Earthdawn-Zyklus, Band 05
E-Book, Deutsch, Band 5, 300 Seiten
Reihe: Earthdawn
ISBN: 978-3-95752-494-2
Verlag: Ulisses Medien und Spiel Distribution GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Sam Lewis ist ein amerikanischer Spieleentwickler. Er hat Wirtschaftswissenschaften studiert und Dragonriders of Pern entwickelt bevor er zum Präsidenten des Verlags FASA aufstieg. Dort arbeitete er an Renegade Legion, Battletroops, BattleTech und Shadowrun. Seither arbeitet Sam Lewis an Computerspielen wie der Star Wars-Linie von Sony Online Entertainment und Fusion Call.
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ALLES HAT SEINEN PREIS Tom Dowd In der Zeit kurz vor der Plage wartet das im Schatten der Caucaviaberge gelegene Dorf Vissale voller Angst auf die Ankunft der schrecklichen Dämonen und die langen Jahre der Finsternis, die danach folgen sollen. Das Dorf wartet außerdem auf eine große Karawane aus Thera, die ihre einzige Überlebenschance darstellt. Einige der Bewohner Vissales warten still und reden weder mit sich selbst noch mit jemand anderem über die bevorstehende Zeit der Finsternis. Manche sind nervös und ergehen sich in sorgenvollen Überlegungen. Andere äußern sich lautstark gegen das Therani- sche Reich, denn sie können nicht vergessen, was es in der Vergangenheit von Vissale verlangt und genommen hat. Ein paar traurige wenige werden fast verrückt vor Angst. Doch ein Teil der Bewohner Vissales plant und bereitet die Zukunft vor – eine Zukunft, die nur kommen kann, wenn Vissale die Plage übersteht. Größtenteils gehen die Dörfler wie üblich ihren Beschäftigungen nach. Doch ein paar sitzen hoch oben in den großen schlanken Bäumen, die die Talstraße überblicken. Von den Dorfältesten dorthin gesandt, warten die Beobachter voller Furcht und Ungeduld. Ihre Aufgabe besteht darin, beim ersten Anzeichen der sich nähernden Erlösung Alarm zu geben. Sie sind es, welche die Nachricht ins Dorf tragen werden, daß die Karawane mit den magischen Siegeln und Schutzvorrichtungen endlich eingetroffen ist. Heute ist Paila auf Beobachtungsposten, die noch nicht ganz erwachsene Tochter eines der Dorfältesten. Eines Tages wird sie wunderschön sein, aber die Schönheit braucht noch Zeit, um sich zu entfalten. Tevern, ein Jahr jünger und der jüngste Sohn eines Hirten, kann sie bereits in ihr sehen. Er sitzt mit Paila in den höchsten Wipfeln eines Baumes und betrachtet sie insgeheim, während sie auf die Schatten der tiefhängenden Wolken starrt, die langsam durch das Tal ziehen. Sie ist sehr zurückhaltend, viel zurückhaltender, als er sie kennt, und will ihm den Grund dafür nicht nennen. Er wünschte, sie täte es, denn obwohl ihm die Musik des Waldes, der Luft und der Tiere gefällt, ist es eigentlich ihre Stimme, die er hören will. Und dann, plötzlich, hört er sie. »Denkst du je darüber nach, was sich dort draußen befindet, Tev?« fragt Paila leise, den Blick weiterhin in die Ferne gerichtet. »Nein«, sagt er. Warum sollte er auch? Hier in Vis- sale gibt es so viel. Schafe und Schweine sind zu hüten, Gärten und Zäune zu pflegen. Auf dem Bauernhof gibt es immer Arbeit. »Ich schon«, sagt sie, dann richtet sie sich plötzlich auf, während die langen Strähnen ihrer fast goldenen Haare im Wind flattern. Ihre Augen weiten sich, und sie stößt ein leises Keuchen aus. Er richtet sich ebenfalls auf, und sein Blick sucht, was ihre Augen bereits sehen. Ihr ausgestreckter Finger weist ihm die Richtung, und er sieht: weit unten, weit entfernt, durchdringt ein kupferfarbenes Glitzern das Grün und verschwindet dann wieder. Aufgeregt fragt Tevern sie: »Glaubst du...?