Die Autobiografie der Olympiasiegerin
Buch, Deutsch, 272 Seiten, Format (B × H): 137 mm x 211 mm, Gewicht: 370 g
ISBN: 978-3-98588-016-4
Verlag: Edel Sports
Autoren/Hrsg.
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Ich schaute Kira an, als ob mich der Wind gar nicht stören würde. «Wir sind auf dieser Seite und schlagen auf», mehr sagte ich nicht. Innerlich dachte ich natürlich: «Sch…, die ersten sieben Punkte im Olympiafinale und wir sind auf der falschen Seite.» Dieser Moment blieb auch bei Morph im Gedächtnis, wie er mir später erzählte. Er machte sich große Sorgen, als er den Wind bemerkte: «Shit, shit, shit» fuhr es ihm durch den Kopf. Beschwörend murmelte er mehrmals den Satz: «Bewegt eure Beine. Macht Beinarbeit, bewegt eure Beine», als ob er seine Gedanken zu uns transportieren könnte. Im Sand strengt die Beinarbeit auch unter normalen Bedingungen sehr an. Wegen des Windes mussten wir noch mehr arbeiten, um uns im letzten Moment noch an die vom Wind geänderte Flugkurve anzupassen. Ich schlug mit einem Topspin-Aufschlag auf. Ich hatte mir keine Gedanken darüber gemacht, dass wir diese Variante nicht oft geübt hatten. Doch der Wind wehte so heftig, dass ich wusste, dagegen konnte ich anprügeln. Vielleicht hatte ich das Urvertrauen in diesen Aufschlag schon 2007 mit Sara in Espinho gewonnen. Damals lagen wir gegen ein favorisiertes brasilianisches Team 15:20 zurück, als ich meine Topspin-Aufschläge auspackte. Wir drehten das Spiel zum Sieg und erreichten das erste Mal in unserer Karriere ein Finale. Mit diesem Turnier begann unsere Erfolgsserie.Den ersten Aufschlag hatte ich noch direkt auf Barbara gespielt. Beim zweiten rechnete ich mir aus, dass der Ball direkt auf die Linie kommen müsste, wenn ich einen Schritt zur Seite ging. Ich probierte es aus, denn es war besser, jetzt Risiko einzugehen und das Verhalten des Windes zu erspüren, als den Mut zu verlieren. Ich fühlte unendliche Erleichterung, als die ersten Punkte gut liefen. Wir konnten mit einem 3:4-Rückstand wechseln. Das war unter diesen Bedingungen fast optimal und das Vertrauen wuchs. Kira merkte, dass sie sich auch bei diesem Wind auf meine Zuspiele verlassen konnte. Nicht alle konnte ich perfekt platzieren, aber unter den Umständen gingen sie noch als brauchbar durch. Ich spürte, wie ich meinen Kopf immer besser unter Kontrolle bekam, die Geduld fand, mich in das Finale hineinzuarbeiten. Kira schien nicht nervös, im Gegensatz zu den Spielen bis zum Finale. Sie machte schon beim Aufwärmen einen ruhigen Eindruck, zeigte sich absolut fokussiert, was mir sehr viel Sicherheit gab (wissend, dass ich am Schwimmen war). Für sie war der Moment gekommen, an dem es nur in Richtung Sieg ging. Sie stand bei ihren ersten Olympischen Spielen im Finale, hatte mehr erreicht, als viele von ihr erwartet hatten. Jetzt spielte sie an meiner Seite, als ob sie schon viele Male um Gold gekämpft hätte. Selbst nach Fehlern reagierte sie völlig entspannt. Kira half mir enorm. Riesenrespekt – auch heute noch.Nach dem ersten Seitenwechsel spürte ich, dass meine Routinen funktionierten. In der technischen Auszeit redete ich auf sie ein, dass wir Ruhe bewahren mussten, mutig anlaufen und hart schlagen sollten. Wir hatten uns vorgenommen, viel über Agatha zu spielen, denn Barbara hatte eine fantastische Spielübersicht, zudem beherrschte sie sehr viele Varianten in ihren Schlägen. Allerdings bemerkten wir, dass Barbara ihre Qualität nicht ausspielen konnte, weil die Zuspiele unter dem Wind litten. So zeigte ich an, die Taktik anzupassen. Offensichtlich agierten die Brasilianerinnen anders als sonst. Ihre Mienen schienen versteinert. Ich versuchte, den Ausdruck zu interpretieren. Verbissenheit glaubte ich zu erkennen. Ihren Bewegungen fehlte das Spielerische. Ich fühlte, dass wir authentischer unser Spiel durchzogen. Beim Stand von 13:13 packte Kira ihren „Monsterblock" aus. 17:13. Die in leuchtendem Gelb und Regenwald-Grün gekleideten Fans wurden merklich