Kriminalroman
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-96041-759-0
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Etwas Unfassbares ist geschehen: Der Bamberger Reiter wurde gestohlen. Und das ausgerechnet kurz vor dem Besuch des Papstes! Als wenig später ein Kunsthändler ermordet wird, der ein geheimnisvolles mittelalterliches Buch besaß und an einer spektakulären These über die Identität des Reiters forschte, brodelt die Gerüchteküche. Und Kommissar Horst Müller steht vor der unglaublichen Frage: Ist der Heilige Gral in Bamberg verborgen?
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
ZWEI Am nächsten Morgen herrschte in unserem Büro im dritten Stock der Polizeiinspektion Alarmstufe Rot. Diesen Eindruck jedenfalls erweckten die hektisch blinkenden Warnanzeigen am Kaffeevollautomaten sowie meine Kollegin Paulina, die mindestens ebenso hektisch in dem Bedienungshandbuch blätterte, das ungefähr so dick war wie das Nürnberger Telefonbuch. Falls sich noch jemand an Telefonbücher erinnert. »›Wenn das Ausrufezeichen rot leuchtet, ist die Abtropfschale und der Kaffeesatzbehälter nicht richtig eingesetzt.‹« »Sind«, korrigierte ich, ohne dass sie reagierte. »Nicht ›ist‹.« »›Wenn die Warnanzeige langsam blinkt, ist die Brühgruppe nicht richtig eingesetzt, oder der Heißwasserauslauf ist verstopft.‹« Sie blätterte auf die nächste Seite. »›Wenn die Wasseranzeige blinkt und die Espressotaste dauerhaft leuchtet, befindet sich Luft im System.‹ Aber hier leuchtet und blinkt alles gleichzeitig!« Ich rührte in meinem Filterkaffee und blickte über meine randlose Brille. »Schon mal das AEG-Prinzip probiert?« »AEG?« Paulina schaute mich fragend an. »Sie sind doch Rowenta-Fan. Und das hier ist eine Jura-Maschine.« »Ausschalten. Einschalten. Geht wieder. AEG.« »Tolle Idee, Horst. Ich hab schon dreimal den Stecker gezogen. Und ich brauche endlich einen Latte macchiato.« »Vielleicht hat Ihre Maschine eine Laktoseintoleranz?« Sosehr ich meiner jungen Kollegin diese Errungenschaft der Technik gönnte, so sehr spürte ich auch immer eine gewisse Genugtuung, wenn das Hightechgerät, das fast so viel gekostet hatte wie ein Gebrauchtwagen und mit der Technik eines tragbaren Atomkraftwerks ausgestattet war, vor lauter Firlefanz seine Kernkompetenzen vernachlässigte und mehr Ärger als Nutzen brachte. Meine Rowenta hatte mich seit über zehn Jahren nicht im Stich gelassen, auch wenn sie nur ganz gewöhnlichen Filterkaffee produzierte. »Sehr witzig!« Paulina wirkte leicht gereizt. »Sie wissen genau, dass ich keine Kuhmilch trinke. Aber das scheint hier nicht das Problem zu sein. Und bitte kommen Sie nicht wieder auf die Idee, mir in gnädiger Güte etwas von Ihrer –« »Sagen Sie nicht wieder Plörre zu meinem Kaffee!« »Mir egal, wie Sie diese flüssige Substanz in Ihrer Gewerkschaftstasse nennen. Moment mal. Ich glaub, ich hab’s!« Sie hatte noch mal umgeblättert. »Hier steht: ›Problem: Die Warnanzeige, die Wasseranzeige, die Kaffeesatzbehälteranzeige und die Kaffeeanzeige blinken gleichzeitig …‹« »Ja?« »›Ursache: Die Maschine ist defekt.‹« »Oh!« »›Lösung: Sie benötigen den Kundendienst.