Levy | Was das Leben kostet | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Levy Was das Leben kostet

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

ISBN: 978-3-455-00515-8
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ausgezeichnet mit dem Prix Femina étranger 2020
Wenn sich das Leben ändert, tut es dies meist radikal. Deborah Levy und ihr Mann gehen getrennte Wege, ihre Mutter wird bald sterben. Doch die entstehende Lücke bedeutet auch Raum für Neues. In präziser und suggestiver Prosa erschreibt Levy sich aus den Bruchstücken ihres alten Selbst ein neues und fragt: Was heißt es, frei zu sein - als Künstlerin, als Frau, als Mutter oder Tochter? Und was ist der Preis dieser Freiheit?
»Jeder Satz ein kleines Meisterwerk«, schreibt The Telegraph, und so wird aus einer individuellen Geschichte ein lebenskluges und fesselndes Zeugnis einer zutiefst menschlichen Erfahrung. 
»Das Leben bricht auseinander. Wir versuchen es in die Hand zu nehmen, versuchen es zusammenzuhalten. Bis uns irgendwann klar wird, dass wir es gar nicht zusammenhalten wollen.«
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Weitere Infos & Material


Cover
Titelseite
Motto
1 Big Silver
2 Der Sturm
3 Netze
4 Leben in Gelb
5 Schwerkraft
6 Elektrokörper
7 Die schwarzbläuliche Dunkelheit
8 Die Republik
9 Nachtwandern
10 Ich bin da, wo das X ist
11 Schritte im Haus
12 Der Anfang von allem
13 Die Milchstraße
14 Frohe Botschaft
Zitatnachweise
Fußnoten
Biographien
Impressum


