderen physischen Ebene als die Menschen in ihrem Umfeld. Hier, in diesem Moment, glaubte Cassie, vielleicht alles wieder normal wahrnehmen zu können. Alles wieder normal empfinden zu können. Dazugehören zu können. Und in diesem Augenblick gehörte sie hierher, auf das Rasche-Spielfeld, zu den anderen, denen GPS, Wi-Fi und die unablässig ortenden Mobilfunkmasten den Weg gewiesen hatten. »Übt Gerechtigkeit«, sagte die Computerstimme in ihrem Ohr, gefolgt von dem Hashtag. Alle anderen hörten dasselbe. Cassie hatte es immer gehasst, dass sie so groß war, eine Eigenschaft, die sie von ihrem Vater geerbt hatte. Aber heute fühlte es sich wie ein Zeichen an. Es war ihr erster Hive-Mob und sie hatte praktisch einen Platz in der ersten Reihe. Sie sah den Übeltäter sofort: ein schmächtiger Mann mit sandfarbenem Haar, der mit gesenktem Kopf die Tribüne erklomm. Er schien eine Ewigkeit zu brauchen, bis er oben anlangte, so wie es ihm Tausende Stadtbewohner aufgetragen hatten, die für seine Verurteilung gestimmt hatten. Als er es schließlich geschafft hatte, bemerkte Cassie, wie sich seine nach vorne gebeugten Schultern plötzlich strafften, wie seine schmale Gestalt schlagartig an Größe zu gewinnen schien. Dieser Mann war gefasst, erkannte Cassie. Fast schon … stolz. Nun ja, der Hochmut würde ihm bald vergehen. Er hatte seine Familie in der Öffentlichkeit gedemütigt und einen anonymen Blog verfasst, in dem er seine zwiespältigen Gefühle gegenüber seiner Frau und seinen Kindern in aller Ausführlichkeit beschrieben hatte. Ehrlichkeit in den sozialen Medien war zwar bewundernswert, hatte aber Grenzen. Nach einem Posting, in dem er gestand, dass er seiner an Krebs erkrankten Frau gesagt hatte, er würde sie nicht mehr lieben, verbreitete sich sein Blog wie ein Lauffeuer im Internet, und die üblichen Doxing-Gangs deckten schnell seine Identität auf. Die »Gefällt mir nicht«-Wertungen und Verurteilungen waren in astronomische Höhen geschnellt – selbst Cassie hatte den Aufruf, ihn zu verurteilen, geteilt, und sie teilte kaum etwas in letzter Zeit. Über Nacht wurde Hive-Justiz beschlossen und #ÖffentlichErniedrigen als angemessenes Strafmaß festgelegt. Dadurch sollte Gerechtigkeit geübt werden, genau hier und genau jetzt. Als Strafe für seine Taktlosigkeit wollte man ihn zwingen, nackt durch die Stadt zu laufen, und ihm die Worte »Schlimmster Ehemann und Vater der Welt« auf die Brust schreiben. Jemand begann zu skandieren: »Monster, kein Mensch!«, und Cassie fiel in den Sprechgesang ein, auch wenn er bescheuert war. Aber es ging hier ja nicht um den Spruch, oder? Es ging um Zusammengehörigkeit, das wusste Cassie. Um Geschlossenheit. Zumindest behaupteten das alle. Sie versuchte, den Spruch zu wiederholen, Teil des Ganzen zu sein, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken. Sie räusperte sich, als sie sah, wie der Mann auf der Tribüne die Schultern erneut straffte, als wolle er einen Schutzwall um sich herum errichten, bevor die Bestrafung losging. Die Sonne tauchte den Platz nun in noch grelleres Licht, sodass Cassie den Mann besser erkennen konnte. Sie kniff die Augen zusammen. Irgendetwas war an seinem Gesicht … einen kurzen Augenblick lang fragte sich Cassie, ob sie ihn kannte. Der Mann wartete noch immer oben auf der Tribüne, nahm die Brille ab, klappte sie behutsam zusammen und steckte sie in die linke Hemdtasche. Dann klopfte er sachte mit der Hand darauf. Zweimal. Cassie wurde übel. »Dad«, flüsterte sie. Um sie herum wurde es still. »Wartet«, bat Cassie. Niemand hörte sie. Eine Frau mit hellem Kopftuch und einem Marker in der Hand stieg auf die Tribüne. Als er sie bemerkte, begann der Mann, sein Hemd aufzuknöpfen. Sein silbriges Haar schimmerte im Sonnenlicht. Cassie rang nach Luft. »Schreib es drauf!