Lanthaler Herzsprung
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7099-7684-5
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Tschonnie-Tschenett-Roman
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-7099-7684-5
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Irgendwann um vier Uhr morgens hatte ich meinen Entschluss gefasst. Nachdem ich stundenlang auf dem Bett gesessen und ins Leere gestarrt hatte. Etwas lief falsch. Etwas war außer Kontrolle. Wo ich auftauchte, gab es innerhalb kürzester Zeit Tote. Dafür musste es einen Grund geben.
Von heute aus gesehen ist diese Sicherheit, die mich im April des Jahres 1992 offensichtlich so plötzlich und alles plattwalzend wie eine Staublawine überrollt hat, eine äußerst trügerische Angelegenheit. Im Nachhinein denke ich, ich hätte einiges von dem, was zu erzählen ist, vermeiden können, wenn ich auf den hundsgemeinen Hausverstand gehört hätte. Nur: Damals war ich ein paar Jahre jünger. Entsprechend dümmer. Und vor allem: Damals hatte ich noch nicht erfahren, wie wenig es dazu braucht, einen Menschen ums Eck zu bringen. Zwei Bankkonten, ein halbwegs weißer Hemdkragen, eine Satellitenverbindung und eine Gewinnspanne, die um Zehntelpunkte über dem liegt, was sie Verlust nennen. Das reicht. Ich hatte es nicht glauben wollen. Und war dann mit meiner vorlauten Nase ziemlich unsanft darauf gestoßen worden
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Berta hatte wieder einmal ihr letztes Unterhemd verschenkt. Na ja, das vorletzte. Die gute Berta. Wer es nicht besser wußte, hätte glauben können, sie ließe sich von so einem Tunichtgut wie mir sang- und klanglos über einen ihrer Bartische ziehen. War gar nicht so. War ganz anders. Eigentlich hatte ich ein Essen ausgeben wollen. Für Berta, die siebenundsechzigjährige Chefin und alleinige Arbeitskraft in dieser nicht ganz legalen Bar im hintersten Pflerschtal. Und für Totò, der mit Anfang dreißig ein paar Jahre jünger war als ich, dafür aber ein Bulle, einer von der Polizia di Stato. Ein Essen ausgeben, das hieß bei mir nicht, mit einer dieser Plastikkarten herumfuchteln, bezahlt der Alte schreien und den Kellner treten, wo er nur zu treten ist. Ein Essen ausgeben hieß: auftischen. Kochen. Mir half es, meine Nerven unter Kontrolle zu behalten, und die anderen hatten es bis jetzt noch immer überstanden. Und deswegen, und weil ich nicht wußte, ob es mir besonders mies oder besonders gut ging, hatte ich ein Essen ausgegeben. Ohne vorher bei meiner Bank nachzufragen, was die davon hielt. Weshalb es soweit gekommen war, daß Berta nicht nur ihren Ruhetag auf den Dienstag verschoben und Küche und Bar zur Verfügung gestellt hatte. Sie hatte auch noch einen guten Teil der notwendigen Einkäufe bezahlt. »Dafür spül ich ab«, hatte ich zu ihr gesagt, als sie mir die hunderttausend Lire in die Hand gedrückt hatte. »Ja«, hatte sie gesagt. »Und das Geld schick ich dir von unterwegs. Sobald ich eine Fuhre kassiert hab.« »Jaja.« Mir war irgendwie knieweich geworden. »Ist’s dir nicht recht, Berta?« »Doch, doch. Geh schon«, hatte sie gesagt, mich vor die Tür geschoben, nach einem Besen gegriffen und die drei Stufen vor der Bar langsam und gründlich gekehrt. Ich war ein paar Schritte weiter stehengeblieben. Auf Halbweg zu der Zugmaschine. »Wenn ich’s dir sag«, hatte Berta nach einer Weile gesagt. »Geh schon. Zu kochen hast ja auch noch, wenn rechtzeitig fertig werden willst. Damit rechtzeitig fahren kannst.