E-Book, Deutsch, 187 Seiten
ISBN: 978-3-944587-90-5
Verlag: spiritbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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Lucy 1
Helena wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, ihr T-Shirt klebte am Rücken und zwischen den Brüsten bildete sich ein dunkler Fleck. Noch zwei Minuten, dann hatte sie es geschafft; sie würde die steile Strecke bis zu ihrer Wohnung zuende laufen. Natürlich wäre es verlockend, schon hier unten am Wasserspielplatz aufzugeben; die letzten 100 Meter vom Neckarufer hinauf würden ihr noch einmal alles abfordern, doch es musste sein. Helena biss die Zähne zusammen, sie würde durchhalten. Geschafft! Keuchend lehnte sie an der Hauswand und zog den Schlüssel aus der Hosentasche. Jetzt noch die drei Etagentreppen zu ihrer Mansardenwohnung. Das Laufen tat ihr gut, die Schatten der Nacht stiegen auf wie schwarze Vögel und suchten mit ausladenden Flügelschlägen das Weite. Doch kaum hatte sie die Wohnungstür aufgeschlossen, waren sie wieder da. Madame Salitzky von Zimmer 13 zum Beispiel. Madame, darauf legte sie großen Wert. Erstaunlich, was die alte Dame auf dem Klavier alles spielen konnte, sie trug die Stücke vor, als ob sie ihre ganze Karriere als Pianistin noch einmal erlebte. Leider spielte sie nur nachts – ihre Konzerte hatten doch auch nur abends stattgefunden! Gestern war sie splitterfasernackt auf ihrem Schemel gesessen und hatte die anderen mit der Mondscheinsonate wachgehalten. Irgendwie mochte sie die Alte. Wenn sie Zeit hatte, sich mit Madame zu beschäftigen, was viel zu selten vorkam, dann hatten sie immer Spaß miteinander und Helena konnte spüren, wie gut der Alten ihre Zuwendung tat. Dann blühte sie richtig auf, lachte und war liebenswürdig zu allen, sogar zu Herrn Gräber. Wenn Helena nur mehr Zeit gehabt hätte. Manchmal fragte sie sich, ob sie wirklich alles tat, um ihren alten Leutchen gerecht zu werden. Ob sie einfühlsam genug wäre, ihre verworrenen Stimmungen so zu verstehen, wie sie es brauchten, jeder und jede auf ihre eigene Art und Weise. Helena ging in die Küche und schenkte sich ein Glas Mineralwasser ein. Herr Gräber machte ihr von Tag zu Tag mehr zu schaffen. Er litt darunter, dass sein Sohn ihn so selten besuchte. Wenn der Junge dann auch noch seinen Freund mitbrachte, rastete Herr Gräber aus. Die beiden sahen aus wie Pat und Patachon. Der Große war Herr Gräbers Sohn, ein hünenhafter, grobschlächtiger Kerl. Helena hatte ihn noch nie ohne Rollbrett unterm Arm herumlaufen sehen, und er trat immer nur in Begleitung seines Freundes auf. Sobald der Kleine mit dem pickeligen Gesicht den Alten sah, zog er seine Kapuze tief in die Stirn und gab keinen Ton mehr von sich, er tat einfach so, als ob der Alte Luft für ihn wäre. Sie nahm einen Schluck, dann noch einen. Das kalte Wasser tat ihr gut. Sie seufzte. Der Große fauchte sie jedes Mal an, wenn sie ihn zurechtwies; wenn sie ihm erklärte, dass er rücksichtsvoller mit seinem Vater umgehen müsse. Herr Gräber lag Helena am Herzen, er hatte niemanden außer seinen Sohn und er war so liebesbedürftig. Sie würde es immer wieder sagen; irgendwann musste es der Junge doch