E-Book, Deutsch, Band 2, 340 Seiten
Reihe: Der Preis der Hoffnung
Flammen in Frankreich
E-Book, Deutsch, Band 2, 340 Seiten
Reihe: Der Preis der Hoffnung
ISBN: 978-3-7583-8066-2
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erik Lorenz, geboren 1988 in Berlin, veröffentlicht als Autor und Herausgeber Bücher über faszinierende Orte und Menschen: In Reise- und Länderreportagen berichtet er von den Schönheiten und Herausforderungen, die die Welt bereithält, in Biografien und Erzählungen ergründet er das Leben und Wirken spannender Persönlichkeiten. 2017 rief er den Podcast "Weltwach" ins Leben, in dem er Gespräche mit prominenten Personen wie Reinhold Messner, Dr. Jane Goodall und Bear Grylls über die Themen Natur, Kultur und Wissen führt. Er lebt in New York City.
Autoren/Hrsg.
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EINS
„Warum ist das Jahr 1859 für das Deutsche Kaiserreich ein ganz besonderes?“, fragte der Lehrer und fuchtelte mit seinem Stock. „Na?“ Es war bereits die fünfte in schneller Folge abgefeuerte Frage, und bisher hatte keiner der Schüler auch nur eine von ihnen beantworten können. „Es ist das Geburtsjahr unseres Kaisers!“ Der Lehrer deutete auf ein an der Wand hängendes Porträt, stemmte seine Hände in die Hüfte und betrachtete die rund sechzig Kinder vor ihm. „Ich lasse euch die leeren Blicke heute und morgen noch durchgehen, aber ab nächster Woche weht ein anderer Wind! Ich erwarte Gehorsam, Fleiß, Ordnung und Ehrlichkeit statt Faulheit, Laster und Lüge!“ Der Junge schluckte schwer. Aus dem Mund des Lehrers klang beinahe jedes Wort wie eine Drohung. Er war ein frühzeitig ergrauter Mann mit einem von Falten durchfurchten Gesicht, in dessen Mitte eine mächtige, mit roten Äderchen durchzogene Knollennase thronte. Der Junge wusste, dass es die Nase eines Trinkers war. Einmal hatte der Blick des Lehrers ihn gestreift, und für eine Sekunde hatte der Junge geglaubt, in ihnen ein wenig Wärme aufblitzen zu sehen. Aber das war wohl eher Hoffnung als Wirklichkeit gewesen. Die Augen waren weitergewandert, ohne bei dem Jungen zu verharren, und hatten dann weiter wütend gefunkelt. „Die Monarchie ist für das Wohlergehen der Menschen erforderlich“, sagte der Lehrer jetzt, „und insbesondere dem Sozialismus und Kommunismus vorzuziehen.“ Seine Stimme war laut und aggressiv. Einzig die große Menge an Schülern, die dicht aufgefädelt auf den harten Holzbänken saßen, vermittelte dem Jungen ein gewisses Gefühl von Sicherheit: Er konnte sich in der Menge verbergen, auch wenn er recht weit vorn saß. Er konnte den Kopf einziehen und unsichtbar sein. Und er war entschlossen, genau das so lange wie möglich zu tun. Es war sein dritter Tag an der Volksschule, und der Mann, der gerade vor der Klasse stand, war nur einer von bisher vier Lehrern, die dem Jungen Angst eingeflößt hatten. Mit ihrem Verhalten und ihren Erwartungen. Lesen, Schreiben, Rechnen sollten die Kinder möglichst bald können, sie sollten Geschichte und Religion lernen. Immer die richtigen Antworten parat haben und dabei gerade sitzen und aufmerksam sein und sich stets tugendhaft verhalten. Hohe Erwartungen kannte der Junge von daheim, aber dort wurde er mit ihnen punktuell konfrontiert, immer dann, wenn der Vater ihn anschrie und maßregelte und züchtigte. Doch es gab auch Zeiten, in denen er all dem aus dem Weg gehen konnte, in denen er frei durch die Wälder und Hügel der Eifel streifen konnte. Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass dieser Teil seiner Kindheit, der entscheidende, mit dem Schulbeginn zu Ende gegangen war. „Na?“ Es kam dem Jungen so vor, als durchflösse ihn siedend heißes Wasser. Das Blut schoss ihm in einem einzigen Schwall in den Kopf. „Na?“ Der Lehrer stand wenige Meter von ihm entfernt und betrachtete ihn mit erwartungsvoll gehobenen Brauen. „Ich ...“, murmelte der Junge. „Sprich lauter!“ „Ich ... weiß nicht ...“ „Du weißt die Antwort. Ich weiß genau, dass du sie weißt. Und wenn du sie mir nicht nennst, muss ich das als Verweigerung verstehen! Jetzt sprich!“ Die Lippen des Jungen bebten. Sein Hals war wie zugeschnürt. Tränen traten ihm in die Augen. „Ich ... habe die Frage nicht verstanden.“ „Wirst du wohl zuhören!“ Der Lehrer machte einen Schritt auf den Jungen zu, hob drohend seinen Stock und ließ ihn langsam wieder sinken. „Und gerade sitzen! Die Füße parallel nebeneinander, die Hände gefaltet auf den Tisch.“ Er kehrte zu seiner Ausgangsposition zurück und sagte an die gesamte Klasse gerichtet: „Hände falten, Schnabel halten, Kopf nicht stützen, Ohren spitzen. Merkt euch das! Hat irgendjemand die Ohren gespitzt? Wer kann meine Frage beantworten?