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Lazar Die Vergiftung

Roman

E-Book, Deutsch

ISBN: 978-3-903244-14-6
Verlag: DVB Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Maria Lazars (1895–1948) 1920 erstmals erschienener Debütroman "Die Vergiftung" ist eine eigentümlich faszinierende Mischung aus Sittenporträt und autobiographischer Familiengeschichte. In dreizehn Kapiteln umkreist dieser wohl einzige expressionistische Roman der österreichischen Literatur das Leben der 20-jährigen Rebellin Ruth, erzählt von ihren Ängsten, Hoffnungen und Unzulänglichkeiten, von ihrer zerstörerischen Liebe zu einem namenlosen, älteren Chemiker und ihrem mit brutaler Vehemenz ausgetragenen Kampf gegen die Vereinnahmungsversuche der überdominanten Mutter.

Lazar schrieb ihn 1915, als sie gerade selbst zwanzig Jahre alt war, in einer vernichtenden Wendung gegen die heuchlerische Lebenswelt des Wiener Großbürgertums vor Beginn des Ersten Weltkriegs; eine Welt, die sie als jüngstes Kind einer vermögenden, jüdischen Wiener Familie bestens kannte – in der sie sich aber niemals wirklich heimisch fühlte.

„Man fragt sich, warum und wie das Werk ein Jahrhundert lang der Aufmerksamkeit entgehen konnte.“

– Sandra Kerschbaumer, Frankfurter Allgemeine Zeitung

„Eine so eigenwillige und eine so starke Sprache hat man lange nicht mehr vernommen, […] aber wenn man die Nachbarschaften dieses außergewöhnlichen kleinen Romans benennen will, dann sind das große Namen wie Ernst Weiss, Hermann Ungar oder Veza Canetti – kurz: es handelt sich um eine kleine Sensation.“

– Michael Rohrwasser, Wiener Zeitung

„Beeindruckend ist die ungestüme Kraft, mit der Lazar die Szenarien aufbaut, zuspitzt und ins Groteske kippen lässt.“

