Lappert | Über den Winter | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

Lappert Über den Winter

Roman

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

ISBN: 978-3-446-25003-1
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Lennard Salm ist fünfzig und als Künstler weltweit durchaus erfolgreich. Als seine älteste Schwester stirbt, kehrt er zurück nach Hamburg und in die Familie, der er immer entkommen wollte. So schnell wie möglich will er wieder zurück in sein eigenes Leben. Aber was ist das, das eigene Leben? Salms jüngere Schwester Bille verliert ihren Job, sein Vater nähert sich immer schneller der Hilflosigkeit. Einen funkelnden Winter lang entdeckt Salm, dass niemand jemals alleine ist. Er lernt seine Eltern und Geschwister neu kennen. Rolf Lappert erzählt vom Wunder der kleinen Dinge und von dem, was heute Familie bedeutet. Jedes Detail leuchtet in diesem zarten, großen Familienroman.
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KAPITEL I
Tag der Toten Man vergisst allzu leicht, dass wir in der Regel nur siebenmal langsamer sterben als unsere Hunde. Jim Harrison – Licht über dem Land In der Lobby des Hotels »Babylon« standen Sofas und Sessel aus braunem Kunstleder, Couchtische, gigantische leere Vasen und Stehlampen, von denen wie Früchte an einem Baum weiße Glaskugeln hingen. Eine alte, tadellos gekleidete und frisierte Frau saß in einem der Sessel und fütterte einen kaninchengroßen, in ihrem Schoß liegenden Hund mit Kuchenstücken. Farbdrucke, die tropische Landschaften zeigten, bedeckten die Wand über einer mit Plastikblumen, Karaffen und afrikanischen Holzfiguren beladenen Kommode. Aus verborgenen Lautsprechern drang leises, von Musik unterbrochenes Radiogeschwätz, ab und zu schrillte das Telefon oder die Glocke des Fahrstuhls erklang, wenn die Tür sich öffnete. Der Mann am Empfang war dunkelhäutig und dünn, ein Nordafrikaner, vermutete Salm. In seinem roten Jackett mit den goldenen Aufschlägen, Schulterepauletten und Knöpfen sah er aus wie ein Zirkusangestellter. Sein mangelhaftes Deutsch übertönte er mit einem Redefluss, dessen fröhliche Maßlosigkeit darin gipfelte, dass er Salm, nachdem der sich im Meldebuch eingetragen hatte, mehrmals aufforderte, sich aus der offenen Glaskugel auf dem Tresen zu bedienen. Das tat er so hartnäckig, bis Salm nachgab und ein paar der farbigen, in durchsichtiges Cellophan verpackten Bonbons einsteckte. Noch während die Fahrstuhltür sich schloss, hörte Salm die kehlig singende Stimme des Mannes, der ihm, wenn er es richtig verstand, einen angenehmen Aufenthalt und eine gute Nacht wünschte, mitten am Tag. Das Zimmer war weniger übel, als Salm erwartet hatte, sah man vom abgewetzten Teppichboden, den fleckigen Tapeten und den zerkratzten Schranktüren ab. Dass es keine Badewanne gab, störte ihn nicht, auch das Fehlen eines Schreibtisches war ihm egal. Er stellte sich ans Fenster, schob den steifen Tüllvorhang zur Seite und blickte auf das grüne Dach des Parkhauses hinunter, auf die Fassaden der gegenüberliegenden Gebäude und in den Himmel, der ihm nah erschien, schwer vom angekündigten Schnee. Er hörte das Hupen von Autos, die Rufe von Menschen, das Scheppern einer Metalltür. Aus einem Zimmer in der Nähe drang arabische Musik, und er schloss die Augen und legte die Stirn an die kühle Scheibe. Er fragte sich, wo Helene jetzt sein mochte, ob sie schon in einem Sarg lag oder noch in einem dieser Schubfächer in einer Leichenhalle, womit sie bekleidet war, ob er sie vor der Beerdigung würde sehen müssen und falls ja, ob man sie zu diesem Zweck eigens hergerichtet hatte. Er stellte sie sich in einem langen weißen Gewand vor, die Hände auf dem Bauch gefaltet. Schloss er die Augen, sah er die Wiese hinter dem Haus. Er rannte über den Rasen, schlug Haken, drehte sich, blieb stehen und sprang zur Seite, wenn Bille auf ihn zustürzte