E-Book, Deutsch, Band 3, 204 Seiten
Reihe: Der Preis der Hoffnung
Licht im Schatten
E-Book, Deutsch, Band 3, 204 Seiten
Reihe: Der Preis der Hoffnung
ISBN: 978-3-7578-5681-6
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erik Lorenz, geboren 1988 in Berlin, veröffentlicht als Autor und Herausgeber Bücher über faszinierende Orte und Menschen: In Reise- und Länderreportagen berichtet er von den Schönheiten und Herausforderungen, die die Welt bereithält, in Biografien und Erzählungen ergründet er das Leben und Wirken spannender Persönlichkeiten. Er studierte in den Niederlanden, in Hongkong und Großbritannien, lebte anderthalb Jahre in Australien und bereiste unter anderem Indien, China und Jordanien. 2017 gründete er das Onlinemagazin WELTWACH, wo er seitdem im dazugehörigen Podcast sowie im englischsprachigen Ableger UNFOLDING MAPS Gespräche mit prominenten Personen wie Reinhold Messner, Dr. Jane Goodall und Bear Grylls über die Themen Natur, Kultur und Wissen moderiert. Er lebt in New York City. Weitere Informationen: weltwach.de/erik-lorenz/
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ZWEI
Denises Tränen waren versiegt. Ob sie sich beruhigt hatte oder einfach nicht mehr weinen konnte, war schwer zu sagen. Schon als sie ihm die Tür geöffnet hatte, waren ihre Augen leer gewesen, so als hätten sie alle Emotionen hinausgeweint. Sie saß auf ihrer Couch, ein wenig in sich zusammengesunken, die schwarzen Haare zu einem lieblosen Knoten gebunden, und stellte Fragen, auf die es keine guten Antworten gab. „Warum musstest du ausgerechnet meinen Vater opfern? Warum nicht irgendjemand anderen?“ Sie sah ihn traurig an, bis sie die Frage im selben ausdruckslosen Ton wiederholte: „Warum nicht irgendjemand anderen?“ Mathieu war nach seinem Besuch bei Dominique in seine heimliche Wohnung zurückgekehrt, wo er Denise allerdings nicht mehr angetroffen hatte. Er hatte ein paar Stunden geschlafen und war nun, am späten Morgen, zu ihr gegangen. Er beschloss, ihre Frage ernst zu nehmen und zu beantworten, so ehrlich er konnte. „Alle anderen, von denen ich den Wohnort kenne, sind für den Widerstand zu wichtig“, sagte er. „Dein Vater ... ist nur ein ... passiver Unterstützer.“ Er hörte selbst, wie schwach diese Begründung klang. War das alles? Er versuchte nachzudenken. Er wollte ehrlich sein. Sie hatte es verdient. Aber ihm fiel kaum etwas ein. Was hatte er getan? Noch vor drei Tagen hatte seine Tat alternativlos gewirkt. Jetzt wirkte sie grausam und herzlos und willkürlich. „Ich hatte keine Zeit, einen ausgereiften Plan zu entwickeln. Ich musste sofort handeln. Ich musste irgendeinen Weg finden, in die Fabrik zu gelangen. Zu viel stand auf dem Spiel.“ Einen Moment lang schien sie in seine Antwort hineinzulauschen. Sie legte den Kopf schief und sagte nichts, doch schließlich schüttelte sie den Kopf. „Bisher habe ich alles damit gerechtfertigt, dass du Gutes tun willst“, sagte sie. „Aber wie soll ich rechtfertigen, was du meinem Vater und mir angetan hast? Du findest ja selbst kaum eine Rechtfertigung! Und wen wundert es? Du bist zu aufrichtig, um dich selbst zu belügen. Was deine Tat nur noch schlimmer macht.