Levy | Ein eigenes Haus | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Levy Ein eigenes Haus

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-455-00604-9
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wie wird und wie bleibt man die Hauptfigur des eigenen Lebens, und zwar als Frau? Was braucht es, um diese Rolle nicht nur auszufüllen, sondern darin auch ein erfülltes Leben zu führen? Was sollten wir "besitzen, worauf Anspruch erheben, was wegwerfen, was weitergeben"? Nach dem internationalen Erfolg von Was das Leben kostet setzt Deborah Levy in Ein eigenes Haus ihre Verortung des weiblichen Selbst im 21. Jahrhundert konsequent fort.
 Deborah Levy ist um die sechzig. Die großen Lebensstationen wie die Familiengründung, der Abschied von den eigenen Eltern, die Begleitung der Kinder hinaus ins Leben liegen hinter ihr. Aber was heißt das schon? Bleibt die große Frage nicht immer, was das Leben wert ist? Und wann steht man eigentlich "mitten" darin? Zu einem Zeitpunkt, der zunächst vor allem vom Danach bestimmt scheint, wagt Levy eine Bestandsaufnahme ihres Habens und Wollens, all der tatsächlich durchschrittenen und nur erträumten Lebensräume, und gelangt zu überraschenden und rasiermesserscharf formulierten Einsichten darüber, worauf es in der weiblichen Hauptrolle wirklich ankommt.
Levy Ein eigenes Haus jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Cover
Verlagslogo
Titelseite
Motto
1 London
2
3 New York
4 London
5 Mumbai
6 London
7
8 Paris
9
10 Berlin
11 Paris
12 Das Achtzehnte
13 London
14 Griechenland
Zitatnachweise
Fußnoten
Biographien
Impressum