4 Leben in Gelb
Ich reiste umher und identifizierte mich Abend für Abend mit dem reizvollen Gedanken einer allgemeinen Destrukturation und, zugleich, eines Neuaufbaus. Elena Ferrante, Die Geschichte des verlorenen Kindes (2018) Im November jenes Jahres zog ich mit meinen Töchtern in eine Wohnung im sechsten Stock eines riesigen heruntergekommenen Wohnblocks auf einem Hügel in Nordlondon. Angeblich war hier eine umfassende Instandsetzung vorgesehen, doch wann sie beginnen sollte, stand in den Sternen. Noch drei Jahre nach unserem Einzug waren die Böden der Gemeinschaftsflure graues Industrieplastik. Die Unmöglichkeit, ein riesiges altes Gebäude zu sanieren und zu renovieren, schien mir auf trübsinnige Weise passend für diese Zeit der Auflösung und des Zerfalls. Der Prozess der Instandsetzung, die Wiederherstellung und Reparatur von etwas, in diesem Fall eines an allen Ecken und Enden bröckelnden Art-déco-Gebäudes, war die falsche Metapher für diese Phase meines Lebens. Ich wollte die Vergangenheit nicht wiederherstellen. Was ich brauchte, war ein vollständiger Neuaufbau.   Es war ein bitterer Winter. Die zentrale Heizanlage war zusammengebrochen. Es gab im ganzen Haus keine Heizung, kein warmes Wasser, manchmal auch kein kaltes. Ich hatte drei Halogenstrahler in Betrieb und unter dem Spülbecken einen Notvorrat von zwölf großen Flaschen Mineralwasser. Wenn das Wasser versiegte, gab es auch keine Toilettenspülung. Ein namenloser Hausbewohner hatte einen Zettel an die Aufzugtür geklebt. HILFE. Bitte! In den Wohnungen ist es unerträglich kalt, könnte bitte jemand etwas TUN? Meine ältere Tochter, die im ersten Semester studierte, witzelte, dass das Studentenleben im Vergleich dazu der reinste Luxus sei. Nachdem sie zum Studium fortgegangen war, wachte ich wochenlang in den frühen Morgenstunden mit dem mulmigen Gefühl auf, dass irgendwas nicht stimmte. Wo war mein erstgeborenes Kind? Und immer dauerte es eine Weile, bis mir wieder einfiel, dass wir alle in ein anderes Leben unterwegs waren.   Der Versuch, ein altes Leben einem neuen Leben einzupassen, war ein sinnloses Unterfangen. Der alte Kühlschrank war zu groß für die neue Küche, das Sofa zu groß fürs Wohnzimmer, die Betten hatten das falsche Format für die Schlafzimmer. Die meisten meiner Bücher waren in Kisten verpackt und lagerten zusammen mit der restlichen Habe aus dem Familienhaus in der Garage. Schmerzlicher war, dass ich in einer Zeit, in der ich beruflich so ausgelastet war wie nie in meinem Leben, kein Arbeitszimmer mehr hatte. Ich schrieb, wo immer es ging, und war ansonsten darauf konzentriert, meinen Töchtern wieder ein Zuhause zu schaffen. Ich könnte behaupten, dass es diese Phase meines Lebens war, die mir die größten Opfer abverlangte, nicht die Jahre in unserer Kernfamilieneinheit. Aber ein neues Zuhause einzurichten, einen Raum für eine Mutter und ihre Töchter zu schaffen, war derart mühsam und anstrengend, derart umfassend und interessant, dass ich zu meiner Überraschung feststellte: Es bekam mir, das Chaos jener Zeit; ich funktionierte sehr gut. Ich dachte klar und fokussiert; der Umzug auf den Hügel und meine neue Lage hatten etwas in mir freigesetzt, das unterdrückt und eingesperrt gewesen war. Mit fünfzig, in einem Alter, in dem angeblich die Knochen ihre Robustheit verlieren, wurde ich körperlich stark. Ich hatte Energie, weil mir nichts anderes übrig blieb, als Energie zu haben. Ich musste schreiben, um meine Kinder zu versorgen, und ich musste alles Schwere selber schleppen. Freiheit ist nie umsonst. Wer je um Freiheit gerungen hat, weiß, was sie kostet.   Ich schleppte zwei riesige steinerne Blumentöpfe aus dem Garten des Familienhauses herbei und stellte sie auf den Balkon vor meinem Schlafzimmer. Der Balkon hatte das Format eines langen, schmalen Küchentisches; es gab gerade genug Platz für ein winziges rundes Tischchen und zwei Stühle. Die Töpfe wirkten wie zwei Ozeandampfer, die in einem Weiher ankern. Sie gehörten nicht hierher. Nicht in dieses neue Leben unter dem Himmel mit weiten Ausblicken über London. Die trostlosen Wände der Gemeinschaftsflure waren irgendwann in den Siebzigern in einem gesprenkelten Grau gestrichen worden, vermutlich passend zu dem grauen Plastik, unter dem der frühere grüne, räudig gewordene Teppichboden verschwunden war. In diesen Fluren brannte Tag und Nacht Licht, ein gleichbleibend trübes Zwielicht. Manchmal fühlte man sich wie in einer Fruchtblase, als schwämme man in einer grauen Membran; geradezu psychedelisch. Meine Freunde fanden, diese Flure könnten direkt aus Shining stammen. Ich begann sie »Flure der Liebe« zu nennen. Jeder Lieferant, der zum ersten Mal an unsere Tür kam (es gab dort mehr als hundert Wohnungen), wirkte leicht panisch und desorientiert, wenn ich aufmachte. Wenn man die Augen zusammenkniff, konnte man sich einreden, die Flure seien eine Version von Don Drapers New Yorker Wohnung aus Mad Men – nach Eintreten einer kleineren Katastrophe: kein Erdbeben, aber vielleicht ein Erdstoß, der den derzeitigen Bewohnern des Gebäudes einen flüchtigen Eindruck davon vermittelte, wie es früher hier gewesen war. Hatte man dann aber die Wohnung betreten, war es hell und luftig, zumal im Vergleich zu unserem düsteren viktorianischen Familienhaus. Vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung lebten wir mit dem Himmel, mit seinen silbrigen Nebelschwaden und ziehenden Wolken und Monden in wandelnder Gestalt.   Manchmal, wenn ich nachts im Wintermantel auf dem Balkönchen saß und schrieb, schienen mir die Sterne sehr nah. Ich hatte das büchergefüllte Studio meines früheren Lebens gegen einen winterlichen Sternenhimmel eingetauscht. Zum ersten Mal genoss ich den britischen Winter.   Ich hatte zwei blühende Erdbeerbäumchen geschenkt bekommen, die gern auf dem Balkon lebten. Wie schaffte es diese immergrüne Pflanze, im November scharlachrote Beeren hervorzubringen? Anscheinend ist die Spezies noch vor der letzten Eiszeit entstanden; vielleicht ist sie deshalb gestählt und liebt die Kälte. In manchen Nächten arbeitete ich in meinem Schlafzimmer, wie eine Studentin, nur ohne Bier, Chips und Joints. In meinem früheren Leben hatte ich frühmorgens geschrieben, jetzt war ich Morgen- und Nachtmensch geworden. Wann schlief ich in dieser Phase eigentlich? Nach der vielen Schlepperei war es ein Schock, über den Rhythmus eines einzelnen Satzes zu grübeln. Drei Tage nach dem Einzug landete in den frühen Morgenstunden, kurz vor Tagesanbruch, eine riesige schläfrige Biene auf meinem Bildschirm. Gleichzeitig hörte ich es um die Glühbirne meiner Lampe summen, und als ich aufblickte, waren weitere fünf Bienen im Zimmer, die wesentlich lebendiger waren als die auf dem Bildschirm dösende dicke Zarin. Ich hatte seit jeher Begegnungen mit Bienen und habe mich oft gefragt, weshalb die Protagonisten der Märchen, wenn sie durch Wald und Flur streifen, so gut wie nie von Insekten gestochen oder gebissen werden. Das Rotkäppchen zum Beispiel müsste, lange vor der Verspeisung durch den Wolf, auf seinem kuchen- und weinbeladenen Gang durch Buchen- und Fichtenwald zum Häuschen der Großmutter von Insekten geplagt worden sein und mückenzerstochene Schienbeine gehabt haben. Und was ist mit den Ameisen, Spinnen, Zecken und Bremsen, mit denen es und wir das Leben teilen? Woher kamen diese Londoner Winterbienen? Vielleicht hatten sie erst die Erdbeerbäumchen besucht, ehe sie hereingeflogen kamen. Es schien mir ein gutes Zeichen, dass die Bienen mein Glück und Elend mit mir teilen wollten. Und ich mit ihnen? Ich schaltete die Lampe aus, dann den Laptop und ging aus dem Zimmer. Als ich mich im Wohnzimmer, wo sich noch zwölf unausgepackte Kisten an der Wand stapelten, aufs Sofa legte, kam mir ein Gedicht von Emily Dickinson in den Sinn. Man könnte sagen, es flog mich aus dem Nichts heraus an, aber das Nichts gibt es ja nicht. Meine Dickinson-Bände lagerten alle in Bücherkisten, die in der Garage vor sich hin gammelten. Diese Kisten waren es, die mir durch den Sinn gegangen waren. Ruhm ist wie Bienen Kann singen – Kann stechen – Ah ja, auch fliegen. Ich wünschte, der Ruhm hätte Emily Dickinson noch zu Lebzeiten beflügelt. Ich wusste, wie Zermürbung sich anfühlt – und Hoffnung, dieses gefiederte Wesen, das immerfort singt, wie Dickinson sagt, aller Entmutigung und Vernachlässigung zum Trotz. Emily Dickinson war zur Einsiedlerin geworden. Ob sie sich für ihren Griff nach Freiheit, ihre Auflehnung gegen jede Art der Herrschaft bestrafte? Noch eins ihrer Gedichte fiel mir ein, aus dem Nichts, das immer irgendwas ist, und darin kam das Wort »Gattin« vor. Ich wusste nur noch die erste Zeile: Gattin bin ich – das liegt hinter mir – Ich dachte darüber nach, was genau hinter ihr lag, und dann schlief ich ein, in Jeans und Stiefeln wie ein Cowgirl, nur dass meine Prärie der Himmel war. In diesem Winter aßen meine Tochter und ich gern Orangen zum Frühstück. Wir schälten und zerlegten die Frucht am Abend vorher, machten einen Sirup aus Wasser und Honig und stellten alles zusammen in den Kühlschrank. Experimentierfreudig geworden, probierten wir auch Kardamomsamen und Rosenwasser aus, aber das war ein bisschen wie Blumen zum Frühstück. Den Bienen hätte es vielleicht geschmeckt, aber allzu heimisch sollten sie sich bei uns auch wieder nicht fühlen. Inzwischen besaß ich eine dieser Vogeluhren, die...


