E-Book, Deutsch, Band 4, 162 Seiten
Reihe: Historische Texte des Lern- und Gedenkorts Schloss Hartheim
im kirchlichen und religiösen Kontext
E-Book, Deutsch, Band 4, 162 Seiten
Reihe: Historische Texte des Lern- und Gedenkorts Schloss Hartheim
ISBN: 978-3-7065-6185-3
Verlag: Studien Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
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Lothar Kreyssig, Paul Gerhard Braune und Walter Schadeberg: Protagonisten des protestantischen Widerstands gegen die NS-Euthanasie
Boris Böhm
1. Zur Quellensituation und Literatur
„Wir müssen heute aber mit aller Deutlichkeit und Schärfe sagen, daß auch die vielen, die damals nur mit leichtem Achselzucken das ganze Problem abtaten, sich mitschuldig gemacht haben an der Durchführung solcher Massenmorde. Es hätte einen Aufschrei, ja einen lauten Protest im ganzen Volke geben müssen, als es bekannt wurde, daß in den Anstalten der ‚Pflege und Wohlfahrt‘ nur Morden und Töten an der Reihe war. Hier liegt auch ein Stück unserer großen Allgemeinschuld. Ich will gern zugeben, daß Millionen und aber Millionen nicht gewußt haben, was geschah. Aber die, die es wußten und wenigstens teilweise ahnten, zuckten eben nur mit den Achseln und blieben bei ihrer Neutralität.“1 Mit dieser deutlichen Aussage meldete sich der Leiter der in der Nähe von Berlin gelegenen Hoffnungstaler Anstalten Pfarrer Paul Gerhard Braune zwei Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft zu Wort, um an die Mitschuld der evangelischen Kirche zu erinnern, die NS-Krankenmorde im „Dritten Reich“ nicht verhindert und gegen diese nicht energisch genug protestiert zu haben. Beginnend mit dem Stuttgarter Schuldbekenntnis des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland von Oktober 1945 gab es in der evangelischen Kirche in den ersten Nachkriegsjahren eine Reihe kritischer Reflexionen der Stellung gegenüber dem NS-Regime, in besonderer Deutlichkeit von Martin Niemöller. Der Widerstand der wenigen Aufrechten wurde bereits 1949 von Bernhard Heinrich Forck in einem „Gedenkbuch für die Blutzeugen der Bekennenden Kirche“ gewürdigt.2 Allerdings wurde das Bild einiger führender evangelischer Kirchenmänner wie Friedrich von Bodelschwingh in dieser Zeit teilweise einseitig als das von Widerstandskämpfern überzeichnet. (Selbst-)kritisch äußerten sich dagegen beispielsweise Ludwig Schlaich3, Pfarrer der Heil- und Pflegeanstalt Stetten und eben Paul Gerhard Braune. In den 1950er und 1960er Jahren gab es zwar immer wieder Reflexionen des protestantischen Protestes, aber das Thema kirchlicher Widerstand im Nationalsozialismus war wie die NS-Krankenmorde in beiden deutschen Staaten weder in den Kirchen noch in der Öffentlichkeit von wesentlicher Relevanz. Einen wichtigen Schritt zur Aufklärung der Stellung der beiden großen Kirchen zur NS-Zwangssterilisierung und zu den NS-Krankenmorden leistete Anfang bis Mitte der 1970er Jahre der Leipziger evangelische Theologe Kurt Nowak.4 Dessen in der DDR und BRD erschienene Publikation prägte die wissenschaftliche Forschung über ein Jahrzehnt, erreichte aber kein größeres Publikum. Dies war dem Frankfurter Publizisten Ernst Klee vorbehalten, der ab Mitte der 1980er Jahre den gesamten Umfang der NS-Euthanasie, aber auch die Reaktionen der Kirche darauf ausführlich darstellte.5 Seitdem entstand in über mehr als drei Jahrzehnten eine umfangreiche Zahl von Lokal- und Regionalstudien zu den evangelischen Reaktionen auf die Krankenmorde, an der sich Historiker*innen, Theolog*innen, Ärzt*innen, Archivar*innen, aber auch an der Aufklärung interessierte Bürger*innen beteiligten.6 Eine bedeutende Rolle spielte dabei der seit Mitte der 1980er Jahre wirksame bundesweite Arbeitskreis zur Aufarbeitung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation.7 Hervorzuheben sind auch biografische Studien zu Protagonist*innen des evangelischen Protestes wie Paul Gerhard Braune, Friedrich von Bodelschwingh, Lothar Kreyssig und Theophil Wurm, auf die später teilweise näher eingegangen wird.8 2. Zur Charakteristik des protestantischen Protestes gegen die NS-Euthanasie