stiller. Den ersten von drei Satzbällen verschenkten wir noch. Dann gelang mir ein gefühlvoller Ball diagonal ins linke Halbfeld der Gegnerinnen. Satz eins entschieden wir 21:18 für uns.Im zweiten Satz erreichten wir, was uns noch im ersten Durchgang gefehlt hatte: Die letzte Konsequenz. Wir waren so sicher in unserem Zuspiel, während die Brasilianerinnen angesichts der drohenden Niederlage ihre Genauigkeit verloren. Ich schaffte es, von Punkt zu Punkt zu denken. Den Spielstand nahm ich erst gegen Ende wahr, als wir bereits eine 18:12-Führung erspielt hatten.Es war unfassbar. Das ganze Finale über war ich so konzentriert gewesen, dass ich gar nicht an den Sieg gedacht hatte, sondern mich nur auf meine Bewegungen und die aktuellen Spielsituation fokussiert hatte. Mir schoss es plötzlich durch den Kopf: «F***, f***, f***! Wir können es schaffen!» Obwohl ich versucht hatte, nicht auf die Tafel zu schauen, hatte ich dennoch die Zahl 20 wahrgenommen: 1. Matchball. Den vergaben wir noch. Dann der zweite. Barbara würde auf mich aufschlagen. Das war mir klar. «Bleib bei deinen Routinen, bleib bei deinen Routinen…», redete ich mir ein. Würde ich nur ein wenig meine Konzentration verlieren, hätte das Auswirkungen auf meine Bewegung. Dazu kam der böige Wind, der es erschwerte, den Ball in den Sand zu drücken. Der Aufschlag flog an mir vorbei, ins Aus. «Das ist jetzt nicht ihr Ernst», dachte ich.Um 00.42 brasilianischer Zeit waren wir Olympiasiegerinnen. Kira ging auf die Knie, schrie so laut sie konnte: «Jaaa!»Die nächsten Momente waren unglaublich, unwirklich, unvergesslich. Ich hörte mich schreien, sah Kira an, die mich genauso ungläubig anschaute. Dann fielen wir uns in die Arme. Ein unbeschreibliches Gefühl von Freude erfüllte mich. Gleichzeitig empfand ich Staunen, dass das hier wirklich passiert war. Wir hatten unseren Traum verwirklicht. Wir waren Olympiasiegerinnen. Der Arzt und die Physiotherapeuten vom Deutschen Volleyball-Verband umarmten wir als erste, denn sie waren die einzigen, die mit uns auf den Platz kommen durften. Einer von beiden drückte uns eine Fahne in die Hand. Wir rannten entfesselt zu unseren etwa zwei Dutzend Anhängern, die extra aus Deutschland gekommen waren. Darunter war auch Vale, mein absolut bester Freund, der die vergangenen sechs Jahre nicht nur Mitbewohner, sondern auch Seelentröster und Aushilfsphysiotherapeut gewesen war, dann andere Freunde und viele Fans. Das Foto, das in diesem Moment entstand, auf dem ich sie mit großen Augen anschaute und die Gruppe uns zujubelte, hängt bei mir zuhause. Für mich blieb dieser Moment nicht nur mein Highlight der Spiele, sondern ein unvergesslicher Moment in meinem Leben.Wir sollten uns beeilen. In den Katakomben zogen wir uns so schnell es ging um. Erst später bemerkten wir, dass wir nicht das richtige Podiums-Outfit anhatten, doch weil wir beide die falsche Hose eingepackt hatten, hat es, glaube ich, niemand bemerkt. Auf dem Weg zum Siegerpodest lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. Das war vielleicht das erste Mal, dass ich realisierte: «Ich bekomme eine Goldmedaille, für mich wird die Hymne gespielt.” Tränen liefen mir übers Gesicht, als die Musik das Stadion erfüllte. Vor meinen Augen lief ein Film im Schnelldurchlauf ab: In zahllosen Bildern tauchten die Menschen auf, die mich unterstützt hatten, die mir den Weg zur Medaille ermöglicht hatten. Auf dem Podest stand Kerri, mein großes Vorbild, neben mir, denn sie hatte ihre vierte olympische Medaille gewonnen, dieses Mal in Bronze. Wie sie sich über meine Goldmedaille freute, zeigte mir noch einmal, dass sie nicht nur als Spielerin, sondern auch als Mensch zu den größten Athletinnen unseres Jahrzehnts gehört. Um mich abzulenken und ein Ventil für all meine Aufregung zu finden, fragte ich sie, was ich noch alles machen müsste. Auch Agatha und Barbara zeigten Größe. Als die Zeremonie vorbei war, hielten wir vier uns an den Händen und sprangen gemeinsam vom Podest runter.