E-Book, Deutsch, 272 Seiten, Format (B × H): 170 mm x 240 mm
Lehmann Körper– und leiborientierte Gerontologie
1., Auflage 2016
ISBN: 978-3-456-95562-9
Verlag: Hogrefe AG
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Altern erfahren, erleben und verstehen. 'Wenn Altern unter die Haut geht'
E-Book, Deutsch, 272 Seiten, Format (B × H): 170 mm x 240 mm
ISBN: 978-3-456-95562-9
Verlag: Hogrefe AG
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Alternde Menschen bekommen das Altern vielfach erstmalig am eigenen 'Leib' zu spüren - es geht im wahrsten Sinnes des Wortes unter die Haut. Altersveränderungen werden körperlich erlebt und leiblich erfahren - sei es in Form eines veränderten Erscheinungsbildes, von Leistungs- und Funktionsverlusten oder der Einschränkung von Kontrolle und Autonomie. Diese Erfahrungen werden im Allgemeinen als belastend erlebt.Aufgabe der praktischen leiborientierten Gerontologie ist es, die Betroffenen zu ermutigen, diese Veränderungen als Chance zur persönlichen Reife und Weiterentwicklung wahrzunehmen. Das Handbuch von Susanne Blum-Lehmann bietet Ihnen dazu fundierte theoretische Grundlagen, praxiserprobte Ansätze sowie Werkzeuge und Tools, um Entwicklungsprozesse im Alter anzuregen und einzuleiten.
Zielgruppe
Gerontologen, Pflegefachpersonen, Geragogen
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
1;Körper- und leiborientierte Gerontologie;1
1.1;Inhaltsverzeichnis;6
1.2;Danksagung;14
2;Einfu?hrung;16
3;A I Theoretische Grundbegriffe: Leib/Körper – Identität – Alter;22
3.1;1 Altern und Alter;24
3.1.1;1.1 Altern wird u?ber den Körper erfahren und am Leib gespu?rt;25
3.2;2 Phänomenologie Leib – Körper;26
3.2.1;2.1 Der Mensch als unteilbare Einheit von Leib – Körper – Geist;26
3.2.2;2.2 Leibliches Spu?ren als Selbsterfahrung;27
3.2.3;2.3 Leibliche Kommunikation als soziale Bedeutung des Leibes;31
3.2.4;2.4 Den Leib hat man auch als Körper;33
3.2.5;2.5 Ermutigung zur Balance von Leibsein und Körperhaben als Grundlage fu?r eine gesunde Entwicklung;34
3.3;3 Der Wandel vom ganzheitlichen Leib zum heutigen Körperverständnis;36
3.4;4 Die Notwendigkeit einer Ethik der leiblichen Existenz im Alter;39
3.4.1;4.1 Das Altern als persönliche Entwicklungschance;39
3.4.2;4.2 Der Leib als Zugang zum alten Menschen;40
3.4.3;4.3 Am Leib wird die Wu?rde des Menschen verletzt;40
3.5;5 Schlu?sselfunktion des Alters und Alterns fu?r die Identität;42
3.5.1;5.1 Personale Identität;42
3.5.2;5.2 Identitätsbildung im Wandel der Zeit;43
3.5.3;5.3 Soziale Identität;44
3.5.4;5.4 Altern – Lebenslauf – Identität;44
3.5.5;5.5 Alter Körper und Identität – «Altersmaske»;46
4;A II Dimensionen des Phänomens des leiblichen Alterns;50
4.1;6 Die Bedeutung der Funktionsfähigkeit in der dualistischen Kultur;52
4.1.1;6.1 Altern in der Leistungsgesellschaft;54
4.1.2;6.2 Der alternde Körper begrenzt die persönliche Leistungsfähigkeit;55
4.1.3;6.3 Leistung – die Sorge fu?r andere;57
4.1.4;6.4 Erfolgreiches Altern?;57
4.1.5;6.5 Gelassenheit statt Leistungsorientierung;58
4.1.6;6.6 Wiedergewinn des «Leerlaufes» als Entwicklungschance im Alter;59
4.2;7 Autonomie und Kontrolle – Leitwerte unserer Kultur;62
4.2.1;7.1 Das Phänomen des Verlustes an Autonomie und Kontrolle;63
4.2.2;7.2 Autonomie des Handelns – Wu?rde des Seins;64
4.2.3;7.3 Selbstverantwortlichkeit;66
4.2.4;7.4 Lebenssouveränität;67
