E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Lloyd Unschuldig
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-641-22504-9
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thriller
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-641-22504-9
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dennis ist ein verurteilter Mörder. Sam glaubt an seine Unschuld. Sie und hunderte andere Menschen weltweit kämpfen in einer groß angelegten Kampagne für seine Freilassung. Onlineforen, Dokumentationen, Bücher liefern immer neue Beweise für seine Unschuld. Dennis ist attraktiv, charismatisch, ein Popstar. Trotz der Haft nähern Sam und er sich einander an, es ist die große Liebe, sie heiraten. Und Dennis kommt tatsächlich frei. Doch schon bald ahnt Sam: Das ist nicht der Mann, den sie zu kennen glaubt. Was ist damals wirklich passiert? Hat Dennis sie manipuliert? Wie konfrontierst du deinen Mann, wenn du die Wahrheit eigentlich gar nicht wissen willst?
Amy Lloyd studierte Englisch und Kreatives Schreiben an der Cardiff Metropolitan University. Mit ihrem Debüt »Unschuldig«, in dem sie ihre Leidenschaft für True Crime und spannende Thriller vereint, gewann sie den Daily Mail First Novel-Wettbewerb. Das Buch wurde zu einem internationalen Bestseller, in 19 Länder verkauft. Die Filmrechte gingen an die Produzenten von »Gone Girl« und »Girl in the Train«. Amy Lloyd lebt mit ihrem Partner und zwei Katzen in Cardiff, Wales.
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Prolog
Man fand das Mädchen sechsundsiebzig Stunden, nachdem es als vermisst gemeldet worden war. Die Fingerkuppen waren mit einer Kabelschere entfernt worden, ein kalkulierter Akt, um DNS-Spuren zu vermeiden – denn wenn das Opfer den Angreifer kratzt, sammeln sich dessen Hautpartikel unter seinen Fingernägeln. Die Leiche wurde kurz nach dem Tod bewegt; der Tatort musste so abgeschieden gelegen haben, dass eine lange, brutale Misshandlung und die anschließenden Verstümmelungen der Leiche möglich waren. Holly Michaels wurde am nördlichen Rand von Red River County, Florida, zehn Meilen von ihrem Elternhaus entfernt, ins dunkle Wasser eines Bayous geworfen. Auf den Fotos vom Fundort lag sie mit dem Gesicht nach unten, was den Anblick für Sam etwas erträglicher machte, als sie die Bilder zum ersten Mal sah – allein im unbeleuchteten Wohnzimmer eines Reihenhauses in Bristol. Zuerst hatte sie die Fotos als anstößig empfunden, weniger des geronnenen Blutes wegen, das die feinen blonden Haare verklebte, sondern weil Holly von der Taille abwärts nackt gewesen war. Am liebsten hätte Sam eine Decke über das Mädchen gebreitet, um seine Intimsphäre zu schützen. Mit der Zeit ließ sie der Anblick nicht mehr zusammenzucken. Je länger sie in den Internetforen stöberte und dabei das Bild immer und immer wieder sah, umso mehr rückte die Leiche mit ihrer wächsern bleichen Haut und den dunklen Blutlachen in den Hintergrund, und umso wichtiger wurden die Details ihrer Umgebung. Jetzt konzentrierte sich Sams Blick auf den Bildrand, an dem ein Stück Erde rot eingekreist war. Sie kniff die Augen zusammen. Das war ein Fußabdruck. Doch den Forendiskussionen zufolge waren keine Fußabdrücke genommen worden und auch in den Akten zu dem Fall wurden keine erwähnt. Das warf Fragen auf: War der Fußabdruck bei der Ermittlung absichtlich nicht beachtet worden? Hatte man ihn übersehen? Oder hatten sie gerade den Beweis dafür vor Augen, dass irgendein klumpfüßiger Polizist aus Red River den Fundort kontaminiert haben könnte? Die Diskussion zog sich bis spät in die Nacht, und Sam wusste nicht, was sie glauben sollte. Sicher war nur: Egal, was sich dort abgespielt hatte, der wahre Täter