E-Book, Deutsch, Band 1, 704 Seiten
Reihe: Die Wilden Trilogie
Louatah Die Wilden - Eine französische Hochzeit
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-641-20768-7
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, Band 1, 704 Seiten
Reihe: Die Wilden Trilogie
ISBN: 978-3-641-20768-7
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Politik und Intrige - die große französische Familiensaga
Am Vorabend der französischen Präsidentschaftswahlen erschüttert ein Attentat die Nation. Opfer ist Idder Chaouch, der erste Kandidat arabischer Herkunft, ein charismatischer und weltgewandter Politiker, der die Menschen mitreißt und der politischen Landschaft neues Leben einhaucht. Ins Fadenkreuz der Ermittlungen gerät die weitverzweigte Familie Nerrouche, algerische Einwanderer in dritter Generation, die voller Stolz auf ihren Kandidaten sind und ihn mit aller Kraft unterstützen. Doch innerhalb von 24 Stunden wendet sich das Blatt und die Familie gerät unter Verdacht, die Sicherheit des Staates zu gefährden. Das Schicksal der Familie wird zum Sinnbild einer zerrissenen Nation.
Sabri Louatah, 1983 in Saint-Étienne als Sohn eines Holzfällers und einer Hausfrau geboren, lebt heute mit seiner Frau in den USA. Die Unruhen in der Pariser Banlieu Anfang der 2000er Jahre inspirierten ihn zu seinem Roman-Zyklus »Die Wilden«, der in Frankreich von Publikum und Kritik gefeiert wurde. Zurzeit arbeitet Louatah an der TV-Adaption der Serie.
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KAPITEL 1 Krim 1. Man würde sich bald entscheiden müssen, wer »in Ruhe« im Festsaal bleiben dürfte und wer zum Rathaus mitkommen müsste. Die Familie der Braut war zu groß, sie würden unmöglich alle auf einmal ins Rathaus passen. Vor allem war der Bürgermeister nicht gerade für seine Geduld in derartigen Situationen bekannt. Sein Vorgänger (ein parteiloser Linker) hatte Hochzeiten am Samstag einfach ganz verboten, um den ruheliebenden Anwohnern des Stadtzentrums das Hupkonzert, den Raï und den Autokorso mit den weiß-grünen Fähnchen zu ersparen. Der neue Bürgermeister hatte dieses Verbot zwar aufgehoben, drohte aber ohne zu zögern, wann immer ein aufgekratzter Familienklan ein öffentliches Gebäude auf den Kopf stellte, es wieder in Kraft zu setzen. Zu denen, die keine Lust mehr hatten, sich auch nur einen Zentimeter wegzubewegen, gehörte Tante Zoulikha. Sie saß auf ihrer Couscoussière und fächelte sich mit der aktuellen Ausgabe von 20 minutes Luft zu. Die Titelseite mit dem Schlagwort »JAHRHUNDERTWAHL!« hatte der alte Ferhat abgerissen. Er trug eine irrwitzige graugrüne Uschanka, eine Fellmütze, die ihm den Schweiß über die Ohren trieb. Einer seiner jungen Neffen hatte versucht, ihn zur Vernunft zu bringen, doch sobald jemand das Thema ansprach, wies Ferhat ihn mit einem kurzen Runzeln des Kinns ab und murmelte dann in einem leisen, fast professoralen Tonfall, den man sonst von ihm nicht kannte, seine Analyse der letzten Umfragen vor sich hin. An diesem Nachmittag waren alle ein bisschen komisch drauf. Angeblich ging die Zahl der Gäste seitens der Brautfamilie in die Hunderte. Außerdem war es für einen 5. Mai zu heiß. Das Ergebnis des ersten Wahlgangs hatte das Land in einen Dampfkochtopf verwandelt, und es schien, als wäre Cousin Raouf die einzige Schraube, die ihn noch am Explodieren hinderte. Er besprühte sich mit Wasser aus einem Zerstäuber und tippte dabei auf seinem iPhone herum. Seine Großmutter warf ihm einen ratlosen Blick zu – sie verstand diese jungen Menschen einfach nicht, deren Leben sich nur mehr über zwischengeschaltete Bildschirme abspielte. Raouf