‹« Ich schmunzelte, vermied es aber, mir jede Schadenfreude anmerken zu lassen. Paulina pfefferte das Handbuch verärgert in eine Schublade, wodurch das Sideboard, auf dem die Maschine stand, so sehr wackelte, dass die Packung Sojamilch umfiel und der dickflüssige Inhalt sich über der neuesten Ausgabe der Fachzeitschrift ›Die Kriminalpolizei‹ ausbreitete. »Ist nicht schlimm«, rief ich beschwichtigend und sprang auf, um mit einem Spültuch zu verhindern, dass die Milch auf den Fußboden tropfte. »Ich hab das Heft schon gelesen.« »Danke, Horst«, sagte Paulina und holte aus dem Kühlschrank eine Flasche Johannisbeersaft. »Kaffee wird total überbewertet.« Der Satz klang aus ihrem Mund so überzeugend, als hätte sie gesagt: »Schminken macht hässlich.« »Was haben Sie eigentlich mit Ihren Augenbrauen angestellt?«, wollte ich wissen. Ihre Miene hellte sich auf. »Ach, Sie bemerken das? Das hätte ich nicht gedacht. Microblading. Sieht gut aus, oder?« »Ja, schon. Etwas unnatürlich vielleicht. Aber interessant.« »Danke auch, Horst. Sie sollten sich übrigens mal die Augenbrauen zupfen lassen, wenn ich das sagen darf. Oder haben Sie es inzwischen aufgegeben, in Ihrem Leben noch mal eine Frau kennenzulernen?« »Lassen wir das lieber«, erwiderte ich. Seit meiner Scheidung vor weit über zehn Jahren pflegte ich das Klischee, dass ein Polizeibeamter ein einsamer Wolf und mit seinem Beruf verheiratet sein musste. Inzwischen war ich deutlich über fünfzig. Die Midlife-Crisis hatte ich schon lange hinter mir gelassen, und so was wie ein »zweiter Frühling« war nicht wirklich in Sicht, dafür hatte ich es mir im Spätsommer des Lebens bequem gemacht, bevor er fließend in den Frühherbst übergegangen war. Aber ich war nicht unzufrieden mit meinem Leben. Ich hatte zwei gut geratene erwachsene Kinder, einen spannenden Beruf im Kommissariat 1 der Bamberger Kripo und eine liebe, zwanzig Jahre jüngere Kollegin, mit der es nie langweilig wurde. Und jenseits der Arbeit holte ich mir meine Alltagsfreude bei einem Gläschen Eierlikör, einer »Derrick«-Folge auf DVD oder einer der zahlreichen Schlagersendungen im Fernsehen. Eine Frau konnte ich mir in dieser Konstellation nicht mehr vorstellen. »Haben Sie die Mail von Dr. Goos schon gesehen?«, fragte Paulina. »Der Polizeidirektor lädt zu einer Besprechung zur Erarbeitung eines Sicherheitskonzeptes für einen möglichen Papstbesuch. Da gibt es wohl Pläne, dass der Papst im Juli zum Heinrichsfest nach Bamberg kommt. Das hat uns ja gerade noch gefehlt.« »Was meinen Sie? Die Konferenz oder den Besuch des Heiligen Vaters?« »Ach, beides. Warum kümmert sich nicht das BKA um so was?« Paulina hatte eine Allergie gegen alles Katholische, obwohl sie von ihrer polnischstämmigen, frommen Mutter auf den Namen Johanna Paulina getauft worden war. Hätte sie eine kleine Schwester, wäre deren Name vermutlich Johanna Paulina die Zweite. »Was anderes, Paulina. Weil Sie doch so gut googeln können …« Sie verdrehte die Augen. »Ist ganz einfach: Browser aufrufen, www, dann g, o, o, g, l, e, Punkt, d, e schreiben und ein Wort in den Suchschlitz eintippen. Und schon öffnen sich die Tore zu den endlosen Weiten des World Wide Web.« »Jaja, aber Sie finden immer schneller das Richtige. Ich brauche ein paar Infos über den Bamberger Reiter. Und zwar nicht nur das, was in jedem Reiseführer steht.« »Den Bamberger Reiter? Werden Sie jetzt zum Hobbykunsthistoriker? Oder machen Sie eine Fortbildung als Fremdenführer?