Luithlen | Wir müssen reden | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Luithlen Wir müssen reden

Roman
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-641-21720-4
Verlag: DVA
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-641-21720-4
Verlag: DVA
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Über die Angst vor dem Scheitern - und das Wagnis, neue Wege zu gehen

Feline, die Alleskönnerin, die immer lächelnd ihr Leben fest im Griff hat. Aber genügt sie wirklich – als Lehrerin, als Mutter, als Frau? Tatsächlich hält Feline, die noch keine dreißig ist, nur mit Mühe die schöne Fassade aufrecht. Bis eines Abends ihr Mann gesteht, dass er sich in eine andere verliebt hat. Sie flüchtet für ein paar Sommerwochen in die schwäbische Provinz. Dort lernt sie Silver kennen, einen Mann, der sich frei gemacht hat von den Erwartungen an ihn. Langsam beginnt Feline ihre eigenen Träume zu leben …

Mit eindringlicher Lakonie erzählt Sibylle Luithlen von einer sensiblen jungen Frau, die fremd im eigenen Leben ist. Ein feinnerviger Roman über die Zerrissenheit einer Generation, die sich mit den eigenen Ansprüchen überfordert.
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Ihr habt euch noch nicht in die Listen eingetragen, sagt eine der Kindergärtnerinnen, während Youna die Sandalen abstreift, Tschüss, Mama! ruft und gleich im Garten verschwindet. Essen süß, Essen herzhaft, Spiele. Am Samstag ist Kindergartenfest. Feline trägt einen Kuchen ein, einen Salat, eine Stunde Aufsicht beim Dosenwerfen. Als sie vorhin aufgestanden ist, benommen und mutlos nach einer in Fitzel von Schlaf zerrissenen Nacht, hörte sie Lars im Bad pfeifen, wie früher; jemand, der einen Tag voller Möglichkeiten beginnt. Feline kochte Kaffee, toastete Brot, während die Mühle in ihrem Kopf sich zu Lars’ Melodien weiter und weiter drehte, die immer gleichen Gedanken zu schwarzem Staub mahlte; Staub, der die Sicht verdunkelte und sich auf Gegenstände und Lebewesen gleichermaßen legte. Vom Zaun aus winkt sie Youna noch einmal zu, die mit Leander in einem Eimer Matsche anrührt, dann radelt Feline los, den Computer auf dem Rücken. Sie wird sich auf der Terrasse eines wenig besuchten Cafés niederlassen, ihren Computer aufklappen, das Dokument mit dem provisorischen Titel F. im Sommer öffnen, in dem ein sechzehnjähriges Mädchen in Gesellschaft mehrerer unerträglicher Erwachsener einen Urlaub in der Provence verbringt. Seit Feline die Tür zur Schule hinter sich geschlossen hat, versucht sie zu schreiben; Personen und Handlungen aus dem Wust ihrer Gedanken zu isolieren, zu ordnen und in den Computer zu tippen. Sie wird nicht an das gestrige Gespräch mit Lars denken, nicht an eine Geografiestudentin namens Loles, nicht daran, wo Lars sich genau jetzt und jetzt und jetzt aufhält und mit wem. F. in ihrem provenzalischen Haus wird fast verrückt, dort wird Feline gebraucht. Der Himmel wölbt sich vielversprechend über den Baumkronen, die Enten schwimmen träge durch das brackige Wasser des Kanals. Solange sie fährt, kann sie sich noch die Geschichte der letzten Nacht zu Ende erzählen, die des Aufbruchs von F. K., die an einem glühend heißen Vormittag in einem unscheinbaren Schulgebäude aus den Siebzigerjahren unter den Augen der Klasse 8a und denen von Frau Doktor Steffens ihren Anfang nahm und bisher noch zu keinem Ende gekommen ist. Ein Aufbruch in die Ratlosigkeit, in zaghafte Versuche und das große Nichts. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, war es noch dunkel, dabei war Hochsommer. Ihr Herzschlag donnerte gegen ihre Rippen, ließ den ganzen Raum pulsieren, in ihrem Kopf explodierten tausend Gedanken auf einmal. Etwas rollte auf sie zu, groß und dunkel, türmte und türmte sich. Dort, neben ihr, lag Lars. Er atmete ruhig. Vielleicht würde sie gleich sterben, dachte Feline; einfach ertrinken, in ihrem Bett. Steh auf, sagte da jemand zu ihr. Eine stimmlose Stimme, wie früher die von Egon, wenn sie als Kind hinter dem Schuppen auf ihn gewartet hatte, eine Stimme aus Gedanken. Sie steht auf, zieht sich an, trinkt ein Glas Wasser, tut alles, was man ihr sagt. Als wäre es diese Stimme, die sie jetzt retten könnte. In der Küche steht noch die unausgepackte Schwimmbadtasche. Feline hinterlässt einen Zettel auf dem Tisch: Bin spazieren. Falls Lars aufwacht. Dann geht sie. Ihre Füße tragen sie zwischen den schlafenden Häusern entlang, am Park vorbei, am Universitätsgebäude, durch die Unterführung Richtung Innenstadt. Die Luft ist kühl und diesig, die Laternen haben Höfe, ein Schwarz-Weiß-Film, in dem eine Frau vor etwas wegläuft. Sie atmet flach, als wäre die Luft vergiftet. Ein Taxi fährt vorbei, später ein Fahrrad. Sie geht weiter, konzentriert sich auf ihre Schritte, so regelmäßig, als würden sie von einem Uhrwerk gesteuert. Links rechts links rechts links. Und so weiter. Weiter. Immer so weiter, als würde alles nur durch ihre Schritte in diesem prekären Gleichgewicht gehalten, die Straßen, die Häuser, die vor einem Café angeketteten Tische, die Blumentröge, die alte Frau mit dem Hund, warum schläft sie nicht? Alles würde zerfallen, bliebe Feline nur einen Moment stehen, aber das tut sie nicht. Sie läuft. Rechts links rechts links. Ihr Vater hat Uhren gesammelt, früher. Er hat manchmal die Metallplatte hinten mit einem winzigen Schraubenzieher abgehoben und ihr das Uhrwerk gezeigt, dieses Wunder aus glänzenden, ineinandergreifenden Rädchen. Er hat sich für die Genauigkeit begeistert – auf die Minute genau, und das jeden Tag –, er hat ihr Mechanismen erklärt, und sie hat ihm zugehört, sich davontragen lassen von seiner Begeisterung, seiner warmen Stimme, ihrem geteilten Entzücken. Wenn er sie dann von seinen Knien geschoben und gesagt hat, jetzt ist aber Bettgehzeit, ist die Welt auf einmal zurück auf die Größe ihres Wohnzimmers geschrumpft, und gleich darauf hatte sie alles vergessen, all die Mechanismen. Aber sie hat sich gemerkt, dass Schweizer Uhrwerke zum Schönsten gehören, was ihr Vater kennt, und dass sie allein durch die Zuverlässigkeit ihrer Bewegungen Wunder vollbringen. Die Uhr am Rudolfplatz zeigt halb fünf. Ihr Blick streift die Platanen auf dem großen Boulevard, reglose Wächter einer unbekannten Ordnung; die erleuchteten bunten Schaufenster wirken verlassen. Sie folgt dem Rhythmus ihrer Schritte, biegt in eine kleinere Straße ein, um eine Ecke, in eine andere Straße. Die Stadt ist still um diese Zeit. Dann ist sie schon am Dom, läuft an der schwarz aufragenden Fassade vorbei bis zur Brücke, und dort, über dem Fluss und im Schutz der großen Kathedrale, kann sie endlich stehen bleiben. Sie atmet in Stößen. Das Geländer ist kalt. Der Fluss wälzt schwarze Fluten unter ihr entlang, die Kämme der Wellen werfen die Lichter am Ufer zurück. Sie ist gleichzeitig müde und wach; so müde, dass sie fürchtet, sie könnte nicht weitergehen, und so wach, als könnte sie nie mehr schlafen. Sie erinnert sich nicht mehr an den Rückweg. Sie weiß nur, dass sie so lange auf der Brücke gestanden hat, bis es hell war. Irgendwie ist sie wohl zurückgelaufen. Sie hat sich wieder ins Bett gelegt und ist das ganze Wochenende nicht mehr aufgestanden. Lars hat Youna zu seiner Mutter gebracht, weil Feline mal eine Pause brauchte, das hörte sie ihn am Telefon erklären: Feline braucht mal eine Pause. Als er wiederkam, lief er ratlos in der Wohnung umher, blieb auf einem seiner Wege in der Schlafzimmertür stehen und sagte: Bei allen geht mal eine Stunde daneben. Später: Das nächste