begreifen, dass sein Vater nicht belastbar war und viel Liebe brauchte. Helena setzte sich auf den Küchenstuhl, streifte die Laufschuhe ab, ohne sich die Mühe zu machen, die Schnürsenkel zu lösen. Sie fühlte, wie die Müdigkeit einer durchwachten Nacht von ihr Besitz ergriff. Schnell unter die Dusche und dann für ein paar Stunden ins Bett. Warum dudelte denn ausgerechnet jetzt das Telefon? Ich geh nicht dran. Aber was, wenn es Mama wäre? Helena musste drangehen, es ging einfach nicht anders. „Hallo Helena!“ Die Stimme kam ihr bekannt vor, ohne dass ihr ein passendes Gesicht dazu einfiel. „Lucille hier – kennst du mich nicht mehr?“ „Lucille? Lucy! Meine Güte – das gibt`s doch nicht?“ Lucy! Sie hatten von der ersten bis zur letzten Klasse nebeneinander gesessen. Lucy war Helenas beste Freundin, doch nach dem Abitur hatten sie sich irgendwann aus den Augen verloren. „Lucille? Deine Stimme hat sich verändert – du klingst französisch und so fröhlich und selbstbewusst! Wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt?“ „Ich habe in der Schweiz gearbeitet, in Genf, aber jetzt bin wieder da. Ich will dich unbedingt sehen. Ich habe vor, ein Klassentreffen zu organisieren, hast du Lust mitzumachen?“ Helena tastete nach ihrem Sweatshirt – wo hatte sie es nur liegen lassen? Ihr wurde kalt, sie sollte lieber duschen statt hier in der Küche zu stehen und zu quatschen. „Weißt du“, fügte Lucille hinzu, „Ich habe gemerkt, dass Karriere nicht alles ist; deshalb bin ich zurück gekommen.“ Helena schluckte. So? – Karriere war nicht alles im Leben? Was gab es denn sonst noch? Helena verspürte kein Bedürfnis, Lucille danach zu fragen. Und wie affig dieser Name Lucille klang, sie würde sie Lucy nennen, wie immer, ob es ihr gefiele oder nicht. Die Frage nach dem Klassentreffen würde sie erst einmal links liegen lassen. „Lucy – wohnst du wieder in Heidelberg?“ „Ich erzähle dir alles, wenn wir uns sehen – nein, ich wohne auf dem Land, hab mir ein Häuschen gekauft mit einem großen Gemüsegarten und einer Pferdekoppel.“ „Ach ja.“ So genau wollte sie es gar nicht wissen, sie merkte, dass sie ungeduldig wurde. „Ich will alle zusammenzutrommeln, die ganze Clique von damals, Sophie, Klara, Gertrud, Roswitha, Sandra und vor allem dich. Wenn ihr Lust habt, könnt ihr zu mir raus kommen. Ich habe euch soviel zu erzählen, ich bin so glücklich, und vielleicht könnt ihr ja meine Erfahrungen brauchen.“ „Und dann sollen wir aus unserem Leben erzählen, und du hörst aufmerksam zu und verrätst uns, was wir falsch gemacht haben! Nach dem Motto: Fragen Sie Madame Lucille! Willst du jetzt vielleicht eine Karriere als Personal Coach anfangen, das ist gerade modern. Alles, was man dazu braucht, ist Zeit und Geld, und das hast du beides. Lucy, wirklich – ich ahne, was du sagen willst – Lebe Dein Leben, bevor es zu spät ist – oder so ähnlich. Stimmt`s?“ „Zu spät?“ Lucy machte sich in einem Seufzer Luft: „Ach Helena, ich habe viel durchgemacht. Doch jetzt bin ich wieder zufrieden mit mir. Es war ein langer Weg – a long way to Tiparary, weißt du noch, das haben wir früher immer gesagt? Jetzt mal im Ernst, ich habe gelernt, dass Zufriedenheit auch eine Frage des Willens ist. Und ich möchte meine Erfahrungen so gerne mit euch teilen.