2
Es war eine Oase, im wahrsten Sinn des Wortes, errichtet zwischen Palmen, Farnen und hohem Bambus. Ich traute meinen Augen nicht – oder meinem Glück. Der Garten rings um meine neue Schreibwerkstatt, die auf einer Holzterrasse stand, ähnelte einem tropischen Regenwald. Eigentlich hätte ich mein Bananenbäumchen diesem Garten vermachen sollen, aber es gehörte inzwischen zur Familie, da hatten meine Töchter schon recht. Mein Vermieter händigte mir den Schlüssel zum Seiteneingang aus, damit ich ihn nicht im Haupthaus stören musste. Als ich ankam, hatte er mir eine Hyazinthe in den Schuppen gestellt, deren Duft zu gleichen Teilen überwältigend und einladend war. Vielleicht sogar brutal. Ich packte aus: drei russische Kaffeegläser mit Henkel, eine Pressstempelkanne, ein Einweckglas Kaffee (100 % Arabica), zwei Mandarinen, eine Flasche rubinroten Portwein aus Porto (Überbleibsel von Weihnachten), zwei Flaschen Mineralwasser, italienisches Mandelgebäck, drei Teelöffel, meinen Laptop und zwei Bücher. Und einen Netzadapter natürlich, diesmal in Form eines Kabels mit Vierfachsteckdose. Mein Vermieter, der in Neuseeland geboren war, hatte den Garten rings um meinen neuen Schuppen mit Fingerspitzengefühl, Phantasie und vielleicht auch Nostalgie angelegt; ein Stück Neuseeland in London NW8, dachte ich. Anders ausgedrückt, seine Heimat geisterte durch seinen Londoner Garten, weil sie auch noch durch ihn geisterte.   Auf einem österreichischen Literaturfestival hatte ich einmal eine rumänische Schriftstellerin kennengelernt, die 1987 in die Schweiz geflüchtet war. In einer Züricher Straße, die, dachte sie, ihrer Straße in Bukarest ähnelte, hatte sie ein Zimmer gemietet. Und dann hatte sie ihr Züricher Zimmer ganz ähnlich eingerichtet wie ihr Zimmer in Bukarest. Sie erinnerte mich daran, dass ich mit neunundzwanzig unter dem Titel Swallowing Geography ein Buch mit lauter einzelnen, aber miteinander verknüpften Geschichten veröffentlicht hatte. Das hatte ich natürlich nicht vergessen, aber es freute mich, dass es ihr neu vorkam. Sie gestand mir, dass sie ein Zitat daraus, Worte der Erzählerin, an die Wand neben ihrem Bett geheftet hatte: Jede neue Reise ist ein Trauern um das, was zurückgelassen wurde. Manchmal versucht der Wanderer, Zurückgelassenes an anderem Ort neu erstehen zu lassen. Anscheinend war ich jetzt eifrig dabei, die neue Schreibwerkstatt meiner früheren möglichst ähnlich zu machen. Ich entrollte das Kabel mit den Steckdosen und machte mir eine Kanne Kaffee. Dann hob ich mein Kaffeeglas und trank auf die Schriftstellerin aus Bukarest. »Wie geht’s dir?«, fragte ich sie im Geist. »Hoffentlich läuft es gut für dich.« Damals in Österreich hatten wir miteinander gelacht, nachdem sie mir erzählt hatte, dass sich im Publikum jemand mit einer Frage nach ihrer rumänischen Heimat gemeldet habe. Sie hatte unter einem der repressivsten kommunistischen Regime weltweit gelebt und war auf Gewichtiges gefasst – zum Beispiel die Frage, wie man als Schriftstellerin mit Sprache arbeiten könne, wenn einem sämtliche Freiheiten genommen seien, oder wie schwer es sei, sich zu erinnern und zu vergessen und sich neu zusammenzusetzen –, und sie fürchtete, sie sei womöglich nicht in der Lage, darauf zu antworten. Tatsächlich aber lautete die Frage: »Könnten Sie mir vielleicht sagen, ob man das Leitungswasser dort bedenkenlos trinken kann?« Im Nachgang ergänzten wir beide: »Und könnten Sie mir vielleicht das WLAN-Passwort geben, und gibt es dort Mücken?«   Meine neue Schreibwerkstatt war dem Leben, das ich mir wünschte, sehr nahe, auch wenn es nur ein vorläufiges Arrangement war. Das heißt, es war nicht meine Immobilie, sie gehörte mir nicht, ich war nur die Mieterin; aber die Stimmung gehörte mir. Sogar die englischen Vögel, die in London NW8 zwitscherten und riefen, kamen mir tropisch vor. Aus meinem alten Schreibschuppen war ich noch nicht ganz ausgezogen, aber Celia, meine alte Schuppenvermieterin, hatte ihr Haus zum Verkauf ausgeschrieben, und es war klar, dass ich mich anderweitig umsehen musste.   Der neue Schuppen war nicht weit von der Abbey Road, wo ich meinen Roman Der Mann, der alles sah ansiedeln wollte. Ich geisterte durch die Abbey Road, und sie geisterte durch mich. »Home is where the haunt is«, schrieb der vor einigen Jahren verstorbene Hauntologe und Kulturwissenschaftler Mark Fisher: »Zu Hause ist, wo die Gespenster sind« – eine Aussage, mit der ich mich unbedingt identifizierte. Ich war ja sozusagen immer noch eine geisterhafte Bewohnerin meines alten Schuppens, wo noch viele meiner Bücher in den Regalen schmachteten. Auch mein PC wohnte noch dort auf dem Schreibtisch, jetzt unter einem weißen Tuch, und der provenzalische Ofen, den ich einquartiert hatte, um im Winter heizen zu können, war Obdach für kleine Spinnen und ihre riesigen geometrischen Netze geworden. Unterdessen lauerte hier im neuen Schuppen ein Gespenst, es saß auf der ersten Seite eines der Bücher, die ich mitgebracht hatte, und war eine handgeschriebene Widmung vom Vater meiner Kinder aus dem Jahr 1999; damals war ich verheiratet, und wir lebten als Familie in unserem gemeinsamen Haus. Meiner Herzliebsten zum letzten Weihnachten des Jahrhunderts mit 1000 Jahren Hingabe Es war ein Schock. Ich musste das Buch aus der Hand legen und mich vom Hyazinthenduft benebeln lassen wie von Morphium. Nach einer Weile nahm ich das Buch wieder auf und starrte auf die Widmung. Und fragte mich, wer diese geisterhafte Frau war, zwanzig Jahre früher, der dieses Buch mit seiner liebevollen Widmung zum Geschenk gemacht worden war. Ich versuchte mit ihr (meinem jüngeren Ich) Verbindung aufzunehmen, versuchte mich zu erinnern, wie sie damals auf das Geschenk reagiert hatte. Allzu deutlich wollte ich sie nicht sehen. Aber zuwinken wollte ich ihr. Mir war klar, dass auch sie mich nicht würde sehen wollen (ach, da bist du, fast sechzig und allein), und ich sie ebenso wenig (ach, da bist du, vierzig Jahre alt, versteckst deine Fähigkeiten und versuchst, deine Familie zusammenzuhalten), aber sie und ich suchten einander heim, Geister durch die Zeit.   Hallo. Hallo. Hallo.   Mein jüngeres Ich (grimmig, traurig) wusste, dass ich sie nicht verurteilte. In den zwanzig Jahren, die uns von dem Zeitpunkt trennten, zu dem ich dieses Geschenk mit seiner Liebeswidmung erhalten hatte, hatten wir beide Verschiedenes verloren und gewonnen. Hin und wieder hatte ich Flashbacks von unserem Familienhaus. Auch dort spukte es, das Gespenst war mein Unglücklichsein, und ich bemühte mich vergeblich, die Stimmung zu verändern und auch Gutes daran zu finden, aber dem Haus fiel es nicht ein, meinem Wunsch zu entsprechen und aus der Stimmung eine neue Erinnerung zu machen. Im Vergleich zu unserem Familienhaus war der heruntergekommene Wohnblock auf dem Hügel weitaus bescheidener, seine Stimmung aber war fröhlich, heiter, freundlicher und nicht hoffnungslos – eher erwartungsvoll.   Ich warf noch einmal einen Blick auf die Widmung. Meiner Herzliebsten zum letzten Weihnachten des Jahrhunderts Das Sonderbare war, dass das Buch selbst (berühmter Autor) von einem Mann handelte, der sich von seiner Familie getrennt hat und sich daranmacht, ein neues Leben mit verschiedenen Frauen zu führen. Eine dieser jungen Frauen betet ihn derart an, dass sie die Hand ausstreckt, um ihm den Rotz aus der Nase zu klauben. Sie hat ihn zum Zweck ihres Lebens gemacht; ob sie etwa noch einen eigenen Lebenssinn hat, wissen wir nicht. Die beiden haben viel Sex, aber wir haben keine Ahnung, ob sie es ebenso genießt wie er. Alle Gedanken und Gefühle der weiblichen Figur, die sich dieser Autor ausgedacht hat, richten sich, sofern vorhanden, ausschließlich auf den Mann.   Wahrscheinlich hatte ich mir dieses Buch damals gewünscht. Es kann also sein, dass ich entweder beide Augen davor verschloss, wie man so schön sagt, oder aber ich wollte irgendetwas herausfinden. Immerhin hatte ich das Buch in meinen neuen Schuppen mitgenommen. Ja, so viele Jahre später hatte ich immer noch eine unbefriedigte Neugier, was die Gestaltung literarischer Charaktere, besonders weiblicher Charaktere, betraf. Letztlich geht es im Leben doch darum, immer freier zu denken, zu fühlen, zu leben, zu lieben: Eine weibliche Figur zu konstruieren, die kein eigenes Leben hat, ist also ein durchaus interessantes Projekt. Die Frau aus der Geschichte ist eine, die ihr Leben einem Mann geschenkt hat. Derlei zu Hause auszuprobieren ist nicht empfehlenswert, aber in der Regel passiert es dort.   Wie geht ein Schriftsteller an die gewaltige Aufgabe heran, eine weibliche Figur zu erfinden, die kein Bewusstsein hat, ja nicht einmal ein Unterbewusstsein, als wäre es das Normalste der Welt? Vielleicht war es in seiner Welt normal. Dabei ist es eine Heidenarbeit, überhaupt einen fiktiven Charakter zu konstruieren, egal, wie er beschaffen ist. Die Drehbuchautorin und Regisseurin Céline Sciamma schrieb, die Frauenfigur im Film bekomme ihre Sehnsüchte und Wünsche zurück, wenn ihr eine Subjektivität zugestanden werde. Aber, kam mir in den Sinn, vielleicht war es für einen Autor seiner Generation schlicht nicht vorstellbar, eine Frauenfigur mit Bedürfnissen auszustatten, die nicht einfach seine sind. Die Frau in seiner...


