E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Little Die Schwestern Chanel
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-95967-598-7
Verlag: HarperCollins
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
A Novel
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-95967-598-7
Verlag: HarperCollins
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Frankreich, 1897: Gabrielle Chanel - später unter dem Namen Coco weltberühmt - und ihre Schwester Antoinette werden von ihrem Vater in einem Waisenheim abgegeben. Armut und harte Arbeit bestimmen dort ihren Alltag. Doch Coco ist nicht bereit, sich in ihr Schicksal zu fügen. Unbeirrbar erobert sie sich ihre Freiheit - unter den teils bewundernden, teils neidischen Blicken ihrer Schwester. Antoinette weicht Coco bei ihrem Weg zur Modemacherin nicht von der Seite und unterstützt sie, wo sie kann. Bald schon spricht man in Paris ehrfurchtsvoll von den »Schwestern Chanel«. Doch auf dem Höhepunkt des Erfolges müssen die Frauen erkennen, dass selbst Geld und Unabhängigkeit kein Ersatz für das sind, nach dem sie sich am meisten sehnen: Liebe.
»Judithe Little hat sich wunderschön ausgemalt, wie es sein musste, die Schwester der großen Modemacherin zu sein.« , 03.03.2021
»[...] ein klasse Roman über Frauen, die ihr Schicksal in die Hand nehmen und weit über das, was ihnen das Leben mitgab, hinauswachsen.« , 11.02.2021
Judithe Little ist in Virginia aufgewachsen und hat Politikwissenschaften und Jura studiert. Nach einem Aufenthalt in Frankreich hat sie für verschiedene Fachzeitschriften gearbeitet. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Houston, Texas.
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7
Sonntagnachmittags wurden wir gezwungen, hinter Schwester Xavier her die Hügel des Zentralmassivs hoch und wieder runter zu wandern. Um unsere »Konstitution zu stärken«, die, laut den Nonnen, durch unsere Armut in Kindertagen geschwächt war. Während einer solchen Winterwanderung versuchte ich, mir vorzustellen, es sei Frühling und ich wäre im Bois de Boulogne wie die élégantes aus den Zeitschriften, wo ich gemütlich im Schatten eines rüschenbesetzten Seidensonnenschirms dahinflanierte. Da hörte ich Gabrielle zu Hélène sagen: »Unser Vater ist in Amerika. Er hat dort ein Vermögen gemacht und wird uns bald holen kommen.«
Beinahe wäre ich über ein hervorstehendes Stück Vulkangestein gestolpert und konnte mich gerade noch abfangen, um nicht zu stürzen. Hélène schnaubte verächtlich. »Wenn er reich ist, warum sind du und deine Schwestern dann hier?«
Gabrielle hatte das Kinn in die Luft gereckt. »Um eine Ausbildung zu bekommen. Ich habe ihm geschrieben und ihn gebeten, mir ein weißes Chiffonkleid mitzubringen. Er hat es mir versprochen.«
»Du lügst«, sagte Hélène.
»Du bist bloß neidisch«, entgegnete Gabrielle.
Hélène verschränkte die Arme vor der Brust. »Du bist genau wie wir anderen auch. Eine Waise, die keiner haben will. Hör auf, so zu tun, als wärst du was Besseres.«
»Ich bin was Besseres. Jeder ist was Besseres als du.«
»Um genau zu sein, bist du schlechter dran. Meine Eltern sind gestorben. Aber dein Vater lebt noch. Und er will dich nicht haben. Wahrscheinlich hat er dich nie gewollt.«
Am liebsten hätte ich Hélène getreten, so fest ich nur konnte. Ich hätte sie gerne von einem Felsvorsprung gestoßen und ihrem Schrei bis zum Aufprall gelauscht.
Ich schob mich zwischen Gabrielle und Hélène und schob die Hand in die Tasche. Manchmal trug ich die Münzen von Pépère, die ich gespart hatte, mit mir herum. »Er kommt uns holen«, sagte ich zu Hélène. »Und er schickt uns Geld. Schau.«
Ich streckte ihr die Hand hin. Die Sonne ließ die Münzen für den Bruchteil einer Sekunde aufblitzen, ehe ich sie schnell wieder wegsteckte. Hélènes Gesicht war rot angelaufen.