« Drei Stunden später hatte ich zwei Kartons voll Zeug eingekauft, drei Weiße getrunken, Berta einen Kuß auf die Stirn gegeben und mich an den Herd gestellt. Eigentlich war Rico an allem Schuld gewesen. In Montegaldella, einer Autobahnraststätte nördlich von Mantova, war ich auf einen alten Bekannten gestoßen. Wir hatten uns einen Extracaffè genehmigt und waren ins Reden gekommen. Was alles passiert war, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten. Was nicht passiert war. Was hätte passieren können. Mir war’s nicht unrecht, mein Fahrtenschreiber wußte ziemlich genau, daß ich längst schon eine Pause hätte einlegen müssen. Wenn es nur nach den Gesetzen gegangen wäre. Aber von solchen Pausen hat der Chef nix, der Fahrer nicht allzuviel, und dem Rest der Welt war’s eigentlich egal. Freddy, der im Zivilleben Rico hieß, erzählte mir von Frau und Kindern, dann von Nebenfrau und Nebenkindern, von seinen zwei mastini und dem neuen LKW, den er sich angeschafft hatte. Und von dem er mindestens ebenso begeistert wie von seinen Kindern war. Was mich etwas nachdenklich stimmte. Ich hatte das Teil schließlich gesehen, als er es eingeparkt hatte. Ein uralter Fiat, Siebeneinhalbtonner, drei Lagen Lack, vier Lagen Rost. Aber Freddy liebte seinen LKW. Und Rico liebte seine Frauen und seine Kinder. Und Pferde. Die hatte er zur Zeit geladen. In Hälften und Vierteln. »Bona roba«, sagte er, »allerfeinstes Maremma-Fleisch.« Hatte Zeigefinger auf Daumen gepreßt, quergelegt, vor seinem Mund von links nach rechts gezogen, und dabei pfeifend Luft eingesogen. Eine Viertelstunde später und nachdem wir uns durch die Hälften gezwängt hatten, zog er ein Messer, deutete damit auf eines der Fleischteile und sagte: »Puledro.« So war ich zu meinem Fohlen gekommen und Berta zu ihrem Kopfschütteln. »Nein«, sagte sie, als sie erfahren hatte, was am Abend auf den Tisch kommen sollte. »Eß ich dir nicht. Kannst mir’s kleinweis eingeben. Ich eß es dir nicht. Fohlen. Mein Lebtag nicht.« »Zuerst muß ich’s eh kochen«, sagte ich. »Tschenett …«, sagte Berta. Jetzt wurde es ernst. Wenn sie mir schon so hochoffiziell kam. »Tschenett«, sagte Berta, »warum tust du das?« »Was?« sagte ich und hoffte auf Gnade und darauf, mich dumm stellen zu dürfen. »Das Gekoche«, sagte Berta und gab keine Gnade. »Willst wieder weg, ja? Hält’s dich nicht mehr?« Bertas Fragerei kam mir einfach zu früh. Viel zu früh. Ich wußte es selbst noch nicht. Zeitweise. Zeitweise wieder schon. Berta drehte sich auf der Stelle um. Und ging. »Die Hennen«, sagte sie. Und damit stand ich da. Ich machte mich übers Gemüse her. Karotten, Zucchini und Spinat mußten gesäubert werden. Das dauerte. Aber Totò hatte eh erst um sieben Uhr Dienstschluß, und ich brauchte Zeit zum Nachdenken. Rico hatte mir auf der Autobahnraststätte die Fohlenschnitzel in die Hand gedrückt. Wir hatten uns noch einmal kurz und heftig umarmt und waren weitergefahren, jeder in seine Richtung. Für mich hatte das geheißen: Mit einer Ladung Billigchianti nach Kiefersfelden. Dort war ich meinen Hänger an die Deutsche Bundesbahn losgeworden und auf den Brenner zurückgekehrt. Immer mit dem Fohlen auf dem Beifahrersitz. Und als ich dann in der Tür