und die Hand nach ihm ausstreckte, atemlos und verschwitzt, die Stirn verklebt mit feuchten Haarsträhnen. Er umkreiste den Baum, an dem die Schaukel hing, wechselte die Richtung, lief rückwärts, Grimassen schneidend, tänzelnd, bis es langweilig wurde, er sich berühren ließ und seiner Schwester ein paar Sekunden gewährte, bevor er ihr hinterhertrabte und sie den Zaun entlangscheuchte, ihr Lachen und Kreischen in den Ohren, dem die Mutter bald ein Ende bereiten würde, wegen der Nachbarn und weil es ungehörig war und weil Helene Ruhe brauchte. Er sah sie aus den Augenwinkeln, wenn er an der Terrasse vorbeirannte. Sie saß mit Schreibheften, Schulbüchern und einem Beutel voller Stifte im Schatten auf einem Liegestuhl und machte Hausaufgaben. Bestimmt war sie neidisch auf ihn und Bille, weil sie beide kein kaputtes Herz hatten und sich verausgaben konnten, bis sie schnaufend ins Gras fielen. Er fragte sich, ob Helene wusste, dass er sie beneidete, um ihren Verstand, ihre guten Noten und das Lob, das sie von der Mutter erhielt, und ob sie ahnte, dass er sie manchmal für die Leichtigkeit hasste, mit der sie mathematische Rätsel löste, als seien Zahlen keine chinesischen Schriftzeichen und Gleichungen keine Gebilde aus Hieroglyphen und unlesbaren Chiffren. Dass er weinte, merkte Salm erst, als er einatmen wollte und keine Luft bekam. Er nahm die Stirn von der Scheibe, drehte sich um und verließ das Zimmer. Die Kälte tat ihm gut. Er ging ziellos durch die Straßen, in deren Läden die Lichter brannten und es alles zu geben schien, was er nie brauchen würde. Ein Geschäft namens RANGOON SUPER MARKET verkaufte Aluminiumkochtöpfe, Tempelfiguren, Lichterketten, Plastikeimer, Bilder von Sonnenuntergängen, Schirme aus Papier, gerollte Bambusmatten und tausend andere Dinge, die sich im Schaufenster und auf den Regalen türmten. Im Laden saßen zwei alte Männer auf Klappstühlen vor einer Theke und neigten ihre mit einem Turban bedeckten Köpfe einem Radio zu, das zwischen ihnen stand und aus dem eine scherbelnde, aufgeregte Stimme durch die geschlossene Tür bis nach draußen drang. Nebenan boten drei wie italienische Schlagersänger gekleidete Männer Handys an, eine Tür weiter verschleierten Dampfwolken die Gestalt eines dicken Asiaten, der mit Pfannen hantierte, unter denen riesige Flammen loderten. Die Decke eines Geschäfts hing voller Lampen, von denen keine einzige brannte. Ein Schild an der Tür verkündete: VORÜBERGEHEND GESCHLOSSEN, zwischen die beiden Zeilen hatte jemand mit Bleistift wegen Todesfall geschrieben. Im AFRICAN BEAUTY SHOP wurden Haarteile, Perücken, künstliche Fingernägel, Schmuck und Kleider aus schillernden Stoffen angepriesen, und jeder, der sich traute, durch das Schaufenster zu spähen, konnte die schwarzen Frauen bewundern, die sich um einen Maniküretisch versammelt hatten und dem Namen des Geschäfts alle Ehre machten. Salm ging vorbei an Auslagen mit Schuhen und Brillen und Handtaschen und esstischgroßen Flachbildfernsehern, auf denen die Bildgewitter der Vorabendprogramme zuckten. Als er das Klingeln hörte, brachte er die Folge von fünf, sechs Tönen nicht mit sich selbst in Verbindung, und erst nach mehreren, immer lauter werdenden Wiederholungen fiel ihm das Handy ein, das Wieland ihm am Flughafen gekauft hatte. Er nahm es aus der Manteltasche und meldete sich. Eine Alitalia-Angestellte teilte ihm mit, dass sein Koffer versehentlich in einen falschen Flieger verladen worden sei und alles unternommen werde, ihn zu finden. Die Frau versicherte ihm, das Gepäckstück werde, sobald es auftauche, nach Hamburg geschickt und zu ihm gebracht. Er nannte ihr den Namen des Hotels, bedankte sich und steckte das Handy wieder in die Tasche des Wintermantels, ebenfalls ein spontanes Geschenk Wielands aus dem Flughafenshop, das Salm vergeblich abzulehnen versucht hatte. Dann betrat er den Drogeriemarkt