Die Revolution als Notbremse. Essays
E-Book, Deutsch, 172 Seiten
ISBN: 978-3-86393-590-0
Verlag: CEP Europäische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Entdeckung des Werkes Walter Benjamins löste bei Michael Löwy einen Schock aus, der so manche Überzeugung erschütterte und mehr als vierzig Jahre lang in seiner gesamten Forschung über heterodoxe Formen des Marxismus in Europa oder Amerika nachwirkte. Der Vision der Revolution als "Lokomotive der Geschichte", die sich unaufhaltsam in Richtung Fortschritt bewegt, wie sie Marx in "Klassenkämpfe in Frankreich" beschreibt, stellt Benjamin eine Version der Revolution als "Notbremse" gegenüber. Sie kündigt bereits sehr früh eine Kritik des Fortschritts und des Wachstums an, die später im kritischen Denken und in der radikalen Ökologie entwickelt wird. Die hier vorgestellten Aufsätze konzentrieren sich auf die revolutionäre Dimension des Werkes Benjamins. In ihnen fließen der von einem unorthodoxen historischen Materialismus inspirierte Ansatz mit Vorstellungen vom jüdischen Messianismus zusammen, die im Lichte seiner "stellaren Freundschaft" mit Gershom Scholem neu überdacht wurden.
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Kapitalismus als Religion
Walter Benjamin und Max Weber
Unter den 1985 von Ralph Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser in Band VI der Gesammelten Schriften herausgegebenen Dokumenten Walter Benjamins befindet sich ein besonders dunkler, aber erstaunlich aktueller Text: Kapitalismus als Religion. Er ist drei oder vier Seiten lang und enthält sowohl Anmerkungen als auch bibliografische Hinweise; der Text ist dicht, paradox, manchmal hermetisch und nicht leicht zu entziffern. Da er nicht zur Veröffentlichung bestimmt war, hielt es Benjamin natürlich auch nicht für nötig, ihn lesbar und verständlich zu machen. Die folgenden Bemerkungen sind ein partieller Interpretationsversuch, der eher auf Hypothesen als auf Gewissheiten beruht und bestimmte „Grauzonen“ bewusst ausspart. Der Titel des Fragments ist direkt aus Ernst Blochs 1921 veröffentlichtem Buch Thomas Münzer als Theologe der Revolution entliehen. Am Ende des Calvin gewidmeten Kapitels erkennt Bloch in der Lehre des Genfer Reformators eine Manipulation, die den „vollkommenen Abfall vom Christentum, ja Elemente einer neuen ‚Religion‘: des Kapitalismus als Religion und Mammonskirche brachte“.1 Wir wissen, dass Benjamin dieses Buch gelesen hat, denn in einem Brief an Gershom Scholem vom 27. November 1921 schreibt er: „Die vollständige Korrektur vom ‚Münzer‘ wurde mir neulich bei seinem [Blochs] ersten Besuch hier überreicht und ich habe zu lesen begonnen“.2 Das Fragment scheint also nicht, wie von den Herausgebern angegeben, „bis um Mitte 1921“, sondern eher „Ende 1921“ verfasst worden zu sein. Nebenbei gesagt teilte Benjamin keineswegs die These seines Freundes vom calvinistisch-protestantischen Verrat am wahren Geist des Christentums.3 Benjamins Text ist offensichtlich von Max Webers Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus inspiriert. Dieser Autor wird zweimal zitiert: zunächst im Korpus des Dokuments, dann in den bibliographischen Anmerkungen, wo auch die 1920 erschienene Ausgabe der Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie erwähnt wird, sowie das 1912 erschienene Werk von Ernst Troeltsch Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, das in der Frage nach dem Ursprung des Kapitalismus Thesen vertritt, die mehr oder weniger mit denen Webers identisch sind. Allerdings geht Benjamins Argumentation, wie wir sehen werden, weit über Weber hinaus, und vor allem ersetzt er dessen „wertfreien“ Ansatz durch eine heftige antikapitalistische Anklage. „Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken“. Mit dieser kategorischen Aussage beginnt das Fragment. Es folgt ein Verweis auf, aber auch eine Distanzierung von Weber: „Der Nachweis dieser religiösen Struktur des Kapitalismus, nicht nur, wie Weber meint, als eines religiös bedingten Gebildes, sondern als einer essentiell religiösen Erscheinung, würde heute noch auf den Abweg einer maßlosen Universalpolemik führen.“ Später im Text taucht derselbe Gedanke wieder auf, aber in etwas abgeschwächter Form, im Grunde näher am Weberschen Argument: „Das Christentum zur Reformationszeit hat nicht das Aufkommen des Kapitalismus begünstigt, sondern es hat sich in den Kapitalismus umgewandelt.“ Das ist gar nicht so weit entfernt von der Schlussfolgerung der Protestantischen Ethik! Bahnbrechender ist der Gedanke der religiösen Natur des kapitalistischen Systems selbst: Das ist eine viel radikalere These als die von Weber, auch wenn sie auf vielen Elementen seiner Analyse aufbaut. Benjamin fährt fort: „Wir können das Netz in dem wir stehen nicht zuziehn. Später wird dies jedoch überblickt werden.