E-Book, Deutsch, 267 Seiten
ISBN: 978-3-7394-1654-0
Verlag: tolino media
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Christina Löw würde am liebsten den ganzen Tag lang schreiben, um allen Ideen, die ihr durch den Kopf hüpfen, angemessen Aufmerksamkeit zu schenken. Für den Moment müssen sich ihre Plotbunnys jedoch auf die Abendstunden beschränken. Tagsüber arbeitet sie als Übersetzerin, Lektorin, Journalistin und Kunstvermittlerin.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Kapitel 1
Langsam und sorgfältig zog Patrick sich vor dem großen Standspiegel an. Dabei musterte er jeden Zentimeter seines Körpers. Es musste perfekt sein – er musste perfekt aussehen. Schließlich war das nicht irgendeine Party, sondern »die« Party. Und die einzige After-Show-Party der Berlin Fashion Week, für die er eine Karte bekommen hatte. Bevor er in sein Hemd schlüpfte, beobachtete er das Spiel seiner Muskeln. Sein Sixpack konnte sich schon sehen lassen, doch er war mit seinen Brustmuskeln nicht zufrieden. Da ging mehr. Er pumpte den Brustkorb auf und warf sich in Pose. Dann verglich er sein Spiegelbild mit dem Poster daneben an der Wand. An Sean O'Pry reichte er längst nicht heran, aber er war zumindest auf einem guten Weg. Damit seine Muskeln auch nachher gut sichtbar waren und niemand übersehen konnte, dass sein Körper wohl definiert war, legte Patrick noch ein paar Klimmzüge ein. Jedoch so, dass er nicht in Schweiß ausbrach. Er hatte keine Zeit, um noch einmal zu duschen. Als er zufrieden war, trug er ein paar Spritzer Spicebomb auf seine Schlüsselbeine auf und tupfte etwas von dem Parfüm hinter seine Ohren. Dann zog er sich weiter an, bis nur noch Krawatte und Sakko fehlten - und natürlich das Styling seiner Frisur. Im Bad beäugte er sein Gesicht ganz genau im Spiegel über seinem Waschbecken, aber vor allem auch im Kosmetikspiegel daneben. War jedes Barthaar in Form gestutzt? Hatte er alle Augenbrauenhaare von seiner Nasenwurzel gezupft? Und was war mit den Nasenhaaren? Er seufzte. Es wäre viel einfacher, wenn diese ganzen Haare nicht immer wieder nachwachsen würden. Es würde so viel Zeit und Geld sparen. Nicht, dass er so viel ausgab, wie er gerne würde. Doch das, was er wirklich wollte – einen persönlichen Stylisten –, konnte er sich nicht leisten. So musste er mit einem wöchentlichen Besuch beim Barber-Shop auskommen und sich jeden Tag selbst um die allgemeine Pflege kümmern. Bartshampoo war dabei ein Muss und besonders vor dem Ausgehen brachte er seinen Bart nach dem Bürsten gern mit etwas Bartöl zum Glänzen. Er wusch sein Gesicht mit einem klärenden Tonikum, um auch die letzten Unreinheiten zu vertreiben, und trug anschließend eine mattierende Tagescreme auf. Glänzend sollte sein Auftritt zwar schon sein, aber nicht seine T-Zone. Jetzt fehlte nur noch ein bisschen Augen-Roll-On gepaart mit ein paar Tupfern Concealer gegen die Augenringe der letzten durchtanzten Nächte. Erst als er alle fraglichen Stellen erneut überprüft und sich davon überzeugt hatte, dass es so perfekt war, wie es eben ging, wandte er sich zum Abschluss den Haaren zu. Er zog mit dem Kamm zwei seitliche Scheitel und stylte das dazwischenliegende Haar mit den Fingern und einer guten Portion Haargel erst zur Mitte und dann nach vorne. Der klassische Beckham – laut Gentlemen's Quarterly immer noch der