Roman
E-Book, Deutsch, 229 Seiten
ISBN: 978-3-293-30930-2
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Gruppe bleibt so lange intakt, bis der in ihrer Vorstellung möglicherweise gottgesandte Tiger sie bedroht und für ihre Sünden bestraft. In dieser Situation zerbricht die Fassade der Unschuld des charismatischen Anführers der Gruppe, eines hochgeachteten Schamanen, der seine kriminelle Vergangenheit plötzlich selbst offenbart – eine Allegorie auf den Machtverlust Surkanos nach dem Staatsstreich von 1695.
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Wak Katok griff nach seinem Vorderlader. Gewöhnlich nahm er das Gewehr selten mit, wenn er Harz sammelte und benutzte es nur, um Hirsche oder Schweine zu jagen. Doch diesmal, sagte er, habe er die Waffe dabei, um die Jungen das Waidwerk zu lehren: Seit zwei Monaten fraß ein Rudel Hirsche die Felder Wak Hitams leer, jenem Hof inmitten des Waldes, auf dem sie die Nächte verbrachten. Wak Katoks Vorderlader stammte aus der Zeit vor dem Krieg gegen die Holländer, funktionierte jedoch noch einwandfrei. Feine Gravuren schmückten den Lauf. Besonders Buyung hatte es die Flinte angetan, immer wieder bat er Wak Katok unterwegs, ihn das Gewehr schultern zu lassen: Solch eine Waffe war eine Zierde für jeden Mann. Schon ein Kris, ein Belati oder ein Parang, ein Dolch oder ein Langmesser an der Hüfte waren unverzichtbare Attribute männlicher Kleidung. Hängte man sich jedoch außerdem noch eine Flinte über die Schulter, dann waren dem Stolz über das eigene fesche Aussehen keine Grenzen mehr gesetzt. Wak Katok gab Buyung gerne seine Flinte, denn er wusste, wie viel diesem daran lag. Außerdem pflegte und reinigte der Junge das Gewehr immer aufs ordentlichste. Jedes Mal, wenn Buyung die Büchse lieh, ging sie sauberer und blanker wieder in Wak Katoks Hände zurück als sie sie verlassen hatte. Immer wieder polierte Buyung dann den Lauf, scheuerte mit einem Läppchen über das Metall, bis es dunkelblau schimmerte und im Sonnenschein funkelte. Genauso verfuhr er mit dem über die Jahre schwarz gewordenen Kolben: So lange rieb Buyung, bis das edle Mahagoni-Holz so weich glänzte wie Samt. Nicht ein Körnchen Staub, nicht ein Restchen Pulver vom Laden ließ er zurück. Schon seit geraumer Zeit wünschte sich Buyung ein eigenes Gewehr. Seit zwei Jahren sparte er jeden Pfennig für eine Büchse. Doch wollte er keinen Vorderlader wie den von Wak Katok kaufen, für die Jagd taugte der nicht viel: Erst musste das Pulver sorgfältig festgedrückt werden, bevor die Kugel eingeführt werden konnte – eine aufwendige Prozedur, die viel Zeit in Anspruch nahm, ehe man den ersten Schuss abfeuern konnte. Dabei zählte bei der Jagd jede Sekunde: Nicht selten geschah es, dass das Wild bereits wieder im Dickicht verschwunden war, bevor man zum Schuss kam. Außerdem verlangte der Vorderlader dem Schützen ein Höchstmaß an Präzision beim Anlegen und Feuern ab – Kimme, Korn, Schuss, getroffen – eine Gelegenheit zu einem zweiten Schuss gab es nicht. Stolz erfüllte Buyung, wenn er daran dachte, wie geschickt er bereits mit dem Gewehr umzugehen verstand. Nur selten verfehlte er sein Ziel: Einmal hatte er ein Wildschwein im Visier gehabt und genau zwischen die Ohren gezielt – exakt dort war die Kugel eingedrungen, so dass dem Opfer der Schädel zerschmettert