lief noch immer frei herum. Ihre Besessenheit hatte achtzehn Jahre nach dem Erscheinen der ersten Doku angefangen. »Ich weiß, das ist eigentlich nicht so deins, aber das hier wirst du lieben, es ist unglaublich! Es wird dich so wütend machen«, hatte ihr Freund Mark gesagt, auf dem Gesicht den bläulichen Schein seines Computerbildschirms. Sam hatte neben ihm in seinem Bett gesessen – in dem Haus, das er immer noch zusammen mit seinen Eltern bewohnte. Während sich vor ihren Augen die Geschichte auf dem Bildschirm entfaltete, trat alles andere in den Hintergrund. Und im Zentrum des Ganzen stand ein Junge, der zu jung für den Anzug war, den er vor Gericht trug, und dessen blaue Augen verwirrt, allein und verängstigt in die Kamera blinzelten. Sein Anblick schmerzte Sam, so schön war er in diesem hässlichen Raum mit grellem Licht und harten Kanten, sein Gesicht vor Traurigkeit ganz weich. Dennis Danson, gerade mal achtzehn Jahre alt, allein im Todestrakt. Als der Film zu Ende war, wollte sie mehr. Sie wollte Antworten. »Ich hab’s dir gesagt«, meinte Mark. »Ich hab dir gesagt, es wird dich wütend machen.« Schon bald beherrschte Dennis ihr gesamtes Denken, er drang sogar in die Randbereiche ihrer Träume vor, war aber immer zu weit entfernt, um mit ihm sprechen oder ihn festhalten zu können. Seine Hand entglitt ihren Fingern. Deshalb schloss sie sich Onlinegruppen an. Es gab ein eigenes Forum, in dem die User jedes einzelne Foto, jede Zeugenaussage und jedes Gerichtsprotokoll, jeden gerichtsmedizinischen Bericht und jedes Alibi prüften. Sie diskutierten über kleinste Details, bis Sam völlig erschöpft war und dennoch nicht aufhören konnte, nach einer Wahrheit zu suchen, die alle bisherigen Fehler korrigieren konnte. In verschiedenen Untergruppen wurden leidenschaftlich jeweils verschiedene Theorien verteidigt. Man verdächtigte Hollys Stiefvater oder die vorbestraften Triebtäter, die in Trailerparks am Ortsrand lebten. Sie stellten Vergleiche zu anderen ungeklärten Morden in ganz Amerika an und beschworen Bilder vom Bösen auf Rädern herauf: ein Fernfahrer, getrieben von finsteren Fantasien, der in der Nacht lebte und einsam mordete. Dann gab es die Verschwörungstheoretiker, die glaubten, die gesamte Polizei von Red River decke einen lokalen Pädophilenring, der sie mit irgendetwas in der Hand hätte. Sam glaubte an eine einfachere Lösung. Eine Woche vor dem Mord war vor der Mittelschule ein Mann gesehen worden. Er hatte vorbeikommende Kinder angesprochen und sie nach der Uhrzeit gefragt. Er behauptete, seine Uhr verloren zu haben, bat die Kinder, ihm suchen zu helfen, und versprach ihnen eine Belohnung. Eine Mutter stellte ihn zur Rede, als sie ihre Söhne abholte, und sagte der Polizei später, er sei ihr verdächtig vorgekommen, weil er sich auffallend vorsichtig verhalten habe; sein Blick sei beim Sprechen in alle Richtungen gehuscht. Er war ein Unbekannter in der relativ kleinen Gemeinde und noch vor dem Eintreffen der Polizei schon wieder verschwunden gewesen. Nach diesem Vorfall waren die Eltern verunsichert, und die Lehrer kontrollierten als zusätzliche Sicherheitsmaßnahme jeden Morgen und jeden Nachmittag die Schultore. Weil es kaum verwertbare Spuren gab, legte die Polizei die Sache zu den Akten und verdrängte sie. Es war zu keinem Verbrechen gekommen, und der Mann ließ sich nicht mehr an der Schule blicken. Eine Woche später wurde Holly vermisst gemeldet. In den Foren wurde er »der kleine Mann« genannt. Die Polizei befragte die Mütter erneut, ein Phantombild vom »kleinen Mann« wurde in der Zeitung abgedruckt und überall in der Stadt aufgehängt. Doch die Suche lieferte weder Verdächtige noch Spuren. Schließlich ließ die Polizei die