E-Book, Deutsch, Band 13, 256 Seiten
Reihe: Thriller, Krimi und Mystery
Lossau Nordseeblut
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-95719-315-5
Verlag: Blitz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nordsee-Thriller
E-Book, Deutsch, Band 13, 256 Seiten
Reihe: Thriller, Krimi und Mystery
ISBN: 978-3-95719-315-5
Verlag: Blitz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Auf der Suche nach Inspiration stellt der einsame Norder Schriftsteller Albert Rothmann vier Jungen nach und lässt ein fiktives Ungeheuer auf sie los. Schon bald erkennt er, dass hinter der Fassade einer romantisch verklärten Idylle der Horror lauert, der sich in seiner monströsen Erfindung manifestiert. Das Ungeheuer verselbstständigt sich ...
Jens Lossau lotet in seinem neuen Thriller die Abgründe einer scheinheiligen Welt aus. Mit psychologischem Feingespür zieht er den Leser in einen Mahlstrom des Grauens, genährt von dunklen Geheimnissen und schrecklichen Erinnerungen.
Jens Lossau, geboren 1974, lebt in Alzey, veröffentlicht seit Mitte der Neunziger Kurzgeschichten und Romane in unterschiedlichen Genres, zuletzt die Thriller DIE SCHLAFWANDLER, DUNKLE NORDSEE und NORDSEEBLUT.
Autoren/Hrsg.
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Victor fragte sich, wie lange es noch dauern würde, bis sich der Alte endlich dazu bequemte, die verdammten Schlüssel herunterzuwerfen. Er wollte sich drinnen nur kurz aufwärmen und abchecken, ob in seinem Zimmer noch alles so war, wie er es in Erinnerung hatte. Einmal hatte sein Vater während eines betrunkenen Wutanfalls seine Krimskrams-Kiste gefunden und weggeworfen. Obwohl Vic daraufhin alle Mülltonnen im Viertel durchsucht hatte, war sie nicht mehr aufgetaucht. Dabei war es wichtig, eine Krimskrams-Kiste mit Sachen zu haben, und nur Tom war damals in der Lage gewesen, ihn zu trösten. Aber natürlich gab es schlimmere Dinge als das Abhandenkommen einer Krimskrams-Kiste. Vic massierte sich die blau angelaufenen Fußknöchel, holte Notizblock und Kugelschreiber aus der Jacke und begann, ein bisschen herumzukritzeln. Zeichnen ging ihm seit jeher leicht von der Hand, und es wollte ihm nicht einleuchten, dass sich manche Menschen so schwer damit taten. Herr Mengler, sein Kunstlehrer, behauptete zwar, er besäße überhaupt kein Zeichentalent (nicht nur wenig, sondern überhaupt keines), aber was zählte das schon? Bei Herrn Mengler musste man den Hintergrund eines Bildes immer vollständig ausfüllen, was Vic nie tat. Herr Mengler hielt nichts davon, wenn auf dem Papier zu viel Weiß zu sehen war. „Zweihundert Piepen“, rief er. Zweihundert Piepen! Der Alte würde einen Schock erleiden, vornüber aus dem Fenster stürzen und wie eine Porzellanfigur neben ihm auf der Steintreppe zerschellen. Zweihundert Piepen, verdammt! Damit hatte der niemals gerechnet. Heute hatte Vic mehr als zweihundert erbeutet, aber er war schlau genug, nicht das ganze Geld, das er den Leuten in der Norder Innenstadt aus der Tasche klaute, bei seinen Eltern abzuliefern, stets nur so viel, dass sie ihn in Ruhe ließen und nicht den Greifarmen des Jugendamtes übergaben. Es wäre sein Untergang gewesen, wenn er den Launen eines neurosenbehafteten Sozialarbeiters mit Locken und runder John-Lennon-Brille ausgesetzt gewesen wäre, dessen Lieblingsslogan Verständnis für die Jugend war, der aber in Wirklichkeit Jugendliche verabscheute. Vic kannte diese Typen zur Genüge, sie hatten sich in der Grundschule um ihn geschart wie Fliegen um einen Scheißhaufen. Typen, die in psychologischen Analysen feststellten, dass er aus schwierigen Verhältnissen stamme, dass er Probleme habe, feste emotionale Bindungen einzugehen, dass er Probleme habe, mit anderen zurechtzukommen, und dass er Probleme habe, überhaupt etwas Nennenswertes zu fühlen. Der Schlüssel landete neben ihm auf der Steintreppe. „Du bist tot, wenn du gelogen hast!