“ Vereinzelte Hände wurden zögerlich in die Höhe gestreckt. „Du!“ Der Lehrer zeigte mit seinem Stock auf einen für sein Alter groß gewachsenen Jungen in den hinteren Reihen. „Friedrich III.?“ „Jawohl. Gut.“ Der Lehrer wandte sich um und pochte mit dem Stock an die Schiefertafel, die hinter ihm hing. „Der Kaiser ist ein lieber Mann“, stand dort. „Dieses Lied werden wir morgen lernen“, verkündete der Lehrer. „Die Stunde ist beendet.“ Die Kinder erhoben sich, packten schweigend ihre Hefte und Stahlfedern ein und verließen das Klassenzimmer. Der Junge hatte noch ganz weiche Knie. Ihm stand der Schweiß auf der Stirn. Während die anderen Kinder dem Ausgang zustrebten, um nun, nach der letzten Stunde, nach Hause zu gehen, bog er zu den Toiletten ab. Er betrat den Waschraum der Jungen, ging in eine der Kabinen und lehnte sich mit der Stirn gegen die dünne hölzerne Zwischenwand. Obwohl er versuchte, tief durchzuatmen und sich zu beruhigen, konnte er nicht verhindern, dass ihm Tränen über die Wangen kullerten. Er wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht, ließ die Hose herunter und setzte sich auf die Toilette. Da hörte er, wie die Tür zum Waschraum aufging. Der Junge setzte sich aufrecht hin und lauschte. Aus irgendeinem Grund beschlich ihn ein böses Gefühl. Genau genommen hatte das böse Gefühl ihn schon beschlichen, als er vor drei Tagen die Schule betrat. Seither war er wachsam. Die Schritte näherten sich seiner Toilettenkabine und verklangen. Der Junge lehnte sich nach vorn und drückte mit der Hand von innen an die Tür, die kein Schloss mehr hatte und nur angelehnt war. Doch sie flog nach innen auf und schleuderte seine Hand zur Seite. Der Junge schrie. Er rutschte auf der Toilette zurück bis an die Wand hinter sich. Vor ihm, halb in der Toilettenkabine, stand der kräftige Junge, der auf die letzte Frage des Lehrers die richtige Antwort gegeben hatte, ein Blondschopf mit übergroßen Ohren und großen Händen, der einen Kopf größer war als der Junge auf der Toilette. Und er grinste über das ganze Gesicht. „Volltreffer!“, sagte er, beugte sich in die Kabine, packte den Jungen am Kragen und zog ihn von der Toilette herunter und hinter sich her. Der Junge machte zwei Trippelschritte, dann stolperte er über seine Hose und fiel der Länge nach hin. Der Blondschopf lachte lauthals, und zu seinem Lachen gesellte sich das Gelächter zweier weiterer Jungen, die mit ihm in den Waschraum gekommen waren. „Hallo Kleiner“, sagte der Blondschopf, noch immer breit grinsend. „Was wollt ihr von mir?“, brachte der Junge mit Mühe hervor. „Wie war das?“, fragte der Blonde und drehte ihm das rechte Ohr zu. „Was hast du gesagt?“ „Was wollt ihr?“ „Ich ... habe die Frage nicht verstanden!“, sagte der Blondschopf gespielt weinerlich, den Tonfall imitierend, in dem der Junge den gleichen Satz vorhin zum Lehrer gesagt hatte. Und lachte wieder los. Dann befahl er: „Los, schnappt ihn euch!“ Seine beiden Begleiter packten den Jungen unter den Armen, hoben ihn hoch und folgten dem Blondschopf, der voranging und überprüfte, ob die Luft rein war. Sie trugen den wimmernden und zappelnden Jungen aus dem Waschraum hinaus und über die Flure. Er wagte nicht zu schreien. Was, wenn ihn jemand so sah, wehrlos und mit heruntergelassener Hose? Er würde für alle Zeit das Gespött der Schule sein, der Schwächling, mit dem man alles machen konnte. Sie brachten ihn durch den Haupteingang nach draußen und um das Schulgebäude herum an dessen Rückseite. Es war ein kalter, grauer Tag. Ein Nieselregen ging nieder, benetzte Pflanzen und Menschen und weichte den Boden auf. „Lasst mich los“, bettelte der Junge, aber seine Peiniger beachteten ihn nicht. „Kommt, schneller“, sagte der Blondschopf und schritt aus. „Hinter dem Schuppen liegt noch Schnee!“ Sie schafften ihn zu einem freistehenden Gebäude, in dem der Hausmeister Spaten, Schubkarren und anderes Werkzeug aufbewahrte. „Lasst mich los!“, flehte der Junge erneut, noch leiser als zuvor. „Ich habe euch doch nichts getan!“ „Gebt ihn mir“, sagte der Blondschopf, drehte dem Jungen die Hände auf den Rücken und hielt ihn fest. Dieser versuchte sich loszureißen, aber er konnte gegen den Blondschopf nichts ausrichten. „Zieht ihn aus“, sagte der Blondschopf, und als seine Begleiter zögerten, fügte er hinzu: „Na los, mir wird kalt!“ Die anderen beiden zogen dem Jungen die Hose aus und den Pullover über den Kopf. Mittlerweile weinte der Kleine bitterlich. Er jammerte und flehte und hustete im Wechsel, aber es half nichts. „So, du weinerlicher Wicht“, sagte der Blondschopf, „jetzt wollen wir dich mal ein bisschen abhärten.“ Und er stieß den Jungen von sich, sodass er in den Schnee stürzte. Die drei bewarfen ihn mit...