Levy, Deborah
Deborah Levy, geboren 1959 in der Südafrikanischen Union, ist eine britische Theater- und Romanautorin sowie Lyrikerin. Ihre Stücke werden u. a. von der Royal Shakespeare Company aufgeführt. Ihre Romane Swimming Home (2011; dt. Heim schwimmen, 2013) und Hot Milk (2016; dt. Heiße Milch, 2018) standen auf der Man Booker Prize Shortlist. Deborah Levy lebt und arbeitet in London.

Schaden, Barbara
Barbara Schaden, hat in Wien und München Romanistik, Turkologie und Persisch studiert und viele Jahre als Verlagslektorin gearbeitet. Zu den von ihr übersetzten Autor*innen gehören u. a. Matthieu Aikins, Margaret Atwood, Patricia Duncker, Umberto Eco, Daniel Finkelstein, Nadine Gordimer, Kazuo Ishiguro, Fleur Jaeggi, Deborah Levy, Pankaj Mishra und Siddhartha Mukherjee.

Deborah Levy, geboren 1959 in der Südafrikanischen Union, ist eine britische Theater- und Romanautorin sowie Lyrikerin. Ihre Stücke werden u. a. von der Royal Shakespeare Company aufgeführt. Ihre Romane Swimming Home (2011; dt. Heim schwimmen, 2013) und Hot Milk (2016; dt. Heiße Milch, 2018) standen auf der Man Booker Prize Shortlist. Deborah Levy lebt und arbeitet in London.


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