wurde. Wie hatte das Lob Wak Katoks Buyungs Brust schwellen lassen, als er ein andermal mit einer Kugel das Auge eines Wildschweins durchbohrte, welches sich gerade auf einen der Jäger aus dem Dorf stürzen wollte. Er selber hätte es nicht besser machen können, waren damals Wak Katoks Worte gewesen, und: An Buyungs Schießkunst sei nichts mehr zu verbessern. Um wie viel stolzer fühlte sich Buyung hernach noch, als sein Ruf, ein geschickter Jäger zu sein, im Dorf die Runde machte. Das Lob Wak Katoks über Buyungs Fähigkeiten bei der Jagd war für den Jungen so etwas wie eine offizielle Bestätigung. Denn schenkte man den Worten der älteren Leute im Dorf Glauben, so gab es auf der Jagd niemanden, der Wak Katok übertraf. Es hieß, er sei in der Lage, alle Spuren im Wald zu lesen – ein Blick auf den Boden, ein Schnuppern an der Fährte, und er wusste, um welches Wild es sich handelte. Von klein auf hatte Buyung nichts anderes über Wak Katok vernommen als Lob und Ehrfurcht über dessen Größe und Stärke, und so schätzte er sich glücklich, als man ihm erlaubte, sich der Gruppe des großen Jägers anzuschließen und erste Unterweisungen in der Kunst des Pencak und der schwarzen Magie zu empfangen. Den Geschichten über Wak Katok zufolge konnte er seine Gegner im Kampf töten, ohne sie überhaupt zu berühren, geschweige denn ein Messer zu verwenden: Es genügte offenbar, wenn er mit einer Bewegung der Hände oder Füße gegen den Kopf, die Brust oder den Magen des Widersachers zielte, dann brach dieser zusammen, lag augenblicklich ausgestreckt auf der Erde, tot wie ein Stück Holz. Als Schamane war Wak Katok über die Grenzen seines eigenen Dorfes hinaus bekannt. Er konnte ganz gewöhnliche Krankheiten heilen, besaß aber auch die Kraft, Männer und Frauen von einem Voodoo-Zauber zu befreien; er konnte tödliche Magenkrämpfe herbeiführen; er war in der Lage, Amulette herzustellen, die übermenschliche Kräfte verliehen, die die giftigsten Schlangen zu harmlosen Würmern machten und jedem noch so wilden Tier seine Bestialität raubten; er verstand es, die Menschen in einen Zustand der Schwermut, Angst und Trauer fallen zu lassen, und auch der Kunst, Mann und Frau Schönheit und Anmut zu verleihen, war er kundig. Begab sich jemand auf eine lange und gefährliche Reise, dann wandte er sich vorher an Wak Katok, um sich durch dessen Formeln und Talismane Schutz zu sichern. Hatte einer einen Kampf auszutragen, so suchte er Wak Katok auf, denn dieser wusste, wie man die Waffen des Gegners nutzlos machte. Es schien nichts zu geben, dessen Wak Katok nicht fähig gewesen wäre – ja, man munkelte sogar, er besitze die Fähigkeit, unsichtbar zu werden. Buyung und seine Freunde träumten davon, dass Wak Katok sie eines Tages in die allmächtige Kunst der Magie einführte. Woran Buyung besonders viel lag, war, an die magische Formel zu gelangen, mit deren Hilfe man sich eine Frau willens machte. Schon seit langer Zeit liebte er Zaitun, die Tochter des Moscheedieners Wak Hamdani. Dass Zaitun ihm nur selten etwas Beachtung schenkte, bekümmerte Buyung. Manchmal lächelte sie ihm zu, wenn sich beide auf dem Weg zur Badestelle trafen, warf ihm vielsagende Blicke zu. Doch dann war sie andererseits wieder kühl und abweisend und tat, als plaudere sie angeregt mit ihren Freundinnen, wenn sie sah, dass Buyung sich ihr von