Den folgenden Ausführungen muss vorangestellt werden, dass es „die“ evangelische Kirche in der NS-Zeit nicht gab. Die deutschen Protestant*innen waren seit 1933/34 tief gespalten.9 Die im Januar 1940 einsetzenden Krankenmorde der Nationalsozialisten blieben seitens der evangelischen Kirche nicht unwidersprochen. Nach den sehr frühen Informationen im Februar und März 1940 über die Vorgänge in der Tötungsanstalt Grafeneck in Württemberg, die auch dem Zentral-Ausschuss für Innere Mission übermittelt wurden, dauerte es allerdings einige Monate, bis die regionalen Kirchenleitungen in Süddeutschland reagierten. Nach langem Zögern protestierte die badische Kirchenführung Mitte Juni 1940 beim badischen Innenminister gegen die Verlegungspraxis, die ohne Abstimmung mit den Anstaltsleitungen der betroffenen kirchlichen Einrichtungen erfolgte. Im darauffolgenden Monat protestierte der Bischof der Evangelischen Landeskirche in Württemberg Theophil Wurm (1868–1953) als erster deutscher evangelischer Bischof gegen die Mordaktion. Nahezu zeitgleich mit der Denkschrift von Pastor Paul Gerhard Braune an Hitler richtete Wurm am 6. Juli 1940 und am 19. Juli 1940 Mahnbriefe an Reichskirchenminister Hans Kerrl bzw. an Reichsinnenminister Wilhelm Frick. An Kerrl schrieb er: Abb. 1: Theophil Wurm, um 1935 (Landeskirchliches Archiv Württemberg in Stuttgart) „Eine weitere schwere Belastung für viele christliche Kreise sind die Maßnahmen zur Lebensvernichtung, die gegenwärtig auf Anordnung des Reichsverteidigungsrates gegen die Pfleglinge der staatlichen und privaten Heilanstalten ergriffen werden. Man macht sich offenbar bei den maßgebenden Stellen nicht klar, wie dadurch das Vertrauen des Volkes zu den staatlichen Behörden und zu der Ärzteschaft erschüttert wird.“ Er halte es für seine „Pflicht, die Reichsregierung dazu aufmerksam zu machen, dass in unserem kleinen Land diese Sache [gemeint waren Württemberg und das „Euthanasie“-Programm – Anm. d. Verf.] ganz großes Aufsehen erregt“.10 Ohne Zutun Wurms wurde das Protestschreiben an Frick selbst in Kreisen der NSDAP und der Wehrmacht bekannt. Auch in der Folgezeit erwies sich Theophil Wurm als der aktivste evangelische Bischof in Bezug auf die Kritik an der „Euthanasie“. Da sich Frick in Schweigen hüllte, protestierte er angesichts des unverminderten Fortgangs der Mordaktion am 5. September 1940 erneut beim Reichsinnenminister: „Die Ausrottung der Geisteskranken hat einen ungeheuren Umfang angenommen, neuerdings werden nun auch die Insassen von Altersheimen erfasst. Weiß der Führer von dieser Sache? Hat er sie gebilligt? Ich bitte mich mit dieser so ungeheuer ernsten Sache nicht ohne Antwort zu lassen.“11 Die unten ausführlich dargestellte Denkschrift Braunes, Bischof Wurms Mahnbriefe und verschiedene Aktivitäten der Württembergischen Landeskirche markieren im Sommer 1940 den Höhepunkt des Protests der evangelisch-lutherischen Kirche gegen die Krankenmorde, für den der Begriff Widerstand möglicherweise zu stark wäre. Wurms Proteste besaßen zwar Appellcharakter, blieben jedoch ohne durchschlagende Wirkung, da er den Dienstweg beschritt, die Öffentlichkeit und andere Kirchenvertreter dabei aber nicht einbezog. Wie bei den meisten protestantischen Akteur*innen kritisierte Wurm die NS-Krankenmorde vor einem staatsloyalen Hintergrund. Aktiver, religiös motivierter Widerspruch kam aus der evangelischen Kirche nur von Einzelnen wie dem westfälischen Pfarrer der Bekennenden Kirche Ernst Wilm und dem Leiter der Kirchlich-Theologischen Sozietät der württembergischen Bekennenden Kirche Hermann Diem.12 Besonders schwerwiegend war, dass die Bevölkerung und die Angehörigen der Opfer kein öffentliches, deutliches Wort des Protests der evangelischen Kirchen gegen die Krankenmorde hörten, auch nicht von Vertreter*innen der Bekennenden Kirche. Der reichsweit bekannte und hochgeschätzte Leiter der Betheler Anstalten von Bodelschwingh verurteilte die „Euthanasie“-Aktion und versuchte, deren Einstellung zu erreichen, plädierte aber auch für einen elastischen Widerspruch dagegen. So forderte er staatliche Stellen zum Erlass eines „Euthanasie“-Gesetzes auf, wohl wissend, dass sie dies nicht tun würden.13 Sein Augenmerk richtete sich ausschließlich auf die evangelischen Anstalten, und selbst bei diesen zeigte er sich im Herbst 1940 bei der Selektion durch die „T4“-Organisation bezüglich bestimmter Diagnosen kompromissbereit. Der Stettener Anstaltsleiter Ludwig Schlaich schätzte nach dem Krieg ein, dass Bodelschwingh im Herbst 1940 zur Opferung schwerst geistig behinderter und arbeitsunfähiger Patient*innen bereit war.14 Eine so strikte Ablehnung wie von seinem Amtsbruder und Weggefährten Paul Gerhard Braune war von diesem einflussreichen Kirchenmann nicht zu vernehmen, auch wenn man dafür in verschiedenen Nachkriegsschriften taktische Überlegungen zu seiner Exkulpation anführte. Am 12. und 13. Oktober 1940 tagte in Leipzig die 9. Bekenntnissynode der evangelischen Kirche der Altpreußischen Union. Obwohl das Thema so virulent war und viele Teilnehmende in Gesprächen untereinander bewegte, wurde von der Synode lediglich beschlossen, ein theologisches Gutachten über die...