– Evelyne Polt-Heinzl, Die Presse

„Ein Antibürgerbuch. Ausdrucksstark, expressionistisch – nicht neuromantisch wie der frühe Thomas Mann.“ – Peter Pisa, Kurier
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Die Tür Eine braune Holztür, glatt, mit vielen dunklen Flecken. Eine Tür wie sie überall ist, überall ist. Eine Tür - Nein, eine dunkle Macht, feindlich, glatt, mit vielen dunklen Flecken. Das schlägt ins Gesicht, dem ganzen Körper entgegen. Eine Schicht, eine dünne, harte Wand. Und da verloren sich die schmiegsamen Formen ihres Leibes. Das Immerweitertasten ihrer Hände blieb stecken. Sie wurde platt zusammengedrückt zu einer Fläche, einem Ding, aus dem nur der ungeheure Schrecken herausgestiegen war und draußen stehen blieb, verwundert. Als sie über die Treppe des Alltagshauses ging, trat sie in die Abdrücke der hundert geschäftigen Füße, die täglich hier vorüberliefen. Wieso war sie überhaupt dahergekommen? Immer daher gekommen und nur da her, daß alles übrige draußen liegen blieb? Heute drang das Licht blendend durch Steine und die erstarrte Haut ihres Leibes. Von den Blättern troff es, grell und heiß, und duftete nach dem Blut aller, die auf der Straße gingen. Das Blau war zu tief, zusammengedichtet aus trotzigen Kräften. Ach, die furchtbare Helle. Und in sie hineingelegt die Tür, mit den dunkelbraunen Flecken. Die sich niemals, aber auch niemals einschlagen läßt. Diese Tür war schon damals gewesen, als sie so klein war, daß sie den Kopf ganz nach hinten legen mußte, um die ersten Stockfenster zu sehen. War es die Tür aus dem Kinderzimmer heraus oder von der Küche in den dunklen Gang, an die sie sich nicht zu hämmern traute, als man sie einmal dort eingesperrt hatte? Die Tür, die sich nie und nie zertrümmern läßt. Wievielmal schon hatte sie diese Türe geöffnet, mit Händen, die dem eigenen Sieg nicht glauben wollen. Nur ein leichter Druck auf die Klinke - und hatte doch immer den Mut gehabt, zu wissen, daß diese Türe einmal verschlossen sein muß. Jedesmal hatte sie den einen gräßlichen Moment erlebt, der heute Wahrheit geworden war - verschlossen. Heute, es ist ja gar nicht heute. Das war schon immer, das hat sie ja schon hunderttausendmal erlebt. Tritt man nicht aus der Zeit heraus, wenn dann eine Stunde kommt, die sich einbildet, die erste zu sein. Ein Heute, das ewig ist - ein Schritt aus dem warmen Leben - vielleicht ist ihr deshalb so entsetzlich kalt. Und sie muß die Augen schließen, während das Sonnenlicht des Tages die Wimpern versengt. Verschlossen - undurchdringlich. Sie geht durch Straßen, wo die Nachmittagsröte die Mauern frißt. Und weiß: Der breiten Kastanie vor seinem Fenster ist heute ein Ast abgehauen worden. Blendend weiß bietet sich die Wunde der gierigen Sommersonne dar. Sie kann nie mehr weiter tasten. Steht fest, undurchdringlich - verschlossen. Ich muß denken, sagte Ruth. Sie nahm den Brief, der in seine Tür geklemmt war und dachte: Ein zu kleines Kouvert. Und warum macht er dem R bei Ruth so einen Schnörkel? Eine wütende Lust überkam sie, den Brief von sich zu werfen, irgendwohin, vielleicht in den Straßengraben. Und dann nie mehr ... Aber sie hielt ihn fest und ging so lange, bis die erste Dämmerung sich mit dem Staub der Großstadt mischte, der in die Höhe stieg, langsam, leise und unerbittlich. Es schlug neun Uhr vom Kirchturm. Sie dachte: Mutter ist böse, wenn ich zu spät zum Abendessen komme. Und Richard macht seine verwunderten Augen. Ich will sie nicht ärgern. Aber ich bin nur so elend, wie sie gar nicht wissen, daß man sein kann. Sie spürte den Essensgeruch, der aus der Küche quoll, als die Köchin öffnete. Und war gespannt, was es gäbe, während ihr die Tränen in die Augen traten, daß sie jetzt daran denken könne. Sie sah nicht auf Mutter und Bruder, während sie schweigend würgte. Sie hörte nicht die Nörgeleien der Schwester. Sie schluckte eilig große, trockene Bissen hinunter und fragte sich nur: Was habe ich? Sie wußte es nicht mehr. Aber als sie in ihr Zimmer trat, schrie der Spiegel seinen Namen. Und sie sah ihr Bild darin, wie sie sich den Schleier vorgebunden hatte, bevor sie weggegangen war, heute. Die Bücher auf dem Tisch, die vernachlässigt und zusammengeworfen waren, und die zerrissene Mappe atmeten seinen Duft aus. Und von dem seidengelben Lampenschirm herab träufelten in weichen Farben ihre nächtlichen Gedanken. Sie öffnete den Brief. Und las verächtlich seine großen Lügen. Der Spiegel schrie seinen Namen. Sie sah sich drinnen, wie sie sich den Schleier vorgebunden hatte. Wird sie so nie mehr zu ihm gehen. Aber ja, morgen geht sie zu ihm, ganz so wie sonst. Was hat sie nur heute. Der Brief ist ja so einfach zu verstehen. Warum soll er denn nicht einmal verhindert sein, geschäftlich. Ruth las den Brief noch einmal. Die lächerliche Schlinge des R und die kriecherische Windung des L in Liebe. Er lügt. Aber das macht ja nichts, das wußte sie schon immer. Und doch - sie kann nicht mehr. O Gott, was ist nur geschehen? Was ist mit ihr? Durch das Fenster strahlt die warme Sommernacht, wie eine Fülle leuchtender Versprechungen. Die Welt ist hell. Sie war bis jetzt nur in einer dunklen Stube. Dunkle Stühle, dunkle Flecken an der dunklen Tür. Die Welt ist hell. Ihre Glieder, ihr armer vergessener Körper schreien nach Licht. Sie kniet am Boden. Ihre Zähne beißen in die Tischkante, oh, daß sie nicht aufschluchzt. Sie will denken. Sie weiß, daß seine Augen durch alle Mauern auf sie sehen. Aber ihre Hand sagt nein, ihr Knie schlägt in trotzigen Stößen auf die Diele. Ihr Hirn schmerzt vor Sehnsucht nach ihm, ihre Zähne beißen in die Tischkante. So lange sie denkt, gehört sie ihm. Aber da ist noch etwas an ihr, das nicht denkt. Das treibt, das schlägt, das stößt, das treibt sie zu ...... Er stand vor dem Spiegel mit dem zu dicken Rahmen, der alles verdüsterte und doch so hervorstach, als wolle er es nicht zugeben, daß eine eigentümliche Frechheit von dem bespritzten Glas ausging. E r stand vor dem Spiegel und sah aufmerksam auf seine schlecht rasierten hageren Backen. Auf die etwas zigeunerhafte Locke, die über die Stirn hing. Sie war nur zu licht, um wild zu sein. Er stand vor dem Spiegel und versuchte die Regelmäßigkeit seiner schmalen Züge zu genießen, durch die die zu weit nach hinten liegende Stirn durchfuhr wie ein querer Strich in einer regelmäßigen Zeichnung. Seine Schultern standen zu weit nach hinten, künstlich, steif. Sie wollten offen und frei erscheinen. Aber die Augen lagen tief versteckt. Die Pupillen waren nicht in sich abgeschlossen, sie liefen über, ausstrahlend und doch wie verirrt in das Weiße des Auges. Er stand vor dem Spiegel und der zusammengepreßte Mund mit den dunklen, schmalen Zähnen erkannte alle Schwächen der kraftlos weichen Hände, die sich auf den Rücken legten, während die Schultern sich nach hinten streckten, gewaltsam, künstlich. Als Ruth zur Tür hereinkam, saß er vor dem Pianino und spielte eine Beethovensonate. Er trat ihr entgegen mit beiden ausgestreckten Händen. - Du kommst spät, sagte er liebenswürdig spöttisch. Aber seine Augen blickten böse in eine Ecke des Zimmers. Ruth erschrak. Wie immer legte sich der süßlich-herbe Geruch der Räume, den sie nie woanders getroffen hatte, betäubend um ihre Stirn. Sie lachte dann: Ja, denk nur, wieso, ich bin einen verkehrten Weg gegangen. - Du hast nicht kommen wollen, sagte er langsam und schwer. Alles stand still. Das Zimmer stand still, jeder Stuhl, selbst die Uhr, die sonst immer zu laut schnarrte. Etwas lebte nicht mehr, es war etwas gestorben, jetzt, in dieser Minute, etwas Furchtbares war ausgesprochen worden. Ruth dachte: Weinen können. Sie sah die hochmütigen Globen auf dem Wandregal, die alle staubig waren. Und die sattgelben Minerale auf dem unordentlichen Schreibtisch. Er rückte ihr den Stuhl zurecht, wie immer. Immer denselben Stuhl. - Aber was sagst du denn da? lachte Ruth. Es war ihr schlankes, frohes Kinderlachen, das so seltsam hinaufkletterte über die grau verschossenen Wände, die zu hoch waren. - Mein Kind, sagte er, mit überschlagenen Beinen und fremden Augen, ich habe dich seit drei Wochen nicht gesehen, und heute kommst du zu spät. - Du mußt mir erzählen, stöhnte Ruth, alles was da war, alles was du erlebt hast, was du gearbeitet hast. - Ruth, sagte er. Und sie haßte ihn. Spürte den Schnörkel in der Schlinge des R. Sie sah seine weißen, kraftlosen Hände. Wußte, daß sie diese Hände niemals vermissen könne. Seine Krawatte war zerschlissen. Eine heiße Welle stieg in ihr empor, würgte die Kehle. Aber sie war so müde. Hilf mir, sagte sie. Vor ihr war eine große, schwere Waage. Eine Schale war voll eiserner Gewichte, schwer und kalt. Die andere leer, ganz leer und hoch oben, mutterseelenallein. Die ganze Welt war aus dem Gleichgewicht durch diese Waage. Und durch die Disharmonie seiner Bewegungen. So wie er jetzt die Zigarre zum Munde führte. - Du kannst mich eben nicht mehr aushalten, sagte er langsam. Nein, er wußte nichts, er konnte ihr nicht helfen. Er erzählte ihr von seinem neuesten chemischen Experiment. Und sah sie an, als wäre sie eine schillernde Phiole. Ihr Gehirn wollte mitarbeiten, aber wieder wehrten sich ihre Hände, ihre Knie, ihr Blut dagegen. Die Nacht war hereingebrochen. Du, sagte Ruth plötzlich, als er ihr seine letzten Tage schilderte, wie er sich elend in Gasthäusern herumgetrieben. Hör' auf. Ihre Stimme klang hart und hell. Sie sprang auf und nahm seine Hand. Und ein grenzenloses Mitleid, ein Schmerz, der sich selber zerbrach, lähmten ihren Atem. - Jetzt geh ich und komme nicht mehr. Deine Tür war verschlossen, letztes Mal. Sie war immer verschlossen. Lüg nicht! Vielleicht weißt du es...