»Siehst du?«, sagte Gabrielle zu ihr. »Hab ich’s dir doch gesagt.«
»Hrmpf«, machte Hélène. Sie gesellte sich zu Pierette, und die beiden bogen scharf ab.
Gabrielle und ich gingen in unbehaglichem Schweigen weiter. Ihre Worte hallten in meinem Kopf nach. Unser Vater kam zurück? Sie hatte ihm geschrieben?
Das konnte nicht stimmen. Es stimmte nicht. Ich wusste es, und mir wurde übel. Nach all unseren Ausflügen nach Clermont-Ferrand, der ganzen Zeit, die wir mit Adrienne verbracht hatten, all den Geschichten in den mélos hatte ich angenommen, Gabrielle würde nicht mehr so viel an Albert denken. Dass sie aufgehört hatte, auf seine Rückkehr zu hoffen. Ich war froh, dass Julia-Berthe weiter vorne ging, näher bei Schwester Xavier, sodass sie nichts hören konnte. Sie würde jedes Wort glauben.
Ich zog den Schal um meinen Hals zurecht, während düstere Gedanken in meinem Kopf kreisten. Ich träumte von Prinzen. Gabrielle träumte von Albert. Für sie war er ein Prinz.
»Vielleicht ist er ja wirklich nach Amerika gegangen«, sagte sie schließlich. »Vielleicht hat er dort ein Vermögen gemacht. Vielleicht ist er gerade jetzt auf dem Weg, uns zu holen.«
Ich schüttelte den Kopf. Mein Mund und mein Hals waren trocken. »Du hast doch die Unterhaltungen bei Mémère gehört. Manchmal, wenn wir dort waren, nannten Nachbarn oder andere Familienmitglieder Albert le grand séducteur, den großen Verführer. Einer sagte, Albert würde in Quimper Damenschuhe verkaufen. Ein anderer behauptete, es wäre Damenunterwäsche in Nantes. Er ist nicht sonderlich weit weg«, sagte ich zu Gabrielle, »und er will trotzdem nichts mit uns zu tun haben.«
Der Blick, den Gabrielle mir daraufhin zuwarf, war der einer viel älteren Frau. Er war hart wie Schorf über einer offenen Wunde. »Umso mehr Grund, ihn zu etwas zu machen, das er nicht ist«, sagte sie.
Die Bäume bogen sich, und Blätter wirbelten vom Boden in Wolken empor, als versuchten sie, ihren rechtmäßigen Platz an den Zweigen wieder einzunehmen. Im Kloster hatte eine starke Windbö den Riegel eines alten Eisentores gelöst, das nun mit lautem, blechernem Getöse auf- und zuschwang. Ich hasste den Wind. Wie er sich durch Ritzen drückte und alles knarzen und beben ließ.
Später am selben Tag landete ich im Krankenzimmer, weil der Sonntagsausflug in der Kälte meinen Zustand verschlechtert hatte. Einen Moment lang glühte ich, als brenne in mir ein Feuer, und kurz darauf klapperten meine Zähne vor Kälte. »Kränklich, genau wie ihre Mutter«, glaubte ich, die Nonnen flüstern zu hören, während sie sich bekreuzigten wie immer, wenn sie von den Toten sprachen.
Schwester Bernadette, die für die Krankenpflege zuständig war, wickelte mich in ein feuchtes Tuch, um das Fieber zu senken. Sie rieb Balsam auf meine Brust und gab mir einen Schluck starken Wein zu trinken, ehe sie als zusätzliche Vorsichtsmaßnahme meine Stirn mit Weihwasser betupfte. Ich würde leben, verkündete sie, aber man ging besser auf Nummer sicher.
Gabrielle bot an, neben meinem Bett zu wachen. Auf diese Weise kam sie um den Katechismusunterricht und die Handarbeit herum und konnte stattdessen lesen. Sie hielt dabei Das Leben der Heiligen dicht vors Gesicht, und ihre Stimme war so leise, dass Schwester Bernadette nicht hören konnte, dass es sich nicht um den steinigen Weg der Heiligen handelte, sondern um den von Decourcelles Die tanzende Klosterschülerin. Als der Wein und Gabrielles Worte begannen, ihre Wirkung zu entfalten, wurde ich schläfrig. Beinahe hätte ich nicht bemerkt, wie die Mutter Oberin und Schwester Xavier das Krankenzimmer betraten, genau in dem Moment, als Gabrielle die Stelle erreichte, wo Yvette, das Bauernmädchen, das mit der Ballerina die Rollen tauscht, in Paris ankommt.