4.2.5;7.5 Verbindliche zwischenmenschliche Beziehungen;68
4.3;8 Altes Aussehen in einer in die Jugend verliebten Gesellschaft;70
4.3.1;8.1 In der Fremdwahrnehmung auf den alten Körper reduziert;71
4.3.2;8.2 Selbst- und Fremdwahrnehmung: Alt sein, sich jedoch jung fu?hlen;73
4.3.3;8.3 Leibsein und Körperhaben als Spannungsfeld fu?r Entwicklung, Lebensfreude, Lust am Dasein und Integrität: «Mit sich eins werden»;74
4.4;9 Der Mensch ist Raum und wohnt in Raum und Zeit;76
4.4.1;9.1 Der Sozialraum;78
4.4.2;9.2 Das Alter begrenzt den Bewegungsraum – die Kreise werden enger;79
4.4.3;9.3 Äusserste Enge – u?ber sich hinauswachsen;80
4.5;10 Das Altern als zeitliches Phänomen;82
4.5.1;10.1 Der Zeitstrom Zukunft – Vergangenheit – Gegenwart;83
5;B I Das Modell «Reflexive Leiblichkeit»;90
5.1;11 «Reflexive Leiblichkeit» – ein Modell fu?r Identität und Entwicklung im Alter;92
5.1.1;11.5 Zur-Welt-Sein;97
5.2;12 Individualpsychologische Konzepte;98
5.2.1;12.1 Ermutigung;99
5.2.2;12.2 Gemeinschaftsgefu?hl;102
5.3;13 Kriterien fu?r eine Sorgekultur der Leiblichkeit des Alterns;108
5.3.1;13.1 Altern erfordert ein ganzheitliches Menschenbild;108
5.3.2;13.2 Altern verlangt eine Ethik leiblicher Existenz;108
5.3.3;13.3 Altern als dynamischer Entwicklungsprozess;109
5.3.4;13.4 Altern als eine subjektive Erfahrung;109
5.3.5;13.5 Die Vielfältigkeit des Alterns und die Erfordernis vielfältiger Methoden in der Praxis;109
5.3.6;13.6 Altern braucht Ermutigung;109
5.3.7;13.7 Altern als gestaltbarer Prozess;109
5.3.8;13.8 Altern als eine Aufgabe fu?r Betreuende;110
6;C I In der Betreuung;112
6.1;14 Alt aber nicht «out» – was heisst hier leisten?;114
6.1.1;14.1 «Ich kann es ja noch!»;115
6.1.2;14.2 «Was tun, wenn meine Leistung nicht mehr gefragt ist?»;117
6.1.3;14.3 Reflexion zur Bedeutung von Leistung;118
6.1.4;14.4 «Il pensionati» – Gesprächsrunde mit gemeinsamem Musizieren;119
6.2;15 «Das bin doch nicht ich!» (Körperbild – Selbstbild);121
6.2.1;15.1 Körperpflege;121
6.2.2;15.2 Gepflegtes Aussehen;123
6.2.3;15.3 «Spieglein, Spieglein an der Wand…»;126
6.2.4;15.4 Reflexion zum Körperbild;126
6.2.5;15.5 Ganzheitliche Gesundheitsprävention – ein Projekt;128
6.3;16 «Hilfe, ich will keine Hilfe!» – Wenn Autonomie und Kontrolle verloren gehen;130
6.3.1;16.1 Plötzlich hilflos und ausgeliefert – Verlust der Autonomie;130
6.3.2;16.2 Kontrollverlust und Scham;134
6.3.3;16.3 Reflexion des Autonomie- und Kontrollverlustes;135
6.3.4;16.4 Gemeinschaftsgefu?hl stärken durch kreative Arbeit – ein Projekt;136
6.4;17 Wenn der Raum eng wird (Raum);138
6.4.1;17.1 In der Enge heimisch werden;138
6.4.2;17.2 Die Enge weiten;141
6.4.3;17.3 Reflexion zur räumlichen Begrenzung;145
6.4.4;17.4 Kreative Gestaltung macht das Heim zum Daheim – ein Projekt;145
6.5;18 Altern heisst, mit der Zeit zu gehen (Zeit);147
6.5.1;18.1 Die Zeit lässt sich nicht zuru?ckdrehen, aber gestalten;147
6.5.2;18.2 Mitgehen im Prozess des Alterns;149
6.5.3;18.3 Zuru?ckbleiben;151
6.5.4;18.4 Wenn das Ende spu?rbar nahe kommt;151
6.5.5;18.5 Reflexion zur verrinnenden Zeit;153
6.5.6;18.6 Das «Erzählcafé» – ein Projekt;154
6.6;19 Leiblichkeit des Alters aus Sicht der Psychotherapie – Leibliches Dasein im Umgang mit alten Menschen;156
6.6.1;19.1 Dasein als Mitsein im Umgang mit alten Menschen – Die Übung als Hilfe zur Beeinflussung des eigenen Verhaltens;157