“, brüllte der Alte. „Wäre ja noch schöner, wenn der Herr Sohn umsonst …“ Vic klinkte sich aus. Er fragte sich plötzlich, wie sein Vater mit Vornamen hieß. Es fiel ihm nicht ein. Vielleicht heißt er ja Wengry, dachte er. Wäre doch möglich. Jemand, der so beknackte Botschaften hinterlässt, kann nicht ganz dicht sein. Der muss mindestens so blöd sein wie der Alte. Vic malte dem Ungeheuer einen verschrumpelten Pimmel. „… kannst nicht für dich sorgen, dafür sind ja die Alten da …“ Tom ist ganz schön nervös geworden, als Phil mit dem Zettel angelatscht kam. Große Güte, vielleicht hat Mark ihn ja da hin gehängt. Ist aber unwahrscheinlich, so gut könnte der sich nicht ausdrücken. Und Phil? Phil könnte es wohl, aber auf solche Ideen kommt der nicht. Wer zum Teufel ist dieser Wengry? Und was will er ausgerechnet von uns? Vic lehnte sich gegen das Treppengeländer. „Ehrlich gesagt, frag ich mich manchmal, ob die damals im scheiß Krankenhaus nicht die scheiß Babys verwechselt haben.“ „Frag ich mich oft“, hörte Vic sich sagen. Er betrachtete seine Zeichnung, übergab sie dem Wind und stand auf. Sein rechter Fuß war eingeschlafen. Er betrat das rußig-rote Backsteinhaus und eilte durch den hohen Flur des Erdgeschosses, von dessen Wänden die Tapeten abblätterten. Wie immer roch es hier nach angebranntem Essen und saurer Milch (nach einsamen Wohnungen und toten Mietern, hatte Tom mal gesagt). So schnell er konnte, erklomm er die Stufen, die sich unter den Sohlen anfühlten, als wären sie mit Schwämmen ausgelegt. Oben angelangt, bog er in einen etwas sympathischeren, niedrigeren Gang ein, in dem die Schaufensterpuppen herumstanden, die Herr Ginko aus dem ersten Stock sammelte. Er erreichte eine rotzgrün gestrichene Tür, wo sein vornamenloser Vater auf ihn wartete. Aus der Wohnung hinter ihm erschallte die Titelmelodie von Eine schrecklich nette Familie. Der Alte trug nichts weiter als eine ausgeleierte, blaue Jogginghose. Mit seinem bulligen, haarigen Körper füllte er den gesamten Türrahmen aus. „Das Geld!“ Vic kramte in seiner Jackentasche und erlebte eine Schrecksekunde, als er dachte, das Geld unterwegs verloren zu haben. Aber es war noch da. Er legte es in die monströse Klaue des Alten, der ihn mit seinen Schweinsaugen anstierte. Seine Augen sind tot, wie die Augen eines Zombies. Sie sind nicht böse oder so, nicht richtig verrückt, einfach nur entsetzlich leer. Ein milchiges Häutchen überzieht sie – und das ist alles andere als normal. Sicher, es ist nicht so schlimm wie bei ihr. Möglicherweise haben die beiden ja eine Krankheit. Möglicherweise leiden sie an Zombilitis. Hoffentlich ist das nichts Ansteckendes. Vic mochte es, in Gedanken Selbstgespräche zu führen. Seine Kopfstimmen stotterten nicht. „Brauche dich morgen früh in der Bäckerei“, sagte der Alte, ohne seinen stumpfen Gesichtsausdruck zu verlieren, während er das Geld in den Bund seiner Jogginghose schob. „Sei da, sonst setzt es was.“ „Ich muss doch-doch-doch zur Schule.