Gabrielle hörte auf zu lesen und klappte rasch das Buch zu. Die Mienen der Nonnen waren ernst. Würde ich sterben? Waren sie deshalb gekommen? Die Mutter Oberin sah mich streng an, eine Augenbraue so weit hochgezogen, dass sie beinahe das weiße Band ihrer Haube berührte.
Gabrielle sprang auf. Ihr Gesicht war so bleich, dass ich die blauen Adern auf ihrer Stirn durchscheinen sah wie die Schimmelspuren auf einer Käserinde. »Was machen Sie damit?«, wollte sie von den Nonnen wissen. »Das gehört Ihnen nicht.«
Ich stützte mich auf einen Ellbogen, um zu sehen, wie die Mutter Oberin meine blau-weiße Dose in den Händen hielt, in die ich nach der Wanderung die Münzen zurückgelegt hatte. Mein Magen krampfte sich zusammen. Ich hatte die Dose in einem dunklen Winkel unter meinem Bett im Schlafsaal versteckt.
Die Mutter Oberin zitierte Matthäus: »Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, wo sie die Motten und der Rost fressen und …«
»… wo die Diebe einbrechen und stehlen!«, unterbrach Gabrielle sie. Sie stürzte sich mit spitzen Ellbogen auf die Nonnen, das Kinn energisch vorgereckt. Sie war nicht länger die tanzende Klosterschülerin, deren Haltung wir beide nachzuahmen versuchten. Sie war das Bauernmädchen, das auf den Straßen der Auvergne aufgewachsen war. »Das ist Antoinettes Geld«, rief sie. »Sie haben kein Recht dazu, es zu nehmen!«
Ich erschauderte, gleichermaßen aus Sorge um meine Münzen und wegen Gabrielles Kühnheit. Doch sie setzte sich für mich ein, wie ich es für sie bei Hélène getan hatte. Gabrielle wusste, was mir diese Münzen bedeuteten, auch wenn es nicht viele waren. Ich sparte sie für die Zukunft. Für »etwas Besseres«.
»Was ist nur aus dir geworden, Gabrielle?«, schalt Schwester Xavier. »Du kennst die Bibel doch gut. Das heißt, Antoinette und du, ihr solltet eigentlich wissen, dass Reichtümer, wenn überhaupt, im Himmel zu finden sind und nicht in irdischen Dingen.«
Ich hätte gerne etwas gerufen, aber ich war zu benommen, mein Kopf vom Fieber umnebelt. Meine Münzen. Meine kostbaren Münzen. Die waren doch für die Zukunft. Für »etwas Besseres«.
Die Mutter Oberin öffnete die Dose. »Und was ist das hier?« Sie zog meine Papier-élégantes heraus, meine Brautpaare, meine Prinzen und Prinzessinnen. »Ihr sollt Heiligenbilder mit Gebeten sammeln, keine falschen Idole.«
Draußen heulte der Wind und ließ die Fenster klappern. Das kaputte Tor schlug wie eine alte Kirchenglocke. In meinem Fieberzustand hallte sein Klang zusammen mit dem Wind und der Verachtung im Gesicht der Mutter Oberin in mir wider. Ich fühlte mich zu krank, um Widerstand zu leisten.
Doch Gabrielle gab noch nicht auf. Sie versuchte es mit einer anderen Taktik, indem sie sich, diesmal mit beherrschterer Stimme, an die Mutter Oberin wandte: »Bitte, Ma Mère. Unser Großvater schenkt uns bei jedem Besuch eine Münze. Ich habe meine alle für unsinnige Dinge ausgegeben. Aber Antoinette hebt ihre immer auf. Sie könnte sie an Süßigkeiten und bunte Bänder und Krimskrams verschwenden, so wie ich, aber das tut sie nicht. Sie spart sie, damit sie, wenn sie das Kloster mal verlässt, ein bisschen was hat für den Anfang.«
Ich beobachtete den harten Ausdruck auf dem Gesicht der Mutter Oberin, in der Hoffnung, er würde sich verändern, doch das tat er nicht. Sie nahm das bisschen Geld heraus und hielt es in der Hand. Dann schloss sie ihre alten, krummen Finger darum.
»Wir sollen Almosen an die Armen und Bedürftigen verteilen«, sagte sie, »und damit...