“ Sie presste die Zähne zusammen und atmete hörbar ein. Es kostete sie sichtlich Mühe, in dieser Situation Haltung zu bewahren. „Du hast einen Plan entwickelt, wie mein Vater festgenommen werden kann. Du kannst auch einen Plan entwickeln, wie er wieder freikommt.“ Sie fixierte ihn mit ihren braunen Augen und richtete sich ein wenig auf. „Kannst du das?“ „Ja. Aber nicht sofort.“ „Warum nicht?“ Mathieu wollte ihr noch nichts von seinem neuen Auftrag verraten. Er wollte sie jetzt nicht zusätzlich belasten. Diese Dinge mussten sachlich und in Ruhe besprochen werden. Aber er wollte sie auch nicht anlügen. Die nächsten Worte kamen ihm mühsam über die Lippen, denn er wusste, dass sie sie nicht verstehen würde. „Ich habe etwas zu tun, was noch dringender und wichtiger ist.“ „Ich bin mir nicht sicher, ob ich dich wirklich kenne“, sagte Denise leise. Ihre Augen waren wieder feucht. „Du kennst mich. Ich bin immer noch der Gleiche.“ „Vielleicht. Vielleicht nicht. Aber eines sage ich dir: Wenn du meinen Vater da nicht rausholst, wirst du mich kennenlernen.“ Sie ballte die Hand zur Faust, eine Bewegung, die schmerzhaft hilflos aussah. „Sieh mich nicht so an! Ich brauche dein Mitleid nicht. Du hast kein Recht, auf mich herabzusehen! Ich habe dir geholfen, ich habe mich dir untergeordnet, weil ich an dich geglaubt habe und an das, was du tust. Aber das ist kein Grund, mich für schwach zu halten!“ „Du bist nicht schwach.“ „Nein, das bin ich nicht. Mit einer Ausnahme: wenn mich jemand hintergeht, auf den ich mich stütze und dem ich vertraue. Dann taumle ich, ja. Aber das heißt nicht, dass ich dich brauche.“ „Ich weiß.“ Sie schwiegen eine Weile, bevor Mathieu sagte: „Ich werde gutmachen, was ich getan habe. Es hatte nichts mit dir zu tun, nur mit unserem Ziel. Es war ein großes Opfer, das ist mir bewusst. Ich erwarte nicht, dass du mir vergibst. Ich bitte dich nur, trotz allem nicht unser gemeinsames Ziel zu vergessen, das auch dein Vater unterstützt. Wir müssen weitermachen.“ Denise schwieg. Von der alten Vertrautheit zwischen ihnen war nichts mehr zu spüren. In der folgenden Stille klang die Türklingel besonders laut. Es war Serge, der mit Denise verabredet war, um neue Exemplare von L’Homme libre zu holen. Er würde sie morgen vervielfältigen und mit Bernard verteilen. „Ich habe es gehört!“, rief er aus und umarmte Mathieu. „Ihr habt es wirklich geschafft! Ich wusste es! Ich wusste, dass es klappen würde!“ Er lächelte, aber sah zugleich gequält aus. Der Verlust seiner Mutter hatte ihn schwer getroffen. Als Mathieu ihn fragte, wie es seiner Schwester und ihm gehe, erzählte er, Clara sei bei dem Onkel untergekommen, in dessen Bauunternehmen Serge arbeitete und der fortan für sie sorgen werde. Vielleicht werde auch Serge zu ihm ziehen, aber zunächst wolle er noch im Café bleiben. „Und ich muss euch etwas mitteilen“, fuhr Serge fort. „Ich hätte es schon früher tun sollen.“ Er sah Denise an. „Vor drei Tagen ...“ „Wir wissen es schon“, sagte Mathieu. „Ach, ja?“ „Ja.“ „Und ihr seid nicht ... beunruhigt? Thierry ist immer noch nicht aufgetaucht.“ „Wir kümmern uns darum.“ Serge schaute verwirrt von Mathieu zu Denise, die seinen Blick nicht erwiderte, sondern ausdruckslos an ihm vorbei zum Fenster sah. „Und wie wollt ihr euch darum kümmern?