Roman
E-Book, Deutsch, 544 Seiten, Format (B × H): 1 mm x 2 mm, Gewicht: 1 g
ISBN: 978-3-446-23353-9
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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The First Deadly Sin
1980
Als er geboren wurde, starb seine Mutter. Es hatte sie ihre ganze Kraft gekostet, ihn sieben Monate und elf Tage in ihrem Bauch zu tragen. Ihn aus sich herauszupressen brachte sie um. Sie schloss für immer die Augen, als er seine zum ersten Mal öffnete. Wie zur Strafe dafür, dass er seine Mutter getötet hatte, schlug ihn der Arzt auf den Hintern. Er schrie und machte den ersten Atemzug, als seine Mutter den letzten tat. Während sie in die Leichenhalle gebracht wurde, legte man ihn in den Brutkasten. Er war zu klein, zu leicht. Er hatte keine Kraft, aber er hörte nicht auf zu schreien. Die Ärzte rätselten darüber, wie seine Lungen es schafften, sich mit so viel Luft zu füllen. Die Schwestern versuchten alles, um ihn zu beruhigen, zu trösten, aber nichts half. Er war allein. In den fünf anderen Brutkästen lagen keine Säuglinge. Sämtliche Geburten der letzten drei Wochen waren normal verlaufen, bis auf seine. Er spürte, dass etwas fehlte, dass er nicht in diesem Glasbehälter sein sollte. Deshalb schrie er. Und weil ihm die Welt zu hell war, zu weiß. Das Licht drang durch seine geschlossenen Lider, die dünn und faltig waren. Manchmal schien etwas in ihm nachzugeben, und er wurde ruhig. Dann verschwand das Licht. Seine Fäustchen öffneten sich, und im unruhigen Schlaf zitterten seine Finger. Schwester Lorraine Sadler stickte die Namen der Kinder, die das Licht der Welt im Saint Francis Hospital in Philadelphia, Pennsylvania, erblickten, auf Kissenbezüge aus weißem Baumwollstoff. Sie benutzte dabei Rosa für die Mädchen und Hellblau für die Jungen, weil es Tradition war. Die Eltern durften die Bezüge mit nach Hause nehmen, als Erinnerung. Auch das war Tradition. Obwohl Schwester Lorraine neununddreißig und noch ledig war, sah sie ihrem vierzigsten Geburtstag mit Gleichmut entgegen. Sie lebte mit einem einfältigen Labrador namens Bob zusammen, hatte alle paar Jahre eine kurze Affäre mit einem Hilfspfleger und nicht vor, noch einmal zu heiraten. Als sie neunzehn war, ließ sie sich von einem doppelt so alten Rodeoreiter, der ohne sie nicht leben wollte, vor den Altar schleppen. Als sie ihn verließ, weil es noch andere Frauen gab, ohne die er nicht leben wollte, war sie zwanzig. Er wurde kurz darauf von einem Bullen zertrampelt, und sie machte eine Ausbildung zur Krankenschwester. Kam ein Findelkind ins Saint Francis, gehörte es zu Schwester Lorraines Aufgabe, ihm einen Namen zu geben. Sie benutzte dabei eine Liste mit alphabetisch angeordneten Vornamen, die sie der Reihe nach abhakte. Mittlerweile war sie beim Buchstaben W angelangt, und dem winzigen Jungen im Brutkasten, der seit zwölf Tagen entweder schrie oder vor Erschöpfung schlief, fiel der Name Wilbur zu. Sie hatte seine Mutter gesehen, einmal nur und ganz kurz, als diese halb bewusstlos in den Entbindungssaal geschoben worden war. Nach ihrem Tod hatte Schwester Lorraine ihre Kolleginnen gefragt, aber keine konnte sich erinnern, ob die Frau erwähnt hatte, wie sie ihr Kind nennen wollte. Auch der junge Arzt, dem zum ersten Mal eine Frau bei der Geburt weggestorben war und der noch Tage danach mit leerem Blick durch die Flure ging, konnte ihr nicht weiterhelfen. Den Vater des Kindes hatte Schwester Lorraine nie gesehen. Die Frau am Empfang wusste nur, dass er schmal und schüchtern war und vor lauter Sorge um seine Frau geweint hatte. Er habe sich in den Besucherraum gesetzt und dort eine endlos lange Zeit der Ungewissheit verbracht, die um fünf Uhr zwanzig morgens zu Ende war, als man ihm die Nachricht vom Tod seiner Frau überbrachte. Er sei eine Weile stumm dagesessen, als habe er die Tragweite des Gehörten nicht begriffen, dann sei er aufgestanden und gegangen. Der Arzt habe ihm nachgerufen, das Kind, ein Junge, sei am Leben, aber der Mann habe nur kurz gezögert und das Krankenhaus dann rasch verlassen. Als ihre Schicht zu Ende war, legte Schwester Lorraine den Bezug, auf dem WILB zu lesen war, in einen Schrank und fuhr nach Hause. Statt wie üblich in den Park ging sie mit Bob nur ein paar Schritte die Straße hinunter. Sie fütterte ihn, trank eine Tasse Kaffee im Stehen und nahm dann ein Bad. Danach zog sie ihr bestes Kleid an, ein ärmelloses schwarzes, das sie nach einem Katalogbild selber geschneidert hatte, ließ sich ein Taxi kommen und zu einem Theater in der Innenstadt fahren. March And April gefiel Lorraine so gut, dass der Kummer, den der tagelang weinende Wilbur ihr bereitete, für eine Weile verschwand. In dem Stück ging es um eine junge amerikanische Lehrerin namens April Baxter, die im Paris der Jahrhundertwende den exzentrischen englischen Maler Frederic March kennenlernt. Die beiden können sich zu Beginn nicht ausstehen, doch