Roman
E-Book, Deutsch, 298 Seiten
ISBN: 978-3-8353-4609-3
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Bobby ist in New York regelmäßig zu Gast - oder sollte man besser sagen: gefangen? - im 'Haus von Anita' und lässt sich dort zusammen mit drei weiteren Männern von den Gebieterinnen des Hauses zur sexuellen Befriedigung quälen und misshandeln. Was auf der Oberfläche wie ein pornographischer S/M-Roman wirkt, ist auf einer anderen Ebene die provokante Darstellung der Nazigräuel.
Ruth Klüger hat in der detailgenauen Darstellung der Lager die Gefahr einer 'Pornographie des Todes' gesehen. Wie ein auf die Spitze getriebener Beweis ihrer provokanten These liest sich dieser Text, an dem Boris Lurie mehr als 40 Jahre arbeitete. Auch er war ein Überlebender der Shoah und er war Mitbegründer der NO!art-Bewegung, die sich vor allem gegen die Pop Art und eine selbstgefällige Konsumgesellschaft wendet.
Die industrielle Zerstörung der Körper in den Lagern wird hier bis zur Unerträglichkeit mit ihrer kulturindustriellen Vernutzung durch Konsum, Kommerz und Pornographie verschränkt. Lurie verarbeitet in diesem Buch nicht nur seine Erfahrung der KZs, sondern fragt auch mit schockierender Eindringlichkeit nach der Bedeutung der Kunst nach der Shoah. Eine Lektüre, die erlitten und nicht genossen werden will.
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1 Ein modernes erzieherisches Sklaveninstitut der Avantgarde
Im durchschnittlichen fortschrittlichen Institut wird gewöhnlich den Räumlichkeiten, wo die Herrinnen leben, größte Bedeutung beigelegt – wo sie ihre Mußestunden verbringen, studieren und Pläne für unsere Erziehung machen. An dem Ort, wo ich vorher angestellt war, waren Studier- und Arbeitszimmer mit einem besonders kreativen Dekor ausgestattet. Anders im Haus von Anita, wo aus einem – sicherlich schlüssigen – Grunde alle ausstatterische Kreativität reichlich dort eingesetzt wird, wo sie am wenigsten hingehört, nämlich in den Dienerschaftsquartieren. Das übrige Apartment ist schlicht und streng, eingerichtet im Zen-Stil der Leere, lediglich räumliche Beziehungen, ein Nicht-Stil, der (seinen Vertretern zufolge) sowohl alles wie gar nichts umfaßt, eine simultane Ewigkeit. Dienerquartiere waren gewöhnlich an den unauffälligsten Orten untergebracht, unter zugigen ungeheizten Dachfirsten, als Nebenräume der Küchen oder – in Instituten auf dem Lande – jenseits von Innenhöfen in für sich gelegenen kleinen Gebäuden. Errichtet auf extrem billige Weise, was Isolierung und Heizung betraf, ausgestattet lediglich mit nackten Zementböden und -wänden, waren diese trotzdem immer vom Tageslicht gut beleuchtet, das durch große Fenster fiel. Das machte die Räume im Winter eiskalt, hatte aber den Vorteil, die Stromrechnungen niedrig zu halten und außerdem die Dienerschaft an das Auf- und Untergehen ihres Arbeitstages zu erinnern. So waren Dienerschaftsquartiere seit unvordenklichen Zeiten angelegt; diese Tradition setzt sich im modernen kulturerzieherischen Sklaveninstitut der Avantgarde fort. Derartige moderne Bildungshäuser sind mit Sklavenbadezimmern eingerichtet, die schlichte Zementwannen enthalten. Es gibt kein heißes Wasser, und dies aus einem schlüssigen Grund: Diener werden gerne träge, wenn sie warmes Wasser zum Duschen und Baden benutzen. Nichts verhindert so gut wie das kalte Wasser, daß das Sklavenblut langsam wird, nichts ist insbesondere stimulierender im Hinblick auf ihre überaus wichtigen Dienstkörperteile. In unserer Abteilung bei Anita stehen acht Kojen in zwei