“, fragte er, wieder an Mathieu gewandt. „Lass das meine Sorge sein.“ Serge nickte. „Ich verstehe schon. Ich bin für die Flugblätter zuständig. Das war’s.“ Mathieu überging die kaum verborgene Beschwerde. Er stand auf und sagte zu Denise: „Komm bitte heute Nachmittag in den Unterschlupf. Bring Liam mit.“ Sie schaute noch immer zum Fenster. „Vermutlich nicht, um über meinen Vater zu sprechen“, flüsterte sie. Wieder kostete es Mathieu Überwindung, schonungslos ehrlich und direkt zu sein. Aber es ging nicht anders. „Nein. Noch nicht.“ „Ich werde sehen, was sich tun lässt.“ „Bitte. Wir ... haben einen neuen Auftrag. Es ist wichtig. Denk an unsere Sache.“ „Ich würde auch gern an ‚unsere Sache‘ denken“, schaltete sich Serge wieder ein. „Aber ihr lasst mich nicht.“ „Serge, nicht jetzt ...“, begann Mathieu. Er konnte nicht noch ein Problem gebrauchen. Aber Serge konnte oder wollte sich nicht bremsen. Sein Gesicht war vor Erregung rot geworden. Wie immer, wenn er starrsinnig war, hatte er den Unterkiefer vorgeschoben. „Doch, jetzt! Warum gehöre ich immer noch zu denen, die außen vor gelassen werden? Ich erfahre nichts von euren Aktionen, darf nichts von der konspirativen Wohnung wissen ... Ich bin dir treu ergeben, Mathieu! Ich habe getan, was ich konnte, um dich davon zu überzeugen. Warum vertraust du mir nicht?“ „Damit hat es nichts zu tun.“ „Ach nein? Aber für mich hat alles damit zu tun. Meine Mutter ist gestorben! Mein Zuhause ist zerstört! Ich habe nichts mehr außer unserem Netzwerk. Ich habe nichts mehr außer euch!“ Er hielt die aktuelle Ausgabe von L’Homme libre hoch. „Und wenn ihr mich nicht genug wertschätzt, um mir mehr zuzutrauen als das hier, dann habe ich gar nichts!“ Mathieus Wille wankte. Serge hatte recht. Er hatte getan, was er konnte. Er hatte immer wieder versucht, Mathieu zu beeindrucken. Er hatte sich ins Zeug gelegt und sich als zuverlässiger erwiesen, als Mathieu es erwartet hätte. Und er hatte nichts mehr außer dem Netzwerk. „Schon gut, vergiss es“, murmelte Serge. Mathieu versuchte vergeblich, Blickkontakt zu Denise aufzunehmen, dieses Mal, um ein Zeichen von ihr zu erhalten. Was dachte sie darüber? Aber sie war nicht bereit, ihm in irgendeiner Weise zu helfen, und wenn es nur darum ging, seine Entscheidung zu bestätigen. „Also gut“, sagte er. „Mein Unterschlupf liegt im Boulevard de Belfort 20. Warum kommst du heute Nachmittag nicht auch? Es gibt einiges zu besprechen.“ „Du meinst ...“ „Ja, genau. Oder hast du etwas Besseres vor?“ „Nein! Ich werde da sein!“ „Gut. Pass auf, dass dir niemand folgt.“ Hätte jemand den Weg, den Liam an diesem späten Nachmittag zurücklegte, auf einer Karte eingezeichnet, wäre ein Wirrwarr aus Linien entstanden, das einem Außenstehenden Grund gegeben hätte, an Liams geistiger Gesundheit zu zweifeln. Er radelte in der Stadt hin und her, um Kontakte zu besuchen, von denen er hoffte, sie würden ihm eine Kamera besorgen können. Seine Route richtete er nicht nach dem direktesten Weg aus, sondern nach der geschätzten Erfolgswahrscheinlichkeit und der Vertrauenswürdigkeit der Leute. Bisher hatte...