« Kurz überlegte ich, ob ich Paulina über die Hintergründe meines Interesses wirklich täuschen konnte. Dann kam ich aber zu der Überzeugung, dass ich sie einweihen musste. Und so berichtete ich ihr davon, was ich am Vorabend mit eigenen Augen im Dom gesehen oder, besser gesagt, nicht gesehen hatte. »Das gibt’s doch nicht!«, war ihre einzige Reaktion. »Und der Dompfarrer will die Sache wirklich geheim halten?« Ich erläuterte ihr den Zusammenhang mit der Visite des Kardinals zur Vorbereitung des Papstbesuches. »Krasse Sache«, sagte Paulina und dachte kurz nach. »Könnte es eine Rolle spielen, welche Person auf dem Pferd dargestellt ist?« »Kaum«, antwortete ich. »Denn diese Frage ist, soweit ich weiß, nicht mit letzter Sicherheit geklärt. Allgemein wird vermutet, dass es sich um den heiligen König Stephan von Ungarn handelt. Ich weiß nicht, ob es noch weitere Thesen gibt.« »Moment«, sagte Paulina und tippte auf ihrer PC-Tastatur. Kurz darauf hatte sie Erkenntnisse gewonnen. »Auf Wikipedia wird auch zuerst der heilige Stephan genannt, der Schwager von Kaiser Heinrich. Weil die Figur in einer Kirche aufgestellt und keine Grabfigur ist, müsse es ein Heiliger sein. Und wegen der Krone und des Baldachins müsse es ein König sein. Einer Legende zufolge galoppierte Stephan bei einem Bamberg-Besuch noch als Heide auf einem Pferd in den Dom. Zugleich könne das Pferd aber auch ein Symbol für die Ungarn sein, die man traditionell mit dem Reitervolk der Hunnen gleichsetzte.« »Und gibt es noch andere Vermutungen?«, fragte ich. »Ja. Es werden noch Philipp von Schwaben, ein namenloser Staufer oder ein Symbol für den Messias, der als König der Könige am Ende der Zeiten wiederkommt, genannt. Das hilft uns alles nicht weiter, oder?« »Wissen Sie, was weiterhelfen würde? Ich lade Sie beim Bäcker Kerling gegenüber zu einem koffeinhaltigen Heißgetränk Ihrer Wahl ein. Damit Sie wieder Farbe ins Gesicht bekommen. Dieses Elend kann ich nicht länger anschauen.« »Gute Idee, Horst. Vielleicht kann sich Wolfgang aus der EDV-Abteilung ja mal unseren –« »Ihren!« »Meinen Kaffeeautomaten anschauen.« »Ich glaube auch, dass da ein Fachmann ranmuss. Vielleicht ist die Festplatte voll oder die Soundkarte kaputt, oder ein Brennstab muss ausgetauscht werden.« »Haha.« In meiner Sakkotasche entdeckte ich den inzwischen etwas zerknitterten Brief meines Vermieters. Ich öffnete ihn und sah sofort, dass es sich nicht um eine Mieterhöhung handelte. In dieser Sekunde klopfte es an der Tür, die im selben Moment geöffnet wurde. Kommissariatsleiterin Veronica Stadel betrat, wie immer umgeben von einer zarten Duftwolke, die ich diesmal irgendwo im Bereich zwischen Orange und Vanille verortet hätte, den Raum mit den Worten: »Guten Morgen, es gibt Arbeit.« »Der Papstbesuch? Wissen wir schon«, sagte ich eine Spur zu gelangweilt, um nicht unhöflich zu klingen. »Der kann warten. Es gibt einen Leichenfund am Kranen. Die Kollegen vom Kriminaldauerdienst sind schon vor Ort.« »Wieder einer, der beim Junggesellenabschied volltrunken in die Regnitz gesprungen ist?« Ein solcher Fall wäre rasch abgearbeitet und zu den Akten gelegt. Für Badeunfälle war es allerdings noch etwas zu früh im Jahr. »Nein, es handelt sich um Tod durch...