6.6.2;19.2 Die fu?nf Schritte nach Stanley Keleman;158
6.6.3;19.3 Die drei Ebenen im Umgang mit Situationen in der Pflege;160
6.6.4;19.4 Erste praktische Übung zu «Sich selbst beru?hren»;162
6.6.5;19.5 Zweite praktische Übung;162
7;C II Die Leiblichkeit des Alterns in der Erwachsenbildung;164
7.1;20 Leitgedanken;166
7.1.1;20.1 Bedarfsbegru?ndung;166
7.1.2;20.2 Wer ist angesprochen?;167
7.2;21 Intergenerative Ermutigungsgruppe;168
7.2.1;21.1 Konzeptionelle Voru?berlegungen;168
7.3;22 Schlussbemerkungen;185
7.4;23 «Café Bâlance» – Projekt in der Erwachsenenbildung;187
7.4.1;23.1 Rhytmik nach Jaques-Dalcroze – Musik und Bewegung beschwingt im Alter;187
8;C III Weiterbildung von Fachkräften;192
8.1;24 Ausgangslage und Problemstellung;194
8.1.1;24.1 Ziel einer gerontologischen Lehrveranstaltung;194
8.1.2;24.2 Bedarfsbegru?ndung;194
8.2;25 Ausbildungskonzept;196
8.2.1;25.1 Zielgruppen;196
8.2.2;25.2 Handlungsziele;196
8.2.3;25.3 Lernziele;197
8.2.4;25.4 Themen und Inhalt;197
8.2.5;25.5 Didaktisch-methodische Gestaltung des Lernprozesses;198
8.2.6;25.6 Leitung;200
8.2.7;25.7 Nutzen der Weiterbildung;200
8.3;26 «Kick-off»-Veranstaltung fu?r Multiplikatoren;211
8.4;27 Modul «Kreative Begleitung»;212
8.4.1;27.1 Vorbereitung;212
8.4.2;27.2 Ausbildungsmodul;212
8.4.3;27.3 Durchfu?hrung des Moduls;215
8.4.4;27.4 Erlebniszentrierte Begleitung von Gruppen und Einzelbegleitungen (nach Hilarion Petzold);218
9;Anhang;224
10;Verzeichnisse;253
10.1;Literaturverzeichnis;253
10.2;AutorInnenverzeichnis;264
10.3;Sachwortverzeichnis;266
2 Phänomenologie Leib – Körper (S. 25-26)
Mensch-sein heisst Leib-sein. Wir sind also unser Leib, was wiederum bedeutet, dass wir als Leib existieren (Aristoteles). Wie alle anderen Lebewesen auch, sind wir Teil der Natur oder vielmehr ist der Leib die Natur, die wir selbst sind, wie es der Philosoph Gernot Böhme definiert (Böhme, 2006: 9). Leib-Sein bedeutet somit, dass wir die Kraft der Natur in uns selbst, im eigenen Sein und Leben verkörpern. Und wie alle anderen natürlichen Lebewesen sind wir von den Elementen bestimmt und den Naturgesetzen unterworfen. Davon zeugen auch die Veränderungen, Wandel und Erfahrungen von Vergänglichkeit des Alterns, die wir mit allen Phänomenen der Natur teilen. Was damit gemeint sein könnte, wenn Leibsein und Natursein eins sind, verdeutlicht ein Bild des Künstlers Yves Netzhammer (s. Abb. 2-1).
2.1 Der Mensch als unteilbare Einheit von Leib – Körper – Geist
Im Allgemeinen wissen heute nur noch wenige Menschen mit dem Begriff «Leib» etwas anzufangen – mit Ausnahme von Theologen und Philosophen. In unserer Kultur wird nicht mehr zwischen den Begriffen «Leib» und «Körper» unterschieden, sondern nur noch von letzterem gesprochen. Eine vereinfachte Erklärung des Unterschieds von Leib und Körper lautet, dass der Körper von außen gesehen, der Leib dagegen von innen erfahren wird. Für das Verständnis des Unterschiedes ist die Herkunft der Begrifflichkeiten aufschlussreich: Der Begriff «Körper» stammt aus dem Lateinischen; corpus ersetzte das altgriechische Wort soma, welches in der griechschen Umgangssprache ursprünglich den ‹toten, seines Lebens beraubten, zum Ding gewordenen Leib› – den Leichnam – bezeichnete. Die englische Sprache hingegen kennt den Begriff «Leib» nicht; es wird vom lived body, im Gegensatz zum body, gesprochen, mit dem auch die ‹Leiche› bezeichnet wird.