Levy, Deborah
Deborah Levy, geboren 1959 in der Südafrikanischen Union, ist eine britische Theater- und Romanautorin sowie Lyrikerin. Ihre Stücke werden u. a. von der Royal Shakespeare Company aufgeführt. Ihre Romane Swimming Home (2011; dt. Heim schwimmen, 2013) und Hot Milk (2016; dt. Heiße Milch, 2018) standen auf der Man Booker Prize Shortlist. Deborah Levy lebt und arbeitet in London.

Schaden, Barbara
Barbara Schaden, hat in Wien und München Romanistik, Turkologie und Persisch studiert und viele Jahre als Verlagslektorin gearbeitet. Zu den von ihr übersetzten Autor*innen gehören u. a. Matthieu Aikins, Margaret Atwood, Patricia Duncker, Umberto Eco, Daniel Finkelstein, Nadine Gordimer, Kazuo Ishiguro, Fleur Jaeggi, Deborah Levy, Pankaj Mishra und Siddhartha Mukherjee.

Deborah Levy, geboren 1959 in der Südafrikanischen Union, ist eine britische Theater- und Romanautorin sowie Lyrikerin. Ihre Stücke werden u. a. von der Royal Shakespeare Company aufgeführt. Ihre Romane Swimming Home (2011; dt. Heim schwimmen, 2013) und Hot Milk (2016; dt. Heiße Milch, 2018) standen auf der Man Booker Prize Shortlist. Deborah Levy lebt und arbeitet in London.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.