Viererreihen. Diese Unterkunft hat keine Wände, die sie vom Rest des Etablissements trennen würden. Um sie vom Territorium der Herrinnen zu isolieren, sind große Schiebetüren mit Einwegglas installiert worden. Den Korridor entlang, der unseren Raum begrenzt, sind Scheinwerfer angebracht, welche, sobald sie eingeschaltet sind, das Abteil in kristallklaren Umrissen erhellen, genau wie auf einer Bühne. Diese durchdringenden Lichtquellen lassen sich mit dem Schnippen eines Schalters bewegen und auf einzelne Kojen richten. Auf einem elektrischen Bildschirm sowohl vor wie innerhalb jeder Koje blinkt der Name des Insassen, wobei ihm manchmal eine falsche Identität zugeschrieben wird, absichtlich natürlich. Farbige Lampen, die an und aus flackern, erleuchten die Leitern und die Kojen von innen, wobei ihre pulsierende Konfiguration Muster erzeugt, welche die Herrinnen mit Vorliebe beobachten. Hinter der Glaswand bilden die farbigen Lampen, die an- und ausgehen, ferner die Körper der Bediensteten, die auf und ab und zur Seite zucken, wenn sie gestochen oder gekniffen werden, und die in verschiedenen Einstellungen die Szene beleuchtenden Scheinwerfer eine wunderbare Interaktion variabler Elemente. An der Wand entlang im Korridor stehen bequeme Sessel, in deren sich darreichende Weichheit die Herrinnen sich zu jeder Tages- oder Nachtzeit (meist mitten in der Nacht) hineinplumpsen lassen können, um uns zu beobachten – allgemein, und insbesondere unsere Schlafgewohnheiten. Wir müssen ständig achtsam sein, was unser Benehmen betrifft, weil man uns jederzeit zusehen kann. Das Dienerschaftsquartier scheint oberflächlich gesehen schlicht und einfach – eine Fortsetzung des minimalistischen Stils bei den Herrinnen (Anitas Schlafzimmer einmal ausgenommen), wie er bei den Neoaristokraten New Yorks so beliebt ist. Doch tatsächlich ist das Design unseres Abteils extrem komplex, während es einfach wirkt – eine solche Anmutung von Einfachheit ist ja das Markenzeichen aller Kunst. Beispielsweise ist die Koje eines jeden Dieners aus anderem Material, so wurden etwa bei der untersten Koje Ziegelsteine verwendet, mit Formica beschichtet, während die oberste aus dehnbarem Plastik besteht, das mit den Vibrationen des Raumes schwingt und sich biegt. Glücklicherweise bleibt diese Koje meist unbelegt. Einige der Sprossen der Kojenleitern sind mit Fell bezogen, während in anderen von unten eingeführte Nadeln stecken. Ein Mechanismus ist in den Kojen installiert: nagelartige Stäbe, die durch die Matratze des Dieners dringen und ihn während seines Schlafes sanft anstoßen. Eine weiche, faustförmige Vorrichtung kann den Schläfer jederzeit unerwartet schlagen. Alle Kojen sind zur Glaswand hin geneigt, um die Beobachtung zu erleichtern. Es erfordert eine gewisse Geschicklichkeit, in ihnen zu schlafen, denn ein Sklave könnte leicht hinabrollen, was inkorrekt wäre, und aus der Koje fallen. Doch recht bald wird es einem zur zweiten Natur, sich vor derartigen Vorfällen zu hüten – und mittlerweile kann ich mir nicht einmal mehr vorstellen, wie jemand auf einem gewöhnlichen horizontal ebenen Bett schlafen kann. Es muß furchtbar unbequem sein. Richtige Schlafgewohnheiten sind bei der Ausbildung eines Sklaven von besonderer Wichtigkeit. Der Sklave darf nicht auf dem Bauch schlafen, noch darf er sich von den gläsernen Sichttüren wegdrehen. Der Diener muß, selbst wenn er schläft, stets eine Haltung einnehmen, in der man ihn leicht beobachten kann. Es wurde uns erläutert, daß diese Regel in unserem eigenen Interesse sei – denn Privatheit im Schlaf, ein innerer Rückzugsbereich, steht der Erziehung des Sklaven entgegen: Dies führt zu individuellem Träumen und Nachsinnen und damit zum Rückzug aus der Kontrolle seines Herrn. Ein Sklave muß so schlafen, daß die Hände an den Seiten des Leibes gerade anliegen, was der Position eines grüßenden Mannes entspricht, oder aber er muß knien, während er schläft – es gibt keine anderen Positionen. Er muß nackt schlafen, damit das Eigentum der Herrschaft angemessen belüftet wird. Er erhält zwei Decken, doch er muß die Geschlechtsteile unbedeckt lassen, so daß er eine Decke über Brust und Bauch legt, die andere über die Beine, damit zwischen den Decken Genitalien und After sichtbar bleiben. Aufzeichnungen über die Schlafrhythmen der Bediensteten, insbesondere die Häufigkeit nächtlicher Erektionen, werden routinemäßig von den Herrinnen angelegt. Sie geben die Grundlage für die Beurteilung des Sklaven ab, zusammen mit den in Dienst oder Erziehung erreichten Leistungen oder deren Fehlen; all dies beeinflußt seine Behandlung. Seiner Beurteilung entsprechend wird er befördert oder degradiert oder kann sogar entlassen werden – ein Schicksal, das viel schlimmer ist als körperliche Eliminierung. Beispielsweise könnte das Erwachen morgens ohne angemessene Erektion – was als ganz schlimmer Fehler gilt – zu einer solchen Verstoßung in die äußere freie Welt führen. Am Fuße der untersten Koje befindet sich ein großer Spind mit drei gleich umfangreichen Sektionen für unsere Habe. Der Grund für einen einzigen Spind für uns drei liegt, wie man uns sagt, nicht im Wunsch nach Sparsamkeit noch in dem Versuch, Streitigkeiten und Reibereien unter den Bediensteten herbeizuführen, sondern es geht darum, ein Gefühl kameradschaftlicher Gemeinsamkeit zu fördern und die Bedeutung zu verringern, die ein Bediensteter dem Privatbesitz beilegt. Eine derartige Anordnung gibt den Bediensteten die unvermeidliche Möglichkeit, einander zu kontrollieren, was Ordnung und Sauberkeit angeht. Sie verschafft uns auch Einblicke in die Aktivitäten unserer Kameraden. Doch frage ich mich, weshalb die Herrinnen nicht eine ähnliche Anordnung für ihren eigenen Besitz getroffen haben, der auf individualistische Weise verwahrt wird. Man könnte dann die Frage stellen, wer in dieser Hinsicht weiter fortgeschritten ist, die Bediensteten oder die Herrschaft. Aber ich bin sicher, daß in unserem schönen Garten alles zum Nutzen aller eingerichtet und vorbereitet ist. Um eine vollkommene Harmonie zu erzeugen, bedarf es genau wie in der Musik unterschiedlicher Behandlungen. Die musikalische Begleitung sowohl für unseren Schlaf wie für die Stunden unseres Wachens erreicht unsere Ohren durch ein Lautsprechersystem; abwechselnd laut und unhörbar leise besteht sie aus Versionen historischer Melodien – etwa Marschlieder der radikalen amerikanischen Gewerkschaftsbewegung oder des Spanischen Bürgerkriegs sowie die einstmals populäre Internationale, allesamt im zeitgenössischen Acid-Rock-Stil. Diese subtile Kombination, die ein selbstwidersprüchliches Unisono bietet, lehnt sich an die elaborierten Arrangements der avantgardistischen Orte des Kultus in New York an: Diskotheken, Kunstgalerien und Museen. Viel später kannte mein Entzücken keine Grenzen, als ich im Fernsehen Discovirtuosen sah, die ihre komplizierten Schritte zum Klang von »No pasarán«, »Wir sind die Moorsoldaten« oder wiederum der Internationale zeigten. Dies diente mir als Erinnerung daran, daß unsere Institution in allen kulturellen und intellektuellen...