folgte dem Twitterfeed einer Frau, die ganz vernarrt in Umfragen war, und dem Liveticker einer politischen Webseite. Er zündete sich eine Zigarette nach der anderen an und kommentierte die Wahlprognosen, die ein Kollege – ebenfalls Geschäftsführer eines Halal-Restaurants in London – auf seiner Facebook-Seite postete. Raouf galt wegen seiner Nadelstreifenanzüge für tausend Euro als besonders elegant. Heute trug er allerdings – und zwar schon seit zwei Tagen – ein bedrucktes T-Shirt, auf dem das lächelnde Gesicht des sozialistischen Präsidentschaftskandidaten prangte: ein schlecht geschnittenes tailliertes Shirt, das unter seinem Sakko Falten schlug. Er hatte die Ärmel hochgekrempelt, sodass seine sehnigen Unterarme zu sehen waren. Es wirkte fast, als pochte der Puls der ganzen Nation in seinen Adern. Die Großmutter, die ihn dafür getadelt hatte, nicht von Anfang an einen Anzug zu tragen, hatte inzwischen weder Kraft noch Lust, wem auch immer noch irgendetwas vorzuwerfen. Stumm thronte sie in Raoufs blitzblankem Audi. Er hatte die Klimaanlage angeschaltet und lauschte mit halbem Ohr den kabylischen Liedern, die aus den festtäglich geschmückten Autos drangen. Die Großmutter streckte eines ihrer dünnen Beine aus dem Fahrzeug und ließ den Blick über den Parkplatz schweifen, auf dem die Sprösslinge ihres Klans in kleinen Grüppchen herumstanden. Mit ihren ungefähr fünfundachtzig Jahren (niemand kannte ihr genaues Geburtsdatum) genoss die Großmutter einen besonderen Status innerhalb der Familie: Alle wurden von ihr terrorisiert. Sie war schon seit einer Ewigkeit verwitwet, und niemand hatte je erlebt, dass sie Mitleid zeigte, Milde walten ließ oder auch nur ein freundliches Wort zu irgendeinem Menschen sagte, der die Pubertät bereits hinter sich hatte. Wie ein fleischgewordener Vorwurf stand sie zwischen ihren schnatternden Töchtern und wurde von ihrer außergewöhnlichen Zähigkeit angetrieben. Diese schien zugleich von einem Pakt mit dem Teufel herzurühren und aus der Gewissheit gespeist zu sein, dass sie sie noch alle überleben würde. Während die versammelte Gesellschaft wartete, fingen die Jungs, die sich um die Musik kümmern sollten, mit dem Soundcheck im Festsaal an, und die Großmutter zog sich wieder in die wattige Stille des Audi zurück. »Warum seid ihr denn schon hier?«, wandte der DJ sich an Raouf. »Wir brauchten einen Treffpunkt, bevor wir zum Rathaus fahren.« Er machte sich nicht mal die Mühe, die Kopfhörer abzunehmen. »Wir sind gleich wieder weg, wir warten nur noch auf die anderen Gäste.« Der DJ schien immer noch skeptisch zu sein. Ihm hing ein Stück Salat zwischen den Zähnen – zwischen sehr großen Zähnen –, und er roch nach Zwiebel. »Ihr seid die Familie des Bräutigams, oder? Also, ihr müsstet mal die Musik in den Autos abstellen, wenn’s euch nichts ausmacht. Die Nachbarn sollen vor heute Abend nicht zu sehr gestört werden. Und die Frau da mit der Couscoussière …« »Was ist mit ihr?« »Ich dachte, ihr hättet ’nen Partyservice engagiert?« Raouf wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er hob verlegen die Hände und wandte sich zu seiner Tante Zoulikha um. Sie saß wie eine ehrwürdige bauchige Flasche aus rosigem Fleisch stoisch und makellos da und atmete unter der Kastanie, deren knospende Zweige sie kein bisschen vor der prallen Sonne schützten, angestrengt ein und wieder aus. Drei weitere Tanten, die im spärlichen Schatten einer Pappel ungeduldig von einem Fuß auf den anderen traten, unterhielten sich über ihre jüngste Schwester, das Sorgenkind Rachida, während Dounia, die Mutter des Bräutigams, zwischen den einzelnen Grüppchen hin- und herlief und langsam unruhig wurde, weil niemand Lust zu haben schien, die Fahrt zum Rathaus anzutreten. »Dann wird ja nur ihre Verwandtschaft da sein«, jammerte sie. Ihr Schleier flatterte, als sie mit ihrem Handy herumfuchtelte. »Wallah, das ist wirklich eine Schande, das macht man nicht … und Fouad«, rief sie – ihr zweitältester Sohn, der eigens aus Paris anreisen wollte, um Trauzeuge seines Bruders zu sein –, »Fouad, den erreiche ich nicht mal telefonisch!