Der Begriff «Körper» für die Bezeichnung eines ‹leblosen Gegenstandes› fand seine Verbreitung als Fachbegriff in verschiedensten Wissenschaften, in der Mathematik («geometrischer Köper»), in der Physik («Festkörper»), der Astronomie («Himmelskörper») sowie in der Medizin («Antikörper»). Folgt man dem Wahrig-Lexikon (1986) wird der Begriff «Körper» in seiner Grundbedeutung auch für die Beschreibung ‹materieller, toter Dinge› verwendet. Im normalen, deutschen Sprachgebrauch ist meistens vom «Körper» die Rede, gleich ob es sich um die ‹Anatomie des Menschen› oder um ein ‹umfassenderes Verständnis des Menschen› handelt. Mit der sich entwickelnden Wahrnehmung des Menschen als ganzheitliches Wesen wurden die Bezeichnungen «Körper» und «Leib» oft synonym verwendet. So findet sich zum Beispiel unter der Definition «Körper» im Wörterbuch für Soziale Arbeit (1996) folgende Erklärung: «Der Körper als Leib ist […] Versammlungsstätte unserer verschiedenen Sinnestätigkeiten, der Gestimmtheiten, Gebärden und Gedanken, ist Mittelpunkt des subjektiven Erlebens wie Orientierungspunkt unserer Wahrnehmungen.» (Milz, zit. in Keil, 1996: 371). Nach diesem Verständnis wird der «Körper» wieder vermehrt zum Ausdruck des ‹Lebendigen›, dessen körperliche Vorgänge eng an die Gedanken und Gefühle gebunden sind, was wiederum die Körperprozesse bedeutsam für das menschliche Denkvermögen, Gefühl und Empfinden werden lässt. Umgekehrt beeinflussen und gestalten das Denken und Fühlen die Dimensionen körperlicher Subjektivität (Keil, 1996: 372).
Diese Ausführungen kommen dem ursprünglichen Begriff «Leib» nahe, der sich aus dem germanischen Wort lip für ‹Leben› entwickelt hat – phonetisch noch besser erkennbar im englischen life, bzw. to live. «Leib» steht also für ‹Leben› insgesamt und ist allumfassend, während der «Körper» als Teil des Leibes die Materie ausmacht. Oder anders gesagt: Leib sein ist ein Zustand, während der Körper ein Gegenstand ist. Wenn vom «Leib» und «Körper» die Rede ist, müssen auch die «Seele» und ihr Zusammenspiel mit dem Körper betrachtet werden. Im Verlauf der Geschichte spielte diese stets eine wichtige Rolle im Denken über den Menschen, seine Natur und die Welt. Sie nahm eine Vermittlerrolle zwischen lebloser Materie und göttlichem Prinzip ein. «Die Seele ist die Kraft der Bewegung, Lebensprinzip des Körpers und bezeichnet die ‹Wirklichkeit des Leibes›.» (Wulf, 1997: 972).
Oder wie es der Psychiater Hell (2003) darlegt: «Auch wenn Seelisches sich gerade nicht zu etwas Gegenständlichem fixieren lässt, ist der Mensch dennoch nicht auf ein seelenloses Funktionieren zu reduzieren. Sein Erleben bleibt eine menschliche Grunderfahrung, die im Raum der Physik und Chemie nicht abbildbar ist. Dieses Erleben, das Leib und Leben voraussetzt, aber mehr ist als Körper und Stoffwechsel, wird seit Alters her ‹seelisch› genannt.» (Hell, 2003: 17).
2.2 Leibliches Spüren als Selbsterfahrung
Nach Karl Jasper ist unser Körper der einzige Teil der Welt, der zugleich von innen empfunden und von außen wahrgenommen wird. Als Leib überwindet er die Grenzen und Formen des physiologischen Körpers und wird zum Synonym für das Leben. Dabei entsteht der Leib im Austausch mit anderen bzw. in der Interaktion der menschlichen Kommunikation.
2.2.1 Leiblich spüren
Alle spürbaren Erfahrungen eines Menschen sind Leiberfahrungen, über die er das eigene Selbst spürt und somit sich selbst erfährt. Im Zusammenhang mit unseren leiblichen Erfahrungen ist das Verb «spüren» in der Umgangssprache kein Fremdwort.