“ Helena fröstelte. Ihr Sweatshirt lag im Flur; das Handy zwischen Kinn und Schulter eingeklemmt, ging sie hinaus. Was dachte sich Lucy eigentlich? Wusste sie, wie es um Helena stand? Dass sie sich Tag für Tag abrackerte, für sich und für Blue, die immer noch nicht erwachsen war? Was redete Lucy da von Zufriedenheit? Helena wollte anständig über die Runden zu kommen, was gab es da zu erzählen? Und überhaupt, wen würden solche Langweilergeschichten schon interessieren? „Lucy, entschuldige bitte, können wir ein andermal telefonieren? Ich hatte Nachtdienst, komme gerade vom Laufen und muss dringend unter die Dusche. Ruf morgen noch mal an, ich bin den ganzen Vormittag über zu Hause.“ „Gut, dann bis morgen“, sagte Lucy. „Ich freue mich, dass wir wieder Kontakt miteinander haben.“ „Ich auch!“, sagte Helena matt. Sie sehnte sich nach ihrem Bett, das war alles. Helena zog die Decke über den Kopf. Kaum hatte sie die Augen zugemacht, war ihre Müdigkeit wie weggeblasen. Ihr Herz begann zu pochen. Da war Lucy am Telefon gewesen – ihre alte Lucy, und sie, was hatte sie getan? Sie hatte rumgezickt, wie Blue es manchmal tat, sich geweigert, mit ihrer besten Freundin zu reden und sich ins Bett gelegt. Warum war sie eigentlich so pampig zu Lucy gewesen? Auf ihre Müdigkeit konnte sie es nicht schieben. Nein, sie hatte sich benommen wie eine beleidigte Leberwurst. Keine Ahnung, aus welchen Tiefen ihres Unterbewusstseins dieser Ausdruck auf einmal herkam; in der Schulzeit hatten sie ihn sich gegenseitig um die Ohren gehauen, wenn eine sich in ihrer Eitelkeit verletzt gefühlt hatte. Zu unrecht verletzt, wohlgemerkt, aber das hier war doch etwas ganz anderes. Was Lucy ihr gesagt hatte, klang ganz schön überheblich. Lebe Dein Leben! Lucy hatte gut reden, sie sagte ja selbst, dass sie Karriere gemacht hatte. Geld spielte für sie offenbar keine Rolle mehr, also war sie frei und ungebunden. Helena stand auf. Die Sonne schien ihr mitten ins Gesicht, sie hatte immer noch keinen Rollo an ihrem Dachfenster angebracht. Hastig klemmte sie die grün-rot-blau-karierte Ikeadecke vor die Scheibe und legte sich wieder hin. Und dann noch die Idee mit dem Klassentreffen! Helena kam sich vor wie in einer Achterbahn. Sie saß in einem kleinen Wägelchen, und es ging steil abwärts. Was um Himmelswillen soll ich sagen, wenn sie mich fragen: Und du? Was hast du gemacht? Nichts. Vor Helenas geistigem Auge öffnete sich eine Mängelliste mit mindestens zehn Punkten. Nichts Richtiges. Alles nur angefangen und dann wieder aufgehört. Ein Medizinstudium ohne den Facharzt. Eine Doktorarbeit, – abgebrochen. Warum? Natürlich würde diese Frage kommen. Wegen Blue, hörte sie sich sagen. Ist das ein Grund? Wegen einer Tochter muss man doch keine Doktorarbeit hinschmeißen. Helena hörte sie überdeutlich. Gertrud Klagenfurth, die Streberin! Man vielleicht nicht, und du auch nicht Gertrud, aber ich habe sie allein großgezogen, und deshalb muss ich Geld verdienen. Ich gebe mir nämlich Mühe, weil ich bin eine gute Mutter sein will! Aber – bin ich es wirklich? Schluss jetzt mit dieser unsinnigen Fragerei! Helena...