“ Ein seltsames Argument! Inwiefern sperrt ihn diese Beweisführung in das kapitalistische Netz ein? Der Punkt wird nicht „später“ behandelt, sondern sofort, in einem formgerechten Nachweis des religiösen Charakters des Kapitalismus: „Drei Züge jedoch sind schon in der Gegenwart an dieser religiösen Struktur des Kapitalismus erkennbar.“ Benjamin zitiert Weber nicht mehr, die drei Punkte greifen jedoch die Ideen und Argumente des Soziologen auf, wobei sie ihnen sozial und politisch, aber auch philosophisch (theologisch?) eine neue, unendlich kritischere, radikalere Tragweite geben – die im krassen Gegensatz zu Webers These der Säkularisierung steht. „Erstens ist der Kapitalismus eine reine Kultreligion, vielleicht die extremste, die es je gegeben hat. Es hat in ihm alles nur unmittelbar mit Beziehung auf den Kultus Bedeutung, er kennt keine spezielle Dogmatik, keine Theologie. Der Utilitarismus gewinnt unter diesem Gesichtspunkt seine religiöse Färbung.“4 Die utilitaristischen Praktiken des Kapitalismus – Kapitalinvestitionen, Spekulationen, Finanzoperationen, Börsenmanöver, Kauf und Verkauf von Waren – sind das Äquivalent eines religiösen Kults. Der Kapitalismus verlangt kein Bekennen zu einem Glauben, einer Doktrin oder einer „Theologie“; was zählt, sind die Handlungen, die aufgrund ihrer sozialen Dynamik kultischen Praktiken gleichkommen. Benjamin, ein wenig im Widerspruch zu seiner Argumentation über die Reformation und das Christentum, vergleicht diese kapitalistische Religion mit dem ursprünglichen Heidentum, das ebenfalls „unmittelbar praktisch“ und ohne „transzendente“ Ansprüche ist. Aber was erlaubt ihm, kapitalistische Wirtschaftspraktiken mit einem „Kult“ gleichzusetzen? Benjamin erklärt dies nicht, aber ein paar Zeilen weiter verwendet er den Begriff „des Verehrenden“; wir können also annehmen, dass der kapitalistische Kult bestimmte Gottheiten umfasst, die Gegenstand der Anbetung sind. Zum Beispiel: „Vergleich zwischen den Heiligenbildern verschiedner Religionen einerseits und den Banknoten verschiedner Staaten andererseits“. Geld in Papierform wäre somit Gegenstand eines ähnlichen Kultes wie die Heiligen der „gewöhnlichen“ Religionen. Interessanterweise vergleicht Benjamin in einer Passage der Einbahnstraße Banknoten, die den Kapitalismus „in seinem heiligen Ernst“ widerspiegeln, mit der „Fassadenarchitektur der Hölle“.5 Es sei daran erinnert, dass am Tor – oder der Fassade – von Dantes Hölle zu lesen ist Lasciate ogni speranza, voi ch‘entrate [„Lasst alle Hoffnung fahren, ihr, die ihr eintretet“]; nach Marx sind dies die Worte, die der Kapitalist an den Eingang der Fabrik schreibt, an die Arbeiter gerichtet. Wir werden später sehen, dass für Benjamin die Verzweiflung der religiöse Zustand der Welt im Kapitalismus ist. Das Papiergeld ist jedoch nur eine Erscheinungsform einer viel grundlegenderen Gottheit im kapitalistischen Kultsystem: das Geld, der Gott Mammon, oder, in Benjamins Worten, „Plutos als Gott des Reichtums“. In der Bibliografie des Fragments wird eine virulente Passage gegen die religiöse Macht des Geldes erwähnt: Sie findet sich im Buch Aufruf zum Sozialismus des jüdisch-deutschen anarchistischen Denkers Gustav Landauer, das 1919, kurz vor der Ermordung seines Autors durch konterrevolutionäre Soldaten, zum zweiten Mal veröffentlicht wurde. Auf der Seite, die in Benjamins bibliographischem Eintrag angegeben ist, schreibt Landauer: „Fritz Mauthner (Wörterbuch der Philosophie) hat gezeigt, daß das Wort ‚Gott‘ ursprünglich identisch ist mit dem Wort Götze, und daß beides der ‚Gegossene‘ heißt. Gott ist ein von den Menschen gemachtes Erzeugnis, das Leben gewinnt, Leben der Menschen an sich zieht und schließlich mächtiger wird als die Menschheit. Der einzige Gegossene, der einzige Götze, der einzige Gott, den die Menschen je leibhaft zustande gebracht haben, ist das Geld. Das Geld ist künstlich und ist lebendig, das Geld zeugt Geld und Geld und Geld, das Geld hat alle Kräfte der Welt. Wer aber sieht nicht, wer aber sieht heute noch immer nicht, daß das Geld, daß der Gott nichts anderes als der aus dem Menschen herausgetretene und zum lebendigen Ding, zum Unding gewordene Geist ist, daß es der zum Wahnsinn gewordene Sinn unseres Lebens ist? Das Geld schafft nicht Reichtum, das Geld ist Reichtum; ist Reichtum für sich; es gibt keinen Reichen als Geld.“6 Wir wissen zwar nicht, inwieweit Benjamin Landauers Überlegung teilte, aber wir können diese in der Bibliographie erwähnte Passage als Beispiel dafür nehmen, was er unter „kultischen Praktiken“ des Kapitalismus verstand. Aus marxistischer Sicht ist das Geld nur eine – und nicht die wichtigste – Erscheinungsform des Kapitals, aber Benjamin stand 1921 dem romantischen und libertären Sozialismus eines Gustav Landauer – oder eines Georges Sorel – viel näher als Karl Marx und Friedrich Engels. Erst später, im Passagen-Werk, greift er auf Marx zurück, um den fetischistischen Kult der Ware zu kritisieren und die Pariser Passagen als...