E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Reihe: Wiederentdeckte Schätze der deutschsprachigen Science Fiction
Bilder vom kommenden Krieg
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Reihe: Wiederentdeckte Schätze der deutschsprachigen Science Fiction
ISBN: 978-3-98857-037-6
Verlag: Hirnkost
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
''Das Menschenschlachthaus erreichte hohe Auflagen und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Dennoch erreichte es nicht die erhoffte friedensfördernde Wirkung; wohl nicht zuletzt, weil viele darin eher eine spannende fiktionale Dystopie als eine realitätsnahe Darstellung sahen. Gut einhundert Jahre später, also zu einem Zeitpunkt, da der Krieg in der Ukraine mit all seinen zerstörerischen Wirkungen uns tagtäglich vor Augen geführt wird, erscheint es mir umso wichtiger, auf die Anfänge des maschinell geführten Krieges, auf das menschenzerstörende Kraftfeld der Materialschlachten und auf die Verwüstung ganzer Landstriche zurückzublicken, und zwar in dem Bewusstsein, dass das Vergangene im Gegenwärtigen präsent sein muss, damit wir auf verantwortliche Weise die Zukunft gestalten können." (Wilhelm Krull in seinem Vorwort)
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Vorwort
von Wilhelm Krull Die Erde hat sich aufgetan … es blitzt und knallt,
es donnert, und der Himmel reißt entzwei
und fällt herab – die Erde fliegt in Stücken auf … die
Menschen und die Erde explodieren
und fahren rund wie Feuerräder durch die Luft …
und dann … ein Krach, ein wütendes Getöse
schlägt uns auf die Brust,
dass wir rücklings zu Boden fliegen
und besinnungslos im Sand nach Atem ringen …
Wilhelm Lamszus, Das Menschenschlachthaus (1912) August 1914 – der Beginn des Krieges, der für mehr als vier Jahre das Leben von mehreren Hundert Millionen Menschen bestimmen sollte, wird allenthalben begeistert begrüßt, entfacht große Abenteuerlust und scheint vielen Freiwilligen die Gelegenheit zu bieten, durch entschlossenes Handeln zum Helden zu werden. Nicht nur im Deutschen Kaiserreich, sondern auch in den Nachbarländern geht man von einem raschen Sieg aus. Während die deutschen Truppen auf schnellem Wege »nach Paris reiten« wollen, lesen wir auf französischen Militärwaggons umgekehrt von einer Reise »á Berlin«. Nicht nur der »Mann auf der Straße«, sondern auch die intellektuellen Eliten der Zeit – Professoren ebenso wie Schriftsteller und bildende Künstler – waren eifrig dabei, wenn es galt, mit nationalem Pathos den Kriegseintritt zu unterstützen. Ob Richard Dehmel, Gerhart Hauptmann, Hugo von Hofmannsthal oder Thomas Mann (und viele mehr) – sie alle stimmten mit großer Begeisterung in den Jubel über den gerade begonnenen Krieg ein. »Wie hätte der Künstler, der Soldat im Künstler nicht Gott loben sollen für den Zusammenbruch einer Friedenswelt, die er so satt-, so überaus satthatte!« Mit diesen Worten brachte Thomas Mann 1914 (in »Gedanken im Kriege«) den Überdruss am wilhelminischen Alltagsleben in ähnlicher Wiese wie viele seiner Kollegen (so etwa Georg Heym schon 1910) zum Ausdruck. Eine ganze Reihe namhafter Autoren beteiligte sich eifrig an der Formulierung von Kriegszielen und Eroberungsplänen. Sie erhofften sich von dem erwarteten Sieg der Mittelmächte zugleich eine geistige und moralische Erneuerung des deutschen Volkes. Die emphatische Betonung der »Heiligkeit der deutschen Sache« (so Rudolf Borchardt in Der Krieg und die deutsche Selbsteinkehr) diente dazu, noch die absurdesten Kriegsforderungen zu rechtfertigen und das Verhalten der deutschen Seite zu einer unhintergehbaren Voraussetzung jeglicher Lagebeurteilung zu erklären. Die mit solchen Argumentationsmustern verbundene Ausschaltung multiperspektivischer Argumentationslogiken wurde nicht nur gebilligt, sondern auch offen propagiert. »Ich liebe Deutschland und will deshalb, dass es lebe – zum Teufel mit aller (objektiven) Rechtfertigung dieses Wollens aus der Kultur, der Ethik, der Geschichte oder Gott weiß was heraus. Sobald ich auf solche eintrete, bin ich gerade in der Gefahr jedes Beweisenden: widerlegt zu werden. Unwiderleglich ist nur das Unbeweisbare – unser Wille zu Deutschland, der sich über alle Deduktionen stellt.