«, rief jemand hinter Cassie und wurde mit tosendem Applaus belohnt. Ein neuer Sprechgesang – »Draufschreiben! Draufschreiben!« – machte auf der Tribüne die Runde. Sie war die perfekte Bühne für die Menschenmenge auf dem Baseballfeld. Die Frau war nun oben angekommen und der Mann hatte sämtliche Kleidungsstücke abgelegt. Er war splitterfasernackt und völlig schutzlos. Cassie wandte den Blick ab und kämpfte gegen den Brechreiz, der in ihr aufstieg. Sie versuchte, ruhiger zu atmen. »Es ist nicht Dad«, sagte sie leise zu sich. Das wusste sie. Zum einen war der Mann weiß. Aber dennoch. Er war ein Vater, der Vater anderer Kinder, und ihr Vater hatte auf die gleiche Art wie dieser Mann die Brille abgenommen und sicher in der Hemdtasche verwahrt. Ihre Glieder fühlten sich schlaff und zittrig an. Wo war die Energie hin, die Spannung, die sie noch vor Kurzem gespürt hatte? Der Kameradschaftsgeist? Die Frau hielt den Marker empor, sodass die Menge ihn sehen konnte. Cassie nahm an, sie wäre aufgeregt, würde zumindest lächeln, doch ihr Gesicht war völlig ausdruckslos. Sie schien zu zögern, dann beugte sie sich vor und drückte dem Mann einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Daraufhin schloss er die Augen. Die Menge jedoch kostete den Moment aus. Sie klatschte lauter, während Cassie spürte, wie sie selbst sich wieder in den Panzer zurückzog, in den sie sich vor so vielen Monaten verkrochen hatte. »Un-ge-heu-er!«, brüllte ein junges Mädchen neben ihr. Cassie starrte sie an, dieses zarte, engelhafte Wesen mit funkelnden Augen und nahezu gebleckten Zähnen. Sie wirkte, als könne sie keiner Fliege etwas zuleide tun, und brannte dennoch darauf, Unheil anzurichten. Cassie blinzelte. Sie blickte um sich auf die anderen, die jubelten angesichts der Szene, die sich auf der Tribüne vor ihnen abspielte. Dort begann die Frau damit, auf die Brust des Mannes zu schreiben. Er stand nackt und regungslos da. Cassie wandte sich ab. »Ich muss hier weg«, keuchte sie und bahnte sich einen Weg zurück. Überall stieß sie gegen Körper. Cassie mühte sich ab, wich Ellbogen, Schultern und Fäusten aus und rang nach Luft. Endlich fand sie eine Lücke in der Menge. Sie erreichte das hintere, menschenleere Ende des Spielfelds und preschte los. Die Sonne schien heiß, brannte auf ihren Nacken und ihre Beine herab. Der Lärm des Hive-Mobs hinter ihr ebbte endlich so weit ab, dass sie den Kopf freibekam und wieder klar denken konnte. Sie verfiel in einen langsameren Laufschritt, dann in einen Trott. Hellbrauner Staub wirbelte unter ihren Füßen auf, flirrte um sie herum und nahm ihr die Sicht. Jeder Moment der Klarheit, den Cassie eben noch gehabt hatte, jede Sekunde, in der sie sich nicht vom Rest der Menschheit isoliert gefühlt hatte, hatte sich in Luft aufgelöst. Puff! Hinter ihr schickte der Mann sich an, den Tag nackt in der Öffentlichkeit zu verbringen, wo alle Welt seine Schande sehen konnte. Man würde ihn filmen und den Stream live im Internet übertragen, die Leute würden Kommentare abgeben, ihn auslachen und den Link teilen. Seine Frau würde noch mehr gedemütigt werden. Und...