Buch, Deutsch, 324 Seiten, Format (B × H): 160 mm x 235 mm
Buch, Deutsch, 324 Seiten, Format (B × H): 160 mm x 235 mm
ISBN: 978-3-96698-685-4
Verlag: Nova MD
Autoren/Hrsg.
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Es ist durchaus möglich, dass sich im Laufe der Jahrzehnte die „magische“ Wirkung
verloren hat, die die Formel von den „Vereinigten Staaten von Europa“ anfangs
besaß. Anfangs bedeutete sie, dass wir denselben Weg gehen würden wie die ehemaligen
Kolonien in Amerika: hin zur Schaffung eines föderalen Staates wie in den USA.
Nun stimmt es schon, dass uns der lange Weg, den der europäische Integrationsprozess
de facto gegangen ist, auch gestattet hat, bestimmte Komponenten der europäischen
Identität stärker zu machen und supranationale Institutionen zu schaffen, die echte
Macht über die gesamte Union ausüben; zugleich aber hat er gezeigt, wie stark und vertrackt
unsere nationalen Identitäten sind (welche ungleich stärker als diejenigen der ehemaligen
Kolonien in den USA sind). Der Prozess hat deutlich gemacht, dass die Staaten
absolut gewillt sind, eigene Positionen zu verteidigen, die sich nicht mit der vollständigen
Übertragung sämtlicher souveräner Rechte an die europäischen Institutionen vertragen.
Zugleich haben sich die Bereiche vervielfältigt, mit denen eine Vielzahl menschlicher
Aktivitäten miteinander verflochten sind. Dadurch wurden die Regulierungen und Aufsichtsfunktionen
immer komplexer. Die entsprechenden Funktionen gehören zu unterschiedlichen
Entscheidungsebenen. „Multilevel Governance“ ist dafür die heutzutage favorisierte und
praktizierte Formel. Wir haben es mit pluralen Strukturen zu tun, die kaum mehr etwas mit
dem Streben nach Vereinheitlichung zu tun haben, wie sie in der Schaffung des „Staatenbundes“
zum Ausdruck kam. Damals ging es darum, dem neuen politischen Gebilde sämtliche
Funktionen zu übertragen, die zuvor die Souveränität der einzelnen Staaten ausgemacht hatten.
Es war also die Souveränität selbst, die von einer Instanz zur nächsten „wanderte“.
Bedeutet das, dass der Begriff „Vereinigte Staaten von Europa“ überholt ist? Dass wir ihn
aufgeben und auf die Erwartungen und Ansprüche verzichten sollten, die die europäischen Befürworter
damit jahrzehntelang verbunden haben? Auf gar keinen Fall, wenn und insofern wir
weiterhin der Ansicht sind, dass nicht nur die Wirtschafts - und Währungsunion, sondern auch
die politische Union ein erstrebenswertes, ja, notwendiges Ziel ist. Wobei dessen Verwirklichung
ja durchaus nicht voraussetzt, dass man zu einer Verfassung nach amerikanischem oder deutschem
oder australischem Muster gelangt. Es sei daran erinnert, dass die Föderalisten unter
den Gründervätern Europas dies sehr wohl erkannt haben; man denke an Altiero Spinelli, der
das explizit formuliert hat. Für ihn war zentral, dass den Staaten deren vernetzte, „transversale“
Gewalten weggenommen würden: Militär, Aussenpolitik, Wirtschafts - und Geldpolitik,
aufgrund deren sie gegeneinander Kriege geführt hatten. An diese Stelle musste Europa treten.
Was den „Rest“ betraf, sollten die Staaten, so Spinelli, weiter nach Gutdünken verfahren.
Giuliano Amato