« Sie nickt, den Blick starr auf die betreffende Stelle gerichtet. Sie darf dieses Licht nicht aus den Augen verlieren. »Sie muß es sein.« »Wir sollten gehen«, sagt er. »Wir müssen es den anderen sagen.« Paila antwortet nicht, sondern betrachtet die Lichtspiegelung, die jetzt wieder zu sehen ist, und zwar etwas näher als zuvor. Tevern glaubt, Bewegung erkennen zu können, Gestalten. Eine lange Reihe, die auf sie zu marschiert. »Wir müssen es den anderen sagen«, wiederholt er. Diesmal nickt sie, wendet sich jedoch nicht ab. »Ja«, sagt Paila mit leiser und angespannter Stimme. »Ich gehe. Du bleibst und hältst weiter Wache.« Tevern erhebt Einwände, aber ihre Entschlossenheit behält die Oberhand. Sie klettert den Baum hinab und hält dann plötzlich inne, bevor sie sehr weit gekommen ist. Sie berührt ihn am Bein, behutsam. Es ist das erstemal, daß sie ihn je berührt hat. Er sieht zu ihr hinab, aber ihr Blick ist abgewandt und auf das Tal gerichtet. »Wir müssen tun, was wir können?« fragt sie. »Alles tun, was wir können, um alle zu retten?« Tevern weiß nicht genau, was sie meint, nickt aber dennoch. »Ja«, sagt er. »Es ist nicht falsch zu tun, was wir tun müssen«, fährt sie fort, »so daß alle überleben?« Sie blinzelt. »Oder?« »Nein«, antwortet er. »Nein, das ist es nicht.« Sie nickt, dann klettert sie weiter nach unten. Tevern beobachtet Paila, die sich langsam von ihm entfernt, und fragt sich, was es ist, das er nicht weiß. Dann, als er sich wieder dem schwachen, tanzenden kupferfarbenen Licht zuwendet, empfindet er plötzlich so etwas wie Trauer und eine gänzlich unerwartete Angst. Der Ort ist klein, zählt nicht mehr als fünfhundert jetzt verstummte Seelen. Sie alle starren auf das, was da zu ihnen gekommen ist – eine kleine Karawane, die aus einer Reihe von einem Dutzend Sklaven besteht, denen sechs majestätische, silbergeschmückte Pferde und Reiter folgen, welche einen Wagen aus Kupfer und Gold eskortieren. Der Wagen schwebt in der Luft, allein von der Kraft der Magie gehalten. Aus metallischen Fäden gewobene Banner flattern in der steten Brise des Windes und des ständigen Schnaubens der Pferde ihrer Träger und fangen die letzten Sonnenstrahlen des Tages ein. Die silber- und kupferfarbenen Rüstungen der Soldaten funkeln im Licht. Die kurzen farbigen Blitze, die über das Dorf huschen, vertreiben selbst die dunkelsten Schatten, wenn auch nur für einen Augenblick. Das Theranische Reich ist nach Vis- sale zurückgekehrt. Deavain, Kedate und Abgesandter des mächtigen Thera, seufzt und wendet den Blick von den verängstigten, aufwärts gerichteten Gesichtern ab. Statt dessen läßt er sich von den letzten Sonnenstrahlen blenden. Die letzten Strahlen, denkt er, das wird in allzu kurzer Zeit nur allzu wahr sein. Verdunkelt, sagen die Seher und Magier, von Wolken des Bösen. Wolken übler Kreaturen, die aus den tiefsten Schlünden der Niederwelten heraufsteigen. Wolken einer magischen Seuche, die von ihren furchtbaren Taten erschaffen wird. Und Wolken aus Rauch und Asche, die von den letzten brennenden Überresten der Ländereien der