E-Book, Deutsch, Band 6541, 209 Seiten
Reihe: Beck Paperback
Zehn Thesen
E-Book, Deutsch, Band 6541, 209 Seiten
Reihe: Beck Paperback
ISBN: 978-3-406-80899-9
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Geschichte wiederholt sich nicht, und sie liefert keine Blaupausen für die Probleme der Gegenwart. Aber sie bietet ein unerschöpfliches Reservoir an konkreten Konflikten und Konstellationen. Sie erlaubt durch den Blick auf das Entfernte, jenen Abstand zu gewinnen, der uns klarer sehen und mehr erkennen lässt. Das gilt auch für die Frage, wie der Krieg in der Ukraine enden könnte. Was veranlasste Akteure dazu, Kriege fortzusetzen? Warum war häufig gerade die Endphase von Kriegen besonders blutig? Und wann öffneten sich Fenster für die Diplomatie? Die meisten Übergänge vom Krieg in den Frieden waren verschlungen, konnten immer wieder verzögert und unterbrochen werden. Je länger ein Krieg dauerte und je mehr Opfer er anhäufte, desto komplizierter und widersprüchlicher gestaltete sich der Ausgang. Und auch das zeigt die Geschichte: Die eigentliche Arbeit am Frieden beginnt erst, wenn der Friedensvertrag unterschrieben ist.
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Einleitung
Für Onoda Hiro endete der Zweite Weltkrieg erst im März 1974, 28 Jahre und sechs Monate nach der bedingungslosen Kapitulation Japans, die Vertreter der Kaiserlichen Regierung am Vormittag des 2. September 1945 auf dem Deck des amerikanischen Kriegsschiffs USS Missouri in der Sagami-Bucht bei Tokio vollzogen hatten. Geboren 1922, hatte Onoda als Leutnant in den japanischen Streitkräften gedient und war 1945 auf der philippinischen Insel Lubang stationiert gewesen. Bei der Eroberung der Insel durch amerikanische Truppen im Februar 1945 starb der Großteil der japanischen Soldaten bei den Kämpfen oder wurde gefangen genommen. Onoda und drei seiner Kameraden jedoch gelang die Flucht in den Dschungel. Dort entdeckten sie in den kommenden Monaten zwar Flugblätter, auf denen japanische Kommandeure über die Kapitulation Japans berichteten und die verbliebenen Soldaten in ihren Verstecken aufforderten, sich zu ergeben. Doch Onoda und seine Kameraden hielten die Flugblätter für amerikanische Propaganda, um den Durchhaltewillen der japanischen Soldaten zu brechen. Als sich einer der vier Soldaten von der Gruppe entfernte und ergab, drangen zum ersten Mal Nachrichten über das Schicksal der versteckten Soldaten in die japanische Öffentlichkeit.[1] In den folgenden Jahren warf man über ihrem vermuteten Aufenthaltsgebiet immer wieder Flugblätter, persönliche Nachrichten und Bilder ihrer Angehörigen ab, die ihre Verwandten aufforderten, sich den Amerikanern zu ergeben. 1954 erschoss ein Suchtrupp bei einem Gefecht einen der drei verbliebenen Soldaten. Ein weiterer kam 1972 ums Leben, als er zusammen mit Onoda in einer Guerillaaktion die Reisvorräte lokaler Bauern verbrannte. Nunmehr völlig auf sich allein gestellt, gab sich Onoda im Februar 1974 dem japanischen Studenten Suzuki Norio zu erkennen, der vom Schicksal des letzten japanischen Soldaten gehört hatte und daraufhin nach Lubang aufgebrochen war, um ihn zu suchen. Doch selbst jetzt schien es für Onoda unvorstellbar, sich ohne den Befehl eines Vorgesetzten zu ergeben. Nachdem Suzuki mit Beweisfotos nach Japan zurückgereist war und die Behörden informiert hatte, gelang es, Onodas ehemaligen vorgesetzten Offizier ausfindig zu machen. Erst als Major Taniguchi schließlich nach Lubang reiste, um seinem ehemaligen Untergebenen persönlich die Kapitulation Japans zu bestätigen, ergab sich Onoda im März 1974. Zu diesem Zeitpunkt verfügte er noch immer über sein Gewehr, rund 500 Schuss Munition und mehrere Handgranaten. Und noch immer trug er Teile seiner ursprünglichen Uniform, zu der auch das Gunto-Schwert gehörte. Es galt als wichtigstes Symbol seines Status als kaiserlicher Offizier und lehnte sich an die Kantana-Schwerter japanischer Samurai an. Ganz bewusst hatte die japanische Militärführung während des Zweiten Weltkrieges mit diesem Symbol den Bezug zum Ehrenkodex der Samurai und den Prinzipien des «Bushido» hergestellt.[2] Obwohl Onoda und seine Kameraden zwischen 1945 und 1974 in ihren Guerillaaktionen und in Gefechten mit lokalen Bauern und Fischern über 30 Menschen getötet oder verletzt hatten, begnadigte ihn der philippinische Präsident Ferdinand Marcos. Nach Japan zurückgekehrt und bald als Kriegsheld verehrt, verfasste Onoda eine vielbeachtete Autobiographie, in der er versuchte zu erklären, was ihn angetrieben hatte.[3] Er verwies vor allem auf die jahrelange Propaganda des japanischen Kriegsstaates, die eine Kapitulation von Offizieren unmöglich gemacht habe: «Als ich 1944 auf den Philippinen ankam, lief der Krieg für Japan schlecht, und zu Hause war das Wort ‹Hundert Millionen Seelen sterben für die Ehre› auf jedermanns Lippen. Dieses Wort bedeutete, dass die japanische Bevölkerung wie ein Mann sterben würde, statt zu kapitulieren. Ich nahm das wörtlich und glaubte, dass viele junge Japaner meines Alters es ebenfalls wörtlich nahmen. Ich glaubte wirklich daran, dass Japan nicht aufgeben würde, solange noch ein Japaner am Leben war.»