Ermittlungen in diese Richtung ganz fallen und konzentrierte sich, offenbar unter dem Druck, eine Festnahme vorweisen zu müssen, auf andere Gerüchte. Im Forum wurde die Kleiner-Mann-Theorie weiterverfolgt und Polizeifotos kürzlich verhafteter Sexualstraftäter mit dem Phantombild abgeglichen. Sam las wie besessen die entsprechenden Threads und bestaunte die ermittlerischen Fähigkeiten der anderen Mitglieder: Sie konnten Hinweise identifizieren, die der Polizei seinerzeit entgangen waren, und Geschichten konstruieren, die sehr überzeugend nach der fehlenden Wahrheit klangen. Es gab noch weitere Foren zu anderen Fällen und anderen Opfern. Es gab noch mehr Dokumentationen und Podcasts und Fernsehserien, aber Framing the Truth: Der Mord an Holly Michaels sprach so viele Menschen an wie kein anderes Format, diese Serie packte die Leute und ließ sie nicht mehr los. Sam las alles, was sie im Internet finden konnte und unterschrieb Petitionen, um vor Gericht neue Beweismittel zuzulassen (den Fußabdruck, die Aussage eines Familienmitglieds über das Alibi des Stiefvaters), und dabei war sie auf die Foren gestoßen, die sie jetzt so obsessiv durchforstete. Alle waren sie getrieben vom Wunsch nach der Wahrheit und dem Wunsch, jenen Mann zu befreien, der im Mittelpunkt dieses Falls stand: das Opfer eines gewaltigen Justizirrtums. Die Fans entwickelten eine tiefe Bindung zu Dennis. Zum Teil, weil sie miterleben konnten, wie er sich nach der Verhaftung von einem schwierigen Achtzehnjährigen zu dem Mann entwickelte, der im Gefängnis aus ihm wurde. In den grellweißen Overalls hatte er etwas fast schon Sakrales an sich. Gelassen wie ein Mönch, mit Ketten an Händen und Füßen gefesselt, als würde er eine Art Buße tun. Obwohl er sein Urteil nie akzeptiert hatte und immer wieder seine Unschuld beteuerte, wirkte er ruhig. »Ich versuche, es nicht als Kampf zu betrachten«, sagte er am Ende des Dokumentarfilms. »Kämpfen erschöpft einen, am Kämpfen zerbricht man. Ich versuche, damit umzugehen. Ich werde es schaffen.« Als sein Gesicht ausgeblendet wurde, spürte Sam ein Ziehen im Bauch. Überwältigt von seiner Hilflosigkeit, hatte sie das Gefühl, als würde die Ungerechtigkeit der ganzen Welt über ihr zusammenschlagen. Sie weinte. Die Menschen im Forum waren die einzigen, von denen Sam sich verstanden fühlte. Sie hatten alle dasselbe Gefühl von Ohnmacht erlebt, als sie Framing the Truth vor Jahren zum ersten Mal gesehen hatten, und nahmen Sam herzlich in ihre Gemeinschaft auf. Einige reagierten sarkastisch: »Oha, wo bist du denn so lange gewesen? Willkommen im Jahr 1993.« Doch insgesamt fühlte sie sich dort heimisch und fing an, sich einzubringen. Sie teilte ihre Gedanken und Gefühle mit den anderen, nicht nur über Dennis, sondern, im allgemeinen Diskussionsboard, auch über ihr Privatleben. An diese Menschen wandte sie sich, als Mark sie verließ und eines Abends auf einmal alle seine Sachen weg waren. Keine Nachricht, nichts. Nur seine Zahnbürste stand noch auf dem Waschbeckenrand im Becher neben ihrer, die beiden aneinandergeschmiegt wie zwei Schwanenhälse. Die anderen im Forum trösteten Sam, schickten ihre Skype-Daten per PM, falls sie reden wolle, und versicherten ihr, dass sie das nicht verdient habe. Sie waren alles, was Sam hatte. Die meisten in der Gruppe lebten in den USA. Zwar gab es auch einige britische Mitglieder wie Sam, die gelegentlich Treffen und Veranstaltungen organisierten, aber immer waren es die Amerikanerinnen und Amerikaner, die Diskussionen vorantrieben und Proteste organisierten. Zweimal war ein Datum für Dennis’ Hinrichtung festgesetzt worden; die Forenmitglieder hatten sich vor dem Gerichtsgebäude von Red River County versammelt,...