und kaufte eine Nagelschere, eine Zahnbürste, Zahnpasta, einen Rasierer und eine Dose Rasierschaum. Weil er nicht wusste, wann er mit dem Erhalt seines Koffers rechnen konnte, und weil sich darin ohnehin nichts für die Beerdigung Passendes befand, beschloss er, einen schwarzen Anzug, ein Hemd und ein Paar schwarzer Schuhe zu besorgen. Beim Bahnhof, wo es eine Einkaufsstraße gab, würde er sich hinter dem Vorhang einer Umkleidekabine von C&A oder H&M binnen kürzester Zeit in einen perfekten Trauergast verwandeln. Während des Gehens kam ihm die Idee, der Beerdigung fernzubleiben und Helenes Grab später zu besuchen, allein, doch dann wurde ihm klar, dass er damit die ganze Familie vor den Kopf stoßen, sie für den Rest seines Lebens gegen sich aufbringen würde. Bille zählte auf ihn, weil sie diesen Tag, der schrecklich zu werden versprach, nicht allein durchstehen wollte. Sein jüngerer Bruder Paul und seine aus Florida angereiste Mutter würden den ohnehin spärlichen Kontakt zu ihm wohl endgültig abbrechen. Der Einzige, der ihm seine Abwesenheit verziehen hätte, war sein Vater, aber nicht einmal da war er sich ganz sicher. In einem Kiosk kaufte er eine Dose Bier und trank sie draußen im Stehen, umweht von der warmen Luft aus dem Eingangsbereich eines Supermarkts. Er könnte sich betrinken, fiel ihm ein, sich so volllaufen lassen, dass er erst am nächsten Abend wieder nüchtern und die Beerdigung vorbei wäre. Niemand wusste, wo er war, nicht einmal Wieland, der ihn im Hotel »Europäischer Hof« wähnte und bestimmt bald anrufen würde, um zu fragen, wie es ihm ging und ob das Zimmer in Ordnung sei. Ein Mann stand unter der Markise eines Uhrengeschäfts und rief den Vorbeihastenden den Namen der Straßenzeitung zu, von der er einen in Plastikfolie gewickelten Packen im Arm hielt. Groß, rasiert und tadellos gekleidet sah er in den Augen der Passanten vermutlich weniger wie ein Obdachloser aus als Salm; ein Gedanke, der Salm nur sehr flüchtig erheiterte. Er trank das Bier, warf die leere Dose in einen Abfalleimer und machte sich auf den Weg zum Bahnhof. Trotz der Kälte spielten überall Straßenmusiker; ihre Saxophone, Akkordeons, Panflöten und Leierkästen beschallten die Straße mit einem an- und abschwellenden Klangbrei, aus dem sich in Wogen der Gesang einer osteuropäischen Sippe und die hohen Töne einer Geige hervorhoben. Salm kam an einem Geschäft vorbei, über dem in großen, teilweise schief stehenden Buchstaben aus rotem Kunststoff das Wort ÄNDERUNGSSCHNEIDEREI zu lesen war und an dessen Schaufenster Plakate klebten, von denen eines ANZÜGE AB € 80! verkündete. Salm blieb stehen, zögerte einen Augenblick, betrat dann aber den Laden und stolperte zuerst über eine unerwartete Stufe und gleich darauf über einen Hund, der ausgestreckt am Boden lag und ihn mit einem vorwurfsvollen Blick strafte, bevor er weiterdöste. Auf das Bimmeln der Glocke, die beim Öffnen und Schließen...


Lappert, Rolf
Rolf Lappert wurde 1958 in Zürich geboren und lebt in der Schweiz. Er absolvierte eine Ausbildung zum Grafiker, war später Mitbegründer eines Jazz-Clubs und arbeitete zwischen 1996 und 2004 als Drehbuchautor. Bei Hanser erschien 2008 der Roman Nach Hause schwimmen, der 2008 mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet wurde, und Auf den Inseln des letzten Lichts (Roman, 2010). Pampa Blues ist im Frühjahr 2012 erschienen.

Rolf Lappert wurde 1958 in Zürich geboren und lebt in der Schweiz. Er absolvierte eine Ausbildung zum Grafiker, war Mitbegründer eines Jazz-Clubs und arbeitet auch als Drehbuchautor. Bei Hanser erschienen 2008 der Roman Nach Hause schwimmen, der mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet wurde, 2010 der Roman
Auf den Inseln des letzten Lichts und 2012 das Jugendbuch Pampa Blues, das für das Fernsehen verfilmt wurde.


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