weitem näherte. In diesen Augenblicken glaubte Buyung, er sei nur Luft für Zaitun. Bislang jedoch hatte sich Wak Katok geweigert, die ersehnte Formel preiszugeben. »Du bist noch zu jung«, waren seine Worte, und »dein Blut ist noch zu heiß«. »Nicht, dass dir plötzlich alle Frauen im Dorf verfallen. Diese Kunst ist jenem Manne vorbehalten, der von einer Frau erniedrigt wurde, oder dem, der eine Frau aufrichtig liebt und sich bereits entschlossen hat, sie zu heiraten. Nicht ist sie denen zugedacht, die die Ehefrau eines anderen Mannes an sich zu bringen suchen.« Gerne hätten Buyung und seine Freunde auch die Fähigkeit erlernt, sich unsichtbar zu machen. Von Zeit zu Zeit träumte Buyung davon, was er täte, wenn er sich unbemerkt von allen bewegen könnte: Zuerst würde er sich heimlich Zaitun nähern, wenn sie schlief, oder wenn sie gerade badete – sein Herz schlug heftig bei dem Gedanken. Ach, wie leicht könnte er reich werden, verfügte er über diese Kunst. Die Väter Buyungs und Zaituns waren Freunde, unbeschwert waren die Kinder miteinander groß geworden. Buyung lächelte bei dem Gedanken, wie er Zaitun manchmal so geärgert hatte, dass sie zu weinen anfing. Doch die kurzen Jahre der Kindheit gingen schnell vorüber; plötzlich, Buyung mochte gerade zwölf sein, hatte Zaitun begonnen, ihn zu meiden. Aus ihr war eine junge Frau geworden; heute, wo sie beide erwachsen waren, konnten sie einander nicht mehr so fröhlich und unbeschwert gegenübertreten wie früher als Kinder. Buyung wusste nicht, was Zaitun ihm gegenüber fühlte. Manchmal war sie freundlich und aufgeschlossen. Wenn ihre Mutter ihr dann auftrug, Buyungs Familie einen Korb mit Früchten zu bringen, und wenn Buyung es war, der die Gabe in Empfang nahm, dann konnte es vorkommen, dass sie ihn süß anlächelte und ihn Kakak – älterer Bruder – nannte, obgleich er doch nur ein Jahr älter war als sie. In diesen Augenblicken schien es Buyung, als wolle seine Brust bersten vor Glück: Ihm war, als sei er im siebten Himmel, als schwebe er, die Welt um ihn verschwand und machte einem himmlischen Orchester Platz. Doch gab es auch Tage, an denen Zaitun Buyung keines Blickes würdigte, und wenn er sich dann näherte, während Zaitun mit seiner Mutter plauderte, dann tat sie, als gäbe es ihn nicht. Wie, wenn nicht mit Hilfe der magischen Formeln Wak Katoks konnte man das Herz einer so stolzen jungen Frau erobern? Alles hätte Buyung gegeben, um in den Besitz der Zauberformeln Wak Katoks zu kommen. Es war kein Geheimnis für Buyung, dass seine Eltern Zaitun gerne als Schwiegertochter in ihr Haus aufgenommen hätten. Eines nachmittags, als die Eltern sich allein wähnten, hatte Buyung gelauscht: Zaitun hatte soeben einen Korb Gemüse gebracht; nachdem sie fort war, hatte der Vater angehoben: »Sie ist schon eine richtige Frau geworden. Wie wohlerzogen sie wirkt.« »Ja«, hatte die Mutter erwidert, »und zu Hause geht sie ihrer Mutter bei allem zur Hand. Sie ist eine geschickte Näherin, betet eifrig und kann lesen, sogar die Schule hat sie besucht.« »Buyung ist jetzt bald ein Mann mit seinen neunzehn, vor keiner Arbeit scheut er sich.« »Ach, ich weiß nicht, unser Buyung …«, hatte die Mutter zögernd abgewinkt. Sie hielt ihren Sohn eher noch für ein kleines Kind als für einen erwachsenen Mann. Buyung selber dagegen fühlte sich durchaus...