nach neunzig Minuten Irrungen und Wirrungen sind sie ein Paar. Was da auf der Bühne geboten wurde, war weder Broadway noch Shakespeare, aber dank der Extraportion Romantik und Leidenschaft genau das, was Lorraine brauchte. Nach der Vorstellung blieb sie eine Weile im Foyer und betrachtete die ausgehängten Plakate und Fotos. Ein Mann stellte sich hinter sie, und sein Gesicht wurde vom Glas des Schaukastens reflektiert. Lorraine erkannte den Darsteller des Frederic March und drehte sich so erschrocken um, dass der Mann laut lachen musste. Mit jedem der drei Akte hatte Loraine sich mehr in den Schauspieler verliebt, das warme Gefühl nach dem letzten Vorhang aber als alberne Schwärmerei belächelt, wie sie es auch nach dem Abspann im Kino tat, wenn das Licht sie in die Wirklichkeit zurückholte. Montgomery Field, so hieß der neben der Bühne kleiner und irgendwie verloren wirkende Mann, bot Lorraine eine Zigarette an, und obwohl sie nicht rauchte, ließ sie sich von ihm Feuer geben. Drei Tage später, als die Theatertruppe weiterzog, ging Lorraine mit. Den Hund, der immer Mittelpunkt ihres privaten Lebens gewesen war, gab sie ihrem Bruder, ihren Hausrat schenkte sie einem wohltätigen Verein. Im Krankenhaus sagte sie allen Adieu und machte einen letzten Besuch auf der Säuglingsstation. Wilburs von den Glaswänden gedämpftes Schreien hörte sie schon im Flur und war zuerst erstaunt und dann besorgt, als es verstummte, sobald sie die Tür öffnete. Der schrumpelige Winzling mit der durchsichtigen Haut lag in seinem Brutkasten wie ein seltsames Tierchen, das man zu Forschungszwecken an Schläuche und Kabel angeschlossen hatte. Seine Augen waren leicht geöffnet, und Falten standen auf seiner Stirn, als hätte er Kopfschmerzen oder würde nachdenken. Er bewegte sich nicht, nur sein runder, von einem Geflecht aus blauen Arterien durchwachsener Bauch hob und senkte sich im Rhythmus seiner Atemzüge. Lorraine trat an den Kasten heran, löste die Verriegelung an der Klappe und schob ihre rechte Hand durch die Öffnung. Wilburs Kopf war warm und trocken, Flaum aus farblosem Haar stand in alle Richtungen ab. Lorraine strich vorsichtig über den durch die Geburt leicht deformierten Schädel, ständig damit rechnend, dass Wilbur wieder zu schreien anfing. Aber er schrie nicht. Er lag da, den Blick abgewandt, und schien den leisen Worten zu lauschen, die Lorraine an ihn richtete, während sie mit den Fingern sanft über den Wulst fuhr, an dem die beiden Schädelhälften zusammenwuchsen. Als Wilbur nach Lorraines kleinem Finger griff und ihn mit erstaunlicher Kraft festhielt, traten ihr Tränen in die Augen. Mehrere Minuten blieb sie so stehen, weinte leise vor sich hin und fuhr mit dem Daumen über seine winzigen Knöchel. Sie musste die Fingerchen, die sie so energisch umklammerten, mit der freien Hand lösen und eilte hinaus, ohne sich noch einmal nach dem Kind umzudrehen. Weil nach Lorraines Weggang keine der Schwestern den Brauch mit den bestickten Kissen weiterführen wollte, blieb Wilbur für unabsehbare Zeit der letzte Säugling, dem diese Ehre zuteil geworden war. Dass auf seinem Bezug nur WILB stand, schien niemanden zu stören. Jeder im Saint Francis nannte ihn so. Wilb. Sogar der Name war zu kurz geraten. Eine der Schwestern, Edna Porter, machte es sich zum Ziel, dass Wilbur wuchs. Sie badete ihn, puderte seine gerötete Haut, rieb seinen wunden, verschrumpelten Hintern mit Salbe ein und glättete seine störrischen Haare, indem sie etwas Spucke benutzte. Mehrmals täglich gab sie ihm die Flasche, und während Wilburs Kopf an ihrer schweren, unter dem weißen Kittel sich abzeichnenden Brust lag, summte sie Breakfast In America von Supertramp und schaukelte langsam vor und zurück. Fütterte ihn Edna, starrte Wilbur an die Decke. Nur manchmal, wenn Edna selbstvergessen trällernd ins Leere blickte, sah er sie für Sekunden mit Augen an, in denen so etwas wie Neugier stand. Die klassische Schönheit von Lorraines Gesicht hatte er längst vergessen, jetzt überwältigten ihn Ednas üppige Sinnlichkeit, ihr wogender Körper, ihre großen fleischigen Hände. Sie roch süßlich, und ihre Stimme klang tiefer als die der anderen Schwestern. An dem Tag, an dem Lorraine gegangen war, hatte er aufgehört zu schreien, als habe er begriffen, dass sich dadurch nichts ändern könne. Und seit jenem Tag waren Geräusche, die er zuvor übertönt hatte, zu einem Teil seines Lebens geworden. Die Stimmen der Ärzte und Schwestern, die Laute, die aus den blinkenden Maschinen kamen, Schritte von Gummisohlen auf Linoleum, das entfernte Quietschen der Räder des Gerätewagens, den die Putzfrau durch den Flur schob, dumpf durch die Wände dringendes Telefonklingeln. Alles war neu, verwirrend und beängstigend. Schön und beruhigend war nur Ednas Stimme. Sang sie, fühlte sich Wilburs Bauch warm an, beinahe heiß. Und wenn sie ihn berührte, nicht zaghaft wie die anderen, die Angst hatten, er könnte...