« Onkel Bouzid nahm die Mütze ab, um sich über den kahlen Schädel zu wischen. Er hatte eine eigenartige Glatze, irgendwie ungleichmäßig und sehnig. Sie war von vorn bis hinten von einer Vene durchzogen, die so deutlich hervortrat, dass jeder stets befürchtete, ihm stünde ein Schlaganfall bevor. »Jetzt beruhige dich mal, Dounia. Die Zeremonie im Rathaus beginnt doch erst in einer Stunde, und Slim ist noch nicht mal hier. Dafür immerhin alle anderen, oder nicht? Du hast dir so viele Sorgen gemacht – und jetzt sind wir eine ganze Stunde zu früh hier. Also, ganz ruhig. Ruhig!«, brüllte er fast, bevor er mit einem schiefen Lächeln hinzufügte: »Glaubst du wirklich, dass sie die Mutter des Bräutigams nicht reinlassen? Das Rathaus ist doch keine Diskothek. ›Ah, tut mir leid, geschlossene Gesellschaft.‹ Ich bitte dich! Jetzt rede mal ein bisschen mit Rab’. Die Arme steht da drüben ganz allein.« Mit dem Handy am Ohr knetete Rabia ihre Löckchen und kicherte von Zeit zu Zeit wie ein kleines Mädchen. Sie war jung Mutter geworden. Sie selbst war vierzig, ihr ältester Sohn gerade achtzehn Jahre alt geworden. Sie beendete ihr Telefonat, um ihn anzurufen, aber er ging nicht ran. Also gesellte sie sich zum Grüppchen ihrer Schwager, die sich über Technik, die Präsidentschaftswahlen und die Sportergebnisse unterhielten und dabei gelegentlich ihre Frauen anschnauzten, die ihrerseits mit ihren überdrehten Rasselbanden alle Hände voll zu tun hatten. 2. Und dann war da ganz hinten, hinter der Turnhalle, in der die Leute morgen wählen würden, weit weg vom Raï und all dem Geplapper Krim. Krim mit dem schläfrigen Blick, Krim mit den dichten, trotzigen, feindseligen Augenbrauen, Krim mit den merkwürdig platten Wangenknochen, mit denen er – das sagten alle – einem kleinen Chinesen ähnelte. Er lehnte an einer Plakatwand, auf der nur noch zwei Wahlplakate klebten, und rieb ein silbernes Feuerzeug am fluoreszierenden Streifen seiner Trainingshose, als seine Mutter Rabia auf ihn zueilte, um ihn zu fragen, warum er nicht an sein Handy ging. Vor allem wollte sie aber wissen, ob er zum Rathaus mitkommen würde. Er steckte das Feuerzeug in die Tasche und zuckte mit den Schultern, vermied es aber, seine Mutter direkt anzusehen. »Weiß nicht.« »Wie, du weißt nicht? Was drückst du dich überhaupt schon wieder hier herum? Hast du wieder Hasch geraucht? Lass mich mal deine Augen sehen … Du hast mir versprochen, damit aufzuhören. Was soll ich jetzt davon halten? Dass man dir gar nicht trauen kann … Hast du Sarkozy das Hitlerbärtchen aufgemalt? Schau mich an! Warst du’s?« »Nein, nein, war ich nicht.« »Na gut. Du kommst schon mit, oder?« »Ach, keine Ahnung«, maulte Krim. »Ich hab dir doch gerade gesagt, dass ich’s noch nicht weiß.« »Also wirklich, wenn du’s jetzt nicht weißt, dann kommst du sicher nicht mit. Willst du deinen Cousin im Rathaus gar nicht unterstützen? Denk nicht lang darüber nach! Sag schon, ist es dir wirklich so egal, ob du ihn unterstützt?« »Was willst du denn von mir?«, fauchte Krim sie an. »›Unterstützt du deinen Cousin?‹ Als wären wir im Krieg! Warum machst du mich hier überhaupt so an?« Rabia...