Sonnleitner, Johann
Johann Sonnleitner, Jg. 1958, ist ao. Prof. für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Wien. Als anerkannter Experte für die Literatur der österreichischen Zwischenkriegszeit hat er zahlreiche Aufsätze publiziert und Editionen herausgegeben, darunter sämtliche bislang wiederentdeckten Werke der zu Unrecht vergessenen Schriftstellerinnen Maria Lazar und Marta Karlweis im Verlag Das vergessene Buch.

Lazar, Maria
Maria Lazar (1895–1948) entstammte einer jüdisch-großbürgerlichen Wiener Familie. Sie absolvierte das berühmte Mädchengymnasium der Eugenia Schwarzwald, in deren Salon Oskar Kokoschka sie 1916 porträtierte und in dem sie mit zahlreichen prominenten Figuren der damaligen Wiener Kulturszene zusammentraf, darunter Adolf Loos, Hermann Broch und Egon Friedell. Seit den frühen 20er Jahren war sie als Übersetzerin tätig und schrieb für renommierte österreichische, skandinavische und Schweizer Zeitungen. Erst als sie 1930 zum nordischen Pseudonym Esther Grenen greift, stellt sich quasi über Nacht ihr verdienter literarischer Ruhm ein; ein Erfolg, der allerdings durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten ein jähes Ende findet. Aufgrund des repressiven Klimas verlässt sie schon 1933 mit ihrer Tochter Österreich und geht zuerst, gemeinsam mit Bertolt Brecht und Helene Weigel, ins Exil nach Dänemark. 1939 flüchtet sie nach Schweden und scheidet 1948 nach einer langwierigen, unheilbaren Krankheit freiwillig aus dem Leben. Ihr breitgefächertes und wagemutiges literarisches Oeuvre geriet schon vor 1945 völlig in Vergessenheit.


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