Mal läuft es sicher besser. Er berichtete von katastrophalen Referendariatserfahrungen, die dann doch nur Vorstufen zu glücklichen Lehrerkarrieren waren und von denen auf einmal alle ihm erzählten, nun, wo Feline nicht zu sprechen war. Aber das war es nicht. In ihr breitete sich ein Verdacht aus wie ein Gift, das nach und nach ihre Glieder lähmte. Sie gab ihm keinen Namen, lag nur da und bewegte sich nicht, als könnte sie noch hoffen, nicht gefunden zu werden. Ihr Vater hatte mal gesagt: Manchmal habe ich Angst, dass einer von euch ist wie Egon. Da war sie vielleicht fünf. Sie verstand nicht, was das bedeutete, alles, was sie wusste, war, dass Egon ihr Onkel gewesen wäre, wenn er noch gelebt hätte; aber von ihm gab es nicht mehr als das Foto auf dem Schreibtisch des Vaters und ein Grab, das niemand besuchte. Sie nahm die Hand ihres Vaters, sie war fest und warm. Wir sind nicht wie Egon, sagte sie, ganz sicher nicht. Später, als ihr Vater seine Tage damit zubrachte, stundenlang reglos auf dem Sofa zu sitzen und in den Garten zu starren, sagte er es noch mal. Fast gemurmelt, als wäre es verboten. Mittlerweile wusste sie, dass Egon krank war, sein Geist, nicht sein Körper, hatte die Mutter ihnen erklärt, und als er das nicht mehr ausgehalten hat, ist er auf eine der Rheinbrücken gestiegen und hinuntergesprungen. Sie saßen auf ihrem Schoß, sie und Stella, jede auf einem Bein, die Mutter hatte die Arme um sie gelegt. Konnte er denn nicht schwimmen?, fragte Stella. Feline stellte sich den Egon von dem Foto vor, der ein bisschen aussah wie ihr Vater, nur in jünger, obwohl er eigentlich älter war, aber nun hatte ihr Vater ihn überholt. So als wäre sie irgendwann älter als Stella, weil es Stella nur noch auf einem Foto gäbe, und Fotos können nicht altern. Er ging in Königsmanier die Stufen zu dieser Brücke hoch, entschlossen und einsam. Doch, mein Schatz. Aber er hatte auch Gift genommen. Das war es ja. Später, als der Vater bei seiner neuen Frau wohnte, stand das Foto wieder auf seinem Schreibtisch. Wenn sie am Wochenende mit Stella zu Besuch bei ihm war, sie in der fremden Wohnung herumgingen und versuchten, so zu tun, als wären sie zu Hause, nahm sie es manchmal zur Hand und betrachtete es: Egons helle Augen, die schwungvolle Strähne, die ihm in die Stirn fiel, er sah nicht in die Kamera, er lächelte auch nicht. Seine düsteren Stimmungen waren legendär, sie waren wie endlose stürmische Nächte im Herbst, aber wenn er glücklich war, kam es einem so vor, als würde endlich für immer die Sonne aufgehen. Sie würde Lars gerne von alldem erzählen. Von der neuen Frau, die lächelnd neben dem Auto stand, wenn der Vater sie und Stella am Wochenende abholte, dem mechanischen Winken der Mutter, die einmal, als Feline ihre Jacke vergessen hatte und der Vater noch mal zurückfahren musste, schluchzend auf dem Sofa gelegen hatte, als wäre sie das Kind und ihre Eltern wären für immer fortgegangen. Dass einer von euch so ist wie er, sagte der Vater. Vielleicht ist die Stunde über den Schimmelreiter nur ein erstes Zeichen. Als Lars zum Sport ging, kaum dass sie von ihrem frühmorgendlichen Marsch zurückgekehrt war, holte Feline den Computer ins Bett, suchte Beschreibungen verschiedener Krankheiten und las sie sich voller Panik durch. Sie klickte sich durch Foren von Borderlinern, machte einen Online-Selbsttest,...


Luithlen, Sibylle
Sibylle Luithlen, 1972 in Bonn geboren, hat Germanistik und Romanistik studiert und lehrt Deutsch als Fremdsprache in Brüssel. Sie arbeitet auch journalistisch, schreibt für das Radio und Online-Magazine und hat ein Kinderbuch und eine Novelle, „Ischai“ (2011), veröffentlicht. „Wir müssen reden“ ist ihr Romandebüt.



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