“ Vics Stimme wurde beim Sprechen immer leiser, das beschissene Stottern immer schlimmer. „Ich mein, ich-ich-ich bin-bin-bin sonst viel zu-zu-zu-zu-zu-zu müde, um in-in-in der-der-der-der Schule …“ Weiter kam er nicht, denn mit einem Mal quetschte sich der Alte durch den Türrahmen und packte ihn am Hals. Vic flog einen Meter über den Boden. Mit dem Hinterkopf krachte er gegen die Wand, zwei von Herrn Ginkos Schaufensterpuppen fielen um. Ein tiefes Brummen detonierte in seinen Ohren. „DAS IST JA GANZ WAS NEUES! SEIT WANN ENTSCHEIDEST DU HOSENSCHEISSER DENN, OB DU KOMMST ODER NICHT? ICH HAB’S SATT, MIR DEN GANZEN TAG LANG AUSREDEN VON LEUTEN ANHÖREN ZU MÜSSEN, DIE NICHT ARBEITEN WOLLEN! WENN ICH SAG, DU KOMMST, DANN KOMMST DU!“ Er boxte Vic in den Magen, sodass ihm die Luft mit einem Seufzen aus den Lungen stob. „DU SOLLTEST GELD HERBEISCHAFFEN! DIE FEINEN KURDAMEN MÖGEN JUNGE KNABEN! LASS MAL SEHEN, OB DU WENIGSTENS FÜR’N KURSTRICH GEEIGNET WÄRST!“ Er fingerte zwischen Vics Beinen herum. Vic kippte zur Seite und schlug so hart auf den Boden, dass ihm Blut aus der Nase lief. Seltsam lethargisch vermutete er, sich das Rückgrat gebrochen zu haben. „ODER WILLST DU IN DEN BACKOFEN?“ Der Alte ähnelte auf beunruhigende Weise immer mehr dem Ungetüm, das Vic unten auf der Treppe skizziert hatte. Er versuchte fortzukriechen, doch er konnte seine kribbelnden Beine nicht richtig bewegen. „MUSST NUR SAGEN, WENN DU GERÖSTET WERDEN WILLST!“ Das Monstrum packte Vic, schleuderte ihn in die Höhe, als besäße sein Körper kein Gewicht, und schleifte ihn zum Klokabuff am Ende des Korridors, dessen Tür zwei kopflose Schaufensterpuppen einrahmten. „WILLST NICHT IN DIE BÄCKEREI, WAS? DANN SIEH DIR DAS HIER AN!“ Vic schrie vor Schmerzen, als er mit den Lippen auf die Kloschüssel schlug. Der Alte tunkte seinen Kopf ins Wasser. Jetzt bringt er mich um. Vic versuchte einzuatmen. Es war, als schlucke er rostige Angelhaken. Jetzt passiert’s, Vicci, gleich bist du tot, ertrunken im Klo, denn du hast mal wieder die Kontrolle verloren … Vic versuchte, sich mit den Armen an der Schüssel abzustützen, rutschte ab und schlug mit der Brust auf das Porzellan. Die Sturmflut brach über ihn herein, die Welt drehte sich, nichts besaß noch klare Konturen. Von hinten traf etwas Warmes auf seinen Kopf, lief über sein Gesicht und verdünnte das Blut aus der Schläfenwunde. „EIN MANN MUSS PLATZ SCHAFFEN, WO’S GEHT!“ Das Monster schlug Vics Kopf gegen den Spülkasten, sodass die verschwommene Welt vor seinen Augen endgültig explodierte. Neben der Klobürste brach er zusammen. Der Alte verstaute seinen braunen Schrumpelpimmel in seiner Jogginghose. „SEI FROH, DASS ICH ES DICH NICHT HAB TRINKEN LASSEN! DU MÜSSTEST DANKBAR SEIN, DASS ICH DICH GEZEUGT HAB! WEIL DU DA BIST, STEHST DU IN MEINER SCHULD!“ Er torkelte gegen die Wand zurück, drehte sich um und verließ das Kabuff. „DEIN SCHWANZ IST GUT FÜR DIE FEINEN NORDER KURWEIBER! AM HERANREIFEN! KANN MAN GELD MIT MACHEN!“ Die Tür schlug ins Schloss. Vic spuckte aus, lehnte seinen Kopf, in dem ein Presslufthammer rumorte, gegen die Wand und wischte sich den Urin aus dem Gesicht. Die Wunde an seiner Schläfe pochte wie eine mit Eiter gefüllte Entzündung. Er starrte an die Decke, wo eine schwarze Spinne auf umherzischende Fliegen wartete und geduldig ihr Netz spann. „Alles in-in Ordnung da oben?“ Er schloss die Augen. „So ‘ne Scheiße, so-so-so ‘ne Scheiße …“ Er stellte sich eine in der Dunkelheit herabsinkende, weiße Möwenfeder vor, die sich im Wind um sich selbst drehte, und ganz allmählich...