Frauenschwarm unter den Kurzhaarfrisuren. Zufrieden musterte Patrick sich erneut im größeren Spiegel und machte seinem Abbild schöne Augen. Wenn er es richtig anstellte und auch nur ein bisschen Glück hatte, konnte er heute Abend sicherlich ein Mädel klarmachen, vielleicht sogar ein Model. Oder er könnte selbst einem der Agenten, die immer auf solchen Partys unterwegs waren, positiv auffallen. Bevor er die Wohnung verließ, band er die Krawatte zu einem einfachen Windsor, schlüpfte in das Sakko und zog sich die passenden Schuhe an. Nach einem letzten Blick in einen der Flurspiegel zog er die Tür hinter sich zu. Als der Aufzug auf dem Weg nach unten in der zweiten Etage anhielt, hatte Patrick schon ein ungutes Gefühl. Und wirklich: Als sich die Türen öffneten, stand seine Nachbarin Melissa vor ihm und strahlte ihn an. »Hallo Nachbar, du siehst aber schick aus heute«, sagte sie und stellte sich neben ihn, näher als es in der Fahrstuhlkabine nötig gewesen wäre. Patrick seufzte leise und unterdrückte ein genervtes Schnauben. Er nickte nur kurz und tat dann so, als müsste er dringend eine Nachricht auf seinem Smartphone beantworten. Sie ließ ihn einfach nicht in Ruhe, egal, wie oft er sie ignorierte. Er wollte den Kontakt mit ihr nicht vertiefen, weder als Nachbarn noch in irgendeiner anderen Hinsicht. Dazu war sie einfach zu unscheinbar. Anders ließ sie sich nicht beschreiben. Sie war ihm schon auf die Nerven gegangen, als sie kurz nach seinem Einzug an seine Tür geklopft hatte, um ihn im Haus willkommen zu heißen und sich ihm vorzustellen. Er hatte sie abgewimmelt, so schnell es irgendwie ging. Ohnehin hatte er ihr nur aufgemacht, weil er dachte, seine Bestellung mit Pflegeprodukten wäre überraschend schnell angekommen. Und dann stand sie vor ihm. Ein Mauerblümchen. Ein Mäuschen. Eine Person, der er in seinem Alltag nicht einmal einen Blick schenkte. Und genau so hatte er es fortan gehalten. Er hatte sie ignoriert, so gut das eben möglich war, wenn man im selben Haus lebte und sie es oft genug abzupassen schien, wann er die Wohnung verließ oder heimkam. Es war so erbärmlich, dass man es nicht einmal als Stalking bezeichnen konnte. Als sie nun zwar viel zu nah, aber immerhin schweigend neben ihm stand, kehrten seine Gedanken zur Party zurück. Da die metallenen Wände des Aufzugs zu matt waren, um sich darin zu spiegeln, nutzte er die Kamerafunktion seines Handys, um noch einmal sein Abbild zu betrachten. Mit seinen wohlgeformten Zügen vor Augen kehrte auch seine Ruhe zurück. Die würde er nachher brauchen. Schließlich durfte er sich nicht als Anfänger entlarven lassen, sondern musste so wirken, als würde er sich tagtäglich mit Models, Agenten, Designern und anderen wichtigen Leuten aus der Modebranche umgeben. Patrick merkte, wie ihm warm wurde, und prüfte schnell seinen Puls. Dann sog er betont langsam die Luft durch die Nase ein und pustete sie durch den Mund wieder aus. Das wiederholte er weitere neun Mal, bis seine Atmung sich normalisiert hatte. Dass Melissa ihn dabei beobachtete, versuchte er gekonnt zu ignorieren. Er seufzte erleichtert, als ihre Wege sich endlich an der Haustür trennten. Den restlichen Weg zum Club, in dem die Party stattfand, legte er ohne Zwischenfälle zurück. Klar, er kam nicht mit einer Limo an, wie das die wichtigen Leute taten, sondern fuhr stattdessen