Menschheit in den Himmel steigen. Siebzig Tage. Mehr bleiben ihm nicht. So wenig Zeit, um seine Aufgabe hier und in dem anderen Dorf, Tol- pus, zu erledigen, bevor er wieder nach Parlainth und zu den Anfängen der Dekaden der Vorbereitung zurückkehrt. Dort wird er sich vor der Langen Nacht und der Verwüstung des Landes in Sicherheit bringen. Die Reise nach Parlainth ist lang, so daß ihm nur sechs Tage bleiben, um seine Arbeit hier zu vollenden. Sechs Tage, um die Einwohner Vissales davon zu überzeugen, daß ihre Kinder ohne ihn keine Zukunft haben. Die Sonne verschwindet gänzlich hinter den Bergen, und er schließt die Augen. So viel Zeit an so wenige verschwendet. Der Pavillon ist nach theranischen Grundsätzen errichtet worden, drei kleinere Zelte, die in einem Dreieck um das größte Zelt angeordnet sind. Die Soldaten stehen mit ihren Bannern auf den Seitenlinien des Dreiecks. Der schwebende Wagen ist mittlerweile gelandet und steht hinter dem Mittelzelt. Daneben wacht ein schreckliches, gigantisches Menschenwesen aus schwarzem und grauem Stein. Es trägt keine Rüstung, jedoch ein Schwert von der Größe eines Frauenkörpers. Es steht, es wartet, es bewacht. Die magischen Geheimnisse der Theraner befinden sich in diesem Wagen, glauben die Dörfler, doch sie wagen nicht, sich ihm zu nähern. Der Pavillon ist ruhig. Es ist Abend geworden. Ohne Feuer brennende Fackeln beleuchten die Zelte und ihre Wachen. Der Geruch unbekannter Speisen liegt in der Luft, als sich die Dorfältesten in der Nähe in zwei Gruppen versammeln, die Männer auf der einen Seite, die Frauen auf der anderen. Sie beraten miteinander. Zweimal gehen beide Gruppen zu den Zelten, und zweimal werden sie von den Wachen abgewiesen. Man sagt ihnen, daß der Kedate, der Abgesandte des mächtigen Thera, mit ihnen reden wird, wenn er dazu bereit ist. Ist es wahr? fragen die Dorfältesten. Das Ende der Welt steht bevor? Die Wachen lachen. Ja, antworten sie ihnen. Ungeheuer kommen, um eure Seele zu verschlingen. Aber Thera wird euch beschützen, sagen sie. Wenn euer Gold einwandfrei ist. Im Zelt lächelt ihn das Elfenmädchen namens Nayade, wenn er sich recht erinnert, zurückhaltend an und zieht sich dann zurück. Deavain schwenkt den vergorenen Fruchtsaft in seinem Kelch und kostet dann vorsichtig. Zu warm. Er schüttelt den Kopf, aber diese Angelegenheit kann warten. Andere Dinge sind jetzt dringlicher. »Der Botengeist war makellos«, sagt sein Gehilfe Atalin zu ihm. »Er ließ keine Anzeichen eines Makels oder einer Dämonenbefleckung erkennen, trotz der Qualen, die er durchgemacht hat. Ich habe ihn für zukünftige Dienste behalten.« Deavain nickt. Fast wäre es ihm lieber, wenn der Geist tatsächlich verrückt wäre. Dann gäbe es einen Grund, seine Botschaft anzuzweifeln, in Frage zu stellen. Es ist allgemein bekannt, daß die Botschaften dämonenbefleckter Geister oft einen den Wünschen ihrer neuen, finsteren Herren angepaßten Inhalt haben. So aber kann es keinen Zweifel geben, trotz des Gefühls der Ruhe und Sicherheit hier. Die Botschaft lautete, daß Thera seine Türen vor der Plage geschlossen hat. Nun wird man viele hundert Jahre lang nichts mehr von der Großen Stadt hören. Nicht, solange die Lange Nacht herrscht. Atalin starrt in die kleine Urne mit dem wahren Kohlefeuer, das das Zelt vor der heranschleichenden Kälte der Nacht schützt. »Offenbar...