meiner Wohnung im Haus Waldfrieden in Maria Trens stand, mir das Chaos, das sich dahinter ausbreitete, angesehen hatte, als dann auch noch Colonnello Amorino Paganotto, der Haschischhundestaffelführer bei der Guardia di Finanza war und insofern mein Nachbar, als er einen Stock unter mir wohnte, dieser Colonnello, in dessen Wohnung ich vor ein paar Monaten ein hochnotpeinliches Verhör durch einen durchgeknallten Spezialbullen aus Bozen über mich ergehen hatte lassen müssen, nachdem man mich aus einer Bar entführt hatte, in der ich mich mit einer Rothaarigen aus dem Hohen Norden über Candalostias Tequila-Importe hergemacht hatte, als dann also dieser Colonnello hinter mir auftauchte und etwas von riscaldamento und Heizkostenabrechnung sagte, und: Da war es mir zuviel geworden. Da konnte Freund Totò zehnmal im Stock über mir wohnen und die Geister der Ordnungshüter, die durchs Haus flatterten, bändigen wollen. Mir war’s zuviel geworden. Ich hatte dem Colonnello wortlos die Tür vor der Nase zugeknallt, hatte mich dann an sie gelehnt und mich langsam zu Boden gleiten lassen. War da gesessen, mit meinem Fohlen in der Hand, die längste Zeit. Ich mußte weg hier. Die Gemüseputzerei wurde langsam anstrengend. Ich legte eine kleine Verschnaufpause ein, öffnete eine Flasche von dem Rotwein, den ich für den Abend besorgt hatte und verkostete ihn erst einmal. »Na, Tschenett, wenn der noch ein wenig Luft gekriegt hat und der Rest auch so anständig wird, dann hast dich nicht lumpen lassen«, sagte ich. Ich ließ das Gemüse erstmal abseits liegen und machte mich über das Fohlen her. Es war schon dunkel geworden, als ich mich wieder auf den Weg gemacht hatte. Von der Autobahn auf der anderen Talseite, einen knappen Kilometer entfernt, waren die Kollegen zu hören. Fuhren nach Norden, fuhren nach Süden. Tag und Nacht, immer und immer wieder. Rauf und runter. Die Mautstelle und das LKW-Terminal strahlten im Licht der Scheinwerfer rosa vor sich hin, der Himmel über dem Talboden leuchtete dunkel mit. Morgen Vormittag würde ich mit meiner Zugmaschine auf das LKW-Terminal fahren und dann mit vollem Hänger einen Abstecher nach Verona machen. Verona. Ein Katzensprung. »Weit hast es gebracht, Tschenett. Sterzing–Verona. An einem Tag! Schwanz, schlappiger«, hatte ich gesagt, war auf die Zugmaschine gestiegen und zu Candalostia nach Sterzing gefahren. Mehr war eben zur Zeit nicht im Angebot. Wenn ich ehrlich war, mochte das auch daran liegen, daß ich regelmäßig mit den diversen Chefs Streit bekam. Was, unter uns gesagt, auch an mir liegen konnte. Auf einen in Haus Waldfrieden in Maria Trens residierenden Aushilfs-LKW-Fahrer und gewesenen Nordmeerfischer schien die Welt eben nicht zu warten. »Na Tschenett, alter Seebär, einmal Kielholen?« hatte Candalostia gesagt, kaum war ich in seiner ebenso kleinen wie verraucht verruchten Bar Gigi aufgetaucht. »Einmal Kielholen«, hatte ich gesagt und mich leise stöhnend an den Pudel gelehnt. »Oder, weißt du was: ‘n halbes Mal.« »Und das geht?« »In meinem Fall schon«, hatte ich gesagt. Candalostia hatte sich zufrieden gegeben und mir einen doppelten Schwarzgebrannten eingeschenkt. Kielholen hieß für Candalostia, daß sich der Tschenett abfüllen wollte. Seit ich ihm vor ein paar Wochen erklärt hatte, was die alte christliche Seefahrt, der ich ein knappes Jahrzehnt...