mit der Bahn und lief die letzten Meter zu Fuß, aber trotzdem hatte er ein Ticket und damit eine Eintrittsberechtigung. Das konnten auch nicht alle von sich sagen. Er schlängelte sich an der langen Reihe der Wartenden vorbei, die versuchten, ohne Ticket irgendwie – koste es, was es wolle – hinein zu kommen, und wurde gleich darauf vom Türsteher hereingelassen. Ausgestattet mit einem Bändchen und einem Bon für ein Freigetränk schlenderte Patrick betont lässig den Gang entlang auf den Hauptsaal zu. Bevor er über die Schwelle trat, überprüfte er sein Aussehen in den verspiegelten Wänden des Flurs, strich eine Haarsträhne in Form und wischte eine unsichtbare Fluse von seinem Sakko. Er lächelte seinem Abbild zu, ein kleines bisschen Zähne zeigen, aber bloß nicht zu viel, und straffte die Schultern. Dann ging er erhobenen Hauptes weiter. See and be seen – das war sein Motto des Abends. Während er mit sicheren Schritten die Bar an der rechten Wand des Saals ansteuerte, verschaffte er sich aus den Augenwinkeln einen Überblick. Bloß nicht so wirken, als würde ihn das alles beeindrucken. Dazugehören, oder zumindest so tun als ob. Mit einem Glas Sekt in der Hand lehnte er sich kurz darauf mit dem Rücken an die Seite der Bar, aber nicht so, als wollte er hierbleiben und sich direkt als einsames Mauerblümchen auf dem Ball der Schönen und Reichen abstempeln, sondern als suchte er jemand Bestimmtes in der Menge. Mit Mühe kämpfte er gegen den Drang an, mit offenem Mund und großen Augen seine Umgebung anzustarren. Ganz ruhig, flüsterte er sich selbst zu. Du kannst das. Lass einfach dein Aussehen für dich sprechen. Mehr brauchst du nicht. Mit möglichst unbeteiligter, fast schon gelangweilt wirkender Miene – wie tagelang vor den heimischen Spiegeln geübt – saugte Patrick alles in sich auf. Die riesigen Kronleuchter, die von der Decke baumelten und aussahen, als wären sie aus funkelnden Diamanten gemacht. Die Kaviar-Bar, an der es neben verschiedenen Sorten der kleinen Kügelchen auch Champagner und Austern gab. Die Tabletts mit kunstvoll dekorierten Drinks, die von elegant und doch sexy gekleideten Kellnerinnen und Kellnern, die allesamt Models sein konnten, durch die Menge getragen wurden. Die gutaussehenden Menschen in lässiger Abendgarderobe, die sich um die Stehtische versammelt hatten. Und natürlich der Laufsteg. Keine After-Show-Party der Berlin Fashion Week, die etwas auf sich hielt, kam ohne einen Catwalk aus – und wenn dieser einfach nur dekorativ war. Für Patrick war er so viel mehr. Für ihn repräsentierte er einen Traum, den er schon seit so langer Zeit hegte. Endlich entdeckt zu werden und über einen Laufsteg zu schreiten, aber natürlich nicht über irgendeinen. Dass er durch das Casting von Germany's Next Topmodel Men gekommen und zur morgigen ersten Auswahlrunde eingeladen worden war, zeigte ihm schließlich, dass er auf dem richtigen Weg war. Auf die Amateur-Varianten, die es gefühlt bei jedem Stadtfest gab, hatte er keine Lust. Das war etwas für diejenigen, die kein Potential hatten, für diejenigen, die dachten, sie könnten auch mit den Fotos, die Papa oder Mama von ihnen im Garten schossen, groß rauskommen. Er schnaubte und hoffte, dass niemand diesen Ausrutscher seiner ansonsten makellosen Mimik bemerkt hatte. Aus dem Augenwinkel beobachtete er die Menschen in seiner direkten...