[4] Das erklärte auch Onodas Reaktion auf die japanisch sprechenden Suchkommandos, die er und seine Kameraden für eine bewusste Täuschung des amerikanischen Gegners hielten. Denn hätte Japan den Krieg tatsächlich verloren, könnten – so die Vorstellung der geflohenen Soldaten – überhaupt keine Japaner mehr am Leben sein. Es war ein Denken, das die Kapitulation praktisch ausschloss.[5] Onodas Schicksal mochte ein extremer Sonderfall sein, aber es verweist auf ein Grundproblem der Geschichte: Wie beendet man einen Krieg? Alle Kriege enden irgendwann, aber jeder Krieg hat sein ganz eigenes Ende – für Staaten und Gesellschaften, für Politiker, Diplomaten und Militärs, für den einzelnen Soldaten. Auf den ersten Blick scheint es viel leichter, den Beginn gewaltsamer Konflikte zu definieren als ihr Ende. Menschen assoziieren mit Kriegsanfängen fast immer dramatische, jedenfalls suggestive Anlässe, die historische Orientierung zu geben scheinen: den Prager Fenstersturz im Mai 1618 als Beginn des Dreißigjährigen Krieges, den ohne Kriegserklärung erfolgten Einfall preußischer Truppen in Sachsen 1756, der den Siebenjährigen Krieg einläutete, den Beschuss von Fort Sumter durch Truppen der amerikanischen Südstaaten zu Beginn des Amerikanischen Bürgerkrieges im April 1861, das Attentat von Sarajewo im Juni 1914, den Beschuss der Westerplatte in Danzig durch ein deutsches Schlachtschiff im September 1939 – oder den Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine am 24. Februar 2022. Doch diese scheinbar eindeutigen Ereignisse sagen wenig aus über die langfristigen Ursachen, über Vorgeschichten, Eskalationsstufen und «points of no return». Nicht selten entfalten Kriegsanfänge auch erst aus dem Rückblick ihre mythische Qualität für Gesellschaften: Die Vorstellung einer euphorisierenden Kriegsbegeisterung, die im August 1914 partei- und klassenübergreifend ganze Gesellschaften erfasst habe, war in dieser Zuspitzung zweifellos ein Zerrbild, denn in vielen Teilen Europas demonstrierten Industriearbeiter und Gewerkschaften noch bis kurz vor Beginn der Kämpfe gegen den Krieg. Doch dieses nach 1918 im Gefühlshaushalt gerade vieler Deutscher fest verankerte «Augusterlebnis» markierte für viele Zeitgenossen ein kollektives Initialerlebnis, das umso heller leuchtete, je dunkler die Gegenwart seit 1918 erschien.[6] Wenn schon dieser Blick auf Anfänge und Anlässe zeigt, wie leicht sich scheinbare Eindeutigkeiten in der historischen Betrachtung auflösen, dann gilt das noch viel mehr für das Ende von Kriegen. Die meisten historischen Wege in den Frieden waren verschlungen, sie wurden immer wieder verzögert und unterbrochen. Je länger ein Krieg dauerte, je mehr Opfer er über Monate und Jahre anhäufte, desto unübersichtlicher und widersprüchlicher verliefen sie. Wann und wie ein Krieg endet, dieser Prozess lässt sich jedenfalls nicht auf den Moment beschränken, in dem Sieger und Besiegte einen Waffenstillstand oder einen Friedensvertrag unterzeichnen. Dahinter stehen vielmehr meist komplizierte Verläufe: von einer ersten Waffenruhe über einen stabilen Waffenstillstand, einen Vorfrieden bis zu einer internationalen Friedenskonferenz und einem schließlich ratifizierten Friedensvertrag. Aber endet ein Krieg damit? Oder kündigt sich das Ende mit der aus Verlusten und Opfern gewonnenen Einsicht in die gegenseitige Erschöpfung von Ressourcen an, aus der schließlich eine rationale Einsicht in die Notwendigkeit des Friedens folgt und sich ein Fenster für die Diplomatie öffnet? Entsteht Frieden nicht erst mit einem vielleicht erst nach Jahren und Jahrzehnten wieder belastbaren Vertrauen und einer verlässlichen Kommunikation zwischen ehemaligen Gegnern? Gibt es stabilen Frieden ohne die Aussöhnung zwischen Individuen, Familien, Gemeinschaften, die Anerkennung von Opfern und Verbrechen, von Schuld und Schulden zwischen ganzen Gesellschaften? Ab wann weiß man verlässlich, ob ein Vertrag mit Unterschriften wirklich Frieden schafft, oder ob es sich lediglich um einen temporären Waffenstillstand handelt, eine taktische Atempause, um neue Ressourcen zu mobilisieren und den Krieg dann umso entschiedener fortzuführen?[7] Ein erstes Zeichen zur Friedensbereitschaft auszusenden, erwies sich oft als besonders schwierig. Denn Friedenssondierungen unterliegen einer komplexen Psychologie. Die Erschöpfung der eigenen Ressourcen mochte ein Ende des Krieges nahelegen, aber der Gegner konnte in einem solchen Schritt genau jene Schwäche erkennen, die aus seiner Sicht für eine Fortsetzung des Krieges sprach. Jedes Signal in Richtung einer größeren Konzessionsbereitschaft ließ sich auch so interpretieren, dass der Gegner noch schwächer war als man selbst. Die eingestandene...