« Diese Sätze aus einer Rede des Philosophen Georg Simmel zum Thema »Deutschlands innere Wandlung« geben den Sturz aus der Vernunft hinein in eine »geistige Mobilmachung«, den viele deutsche Intellektuelle bei Kriegsbeginn vollführten, durchaus gültig wieder (auch wenn viele Professoren und Schriftsteller nicht darauf verzichteten, den Krieg in zahlreichen Artikeln und sogar ganzen Schriftenreihen mit scheinbar wissenschaftlichen Methoden und Argumenten zu rechtfertigen). Wie die in den Gedichten, Essays und Artikeln dominante Schwert-Schild-Heldenmetaphorik unterstreicht, ging man allenthalben davon aus, dass der Krieg noch von der Kavallerie und ritterlichen Zweikämpfen geprägt sein würde. Da passte es nicht ins Bild, dass es schon im Laufe des Herbstes 1914 zu einem von der modernen Waffentechnik erzwungenen Stillstand, zum Grabenkrieg und zu einer Erstarrung der Kampflinien kam, die sich auch in den nächsten Jahren – trotz ungeheurer Materialschlachten, insbesondere an der Westfront – nur noch um wenige Kilometer verschoben, aber nicht mehr entscheidend durchbrochen werden konnten. Erst als die deutschen Truppen, überanstrengt und erschöpft, den von zahlreichen Panzerwagen, Minenwerfern, Granaten und Kampfflugzeugen massiv verstärkten Angriffen französischer, britischer und amerikanischer Divisionen nicht mehr standhalten konnten, setzte sich in den letzten Monaten des Krieges eine neue Strategie des Bewegungskrieges durch. Die erschütternde Erfahrung des maschinell betriebenen Krieges und das ungeheure Ausmaß der Zerstörung trafen die meisten Soldaten vollkommen unvorbereitet. Pointiert hat dies Walter Benjamin in seinem Aufsatz Der Erzähler (von 1936) formuliert: »Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken und unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper.« Die Unübersichtlichkeit und Unbegreiflichkeit der Ereignisse, die wie Naturkatastrophen über die Soldaten hereinzubrechen schienen, die ungeheure Reichweite und Durchschlagskraft der Geschosse, die Verwandlung ganzer Landstriche in kraterübersäte Wüsteneien und vor allem das Massensterben auf den Schlachtfeldern veränderten geradezu radikal die Wahrnehmung des Krieges. »Im Fegefeuer des Krieges«, so der Maler Franz Marc schon im Herbst 1914, stelle sich das soldatische Leben vollkommen anders als erwartet (wenngleich nicht frei von Faszination) dar: »Was wir Krieger in diesen Monaten draußen erleben, überragt in weitem Bogen unsere Denkkraft. Wir werden Jahre brauchen, bis wir diesen sagenhaften Krieg als Tat, als unser Erlebnis werden begreifen können.« Dabei fehlte es in der Vorkriegszeit nicht an warnenden Stimmen. Bereits 1892 hatte Alfred H. Fried die deutsche »Friedensgesellschaft« gegründet und seit 1899 auch die Friedenswarte. Zeitschrift für internationale Verständigung herausgegeben. Wegen seiner Verdienste um die Völkerverständigung erhielt Fried 1911 den Friedensnobelpreis. Im selben Jahr formulierte er im Vorwort des Handbuchs der Friedensbewegung voller Zuversicht: »Es besteht für mich kein Zweifel, dass die Friedensidee nunmehr auch in Deutschland und Österreich jene Stellung einnehmen wird, die ihr in anderen Ländern bereits eingeräumt ist.« Als der Krieg begann, befand sich Fried mitten in den Vorbereitungen für den 21. Weltfriedenskongress, der für Anfang September 1914 in Wien geplant war. In sehr ausdrucksstarken Bildern vom kommenden Krieg (so der Untertitel) hatte der Hamburger Pädagoge und Schriftsteller Wilhelm Lamszus in seinem Buch Das Menschenschlachthaus 1912 eine realitätsnahe Schilderung des künftigen Geschehens auf den Schlachtfeldern vorgelegt. Anlässlich eines Manövers hatte Lamszus die ungeheure Wucht der modernen Waffentechnik beobachtet und versuchte, mit erzählerischen Mitteln seinen Lesern vor Augen zu führen, dass ein nächster Krieg von einer gewaltigen Tötungsmaschinerie und von Massensterben auf den Schlachtfeldern geprägt sein würde. Das Buch erreichte hohe Auflagen und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Dennoch erreichte es nicht die erhoffte friedensfördernde Wirkung; wohl nicht zuletzt, weil viele Leserinnen und Leser darin eher eine Art spannender fiktionaler Dystopie oder gar Science Fiction als eine realitätsnahe Darstellung sahen. In den Worten Carl von Ossietzkys (in seiner Einleitung zum Fortsetzungsband Das Irrenhaus. Visionen vom Krieg, der erst 1919 erscheinen konnte): »Man delektierte sich daran, wie an den Utopien eines Wells. Doch fühlte man nicht das Seherische in dem schmalen Büchlein. Irgendwie ahnte man die ungeheure Gefahr, aber das Geschlecht war zu feige, um diesem Bild Wirklichkeit zuzusprechen. Das Menschenschlachthaus, als Fanal gedacht, wurde durch die Wertung zum belletristischen Ereignis.« Gut einhundert Jahre später, also zu einem Zeitpunkt, da der Krieg in der Ukraine mit all seinen zerstörerischen Wirkungen uns tagtäglich vor Augen geführt wird, erscheint es mir umso wichtiger, auf die Anfänge des maschinell geführten Krieges, auf das Menschen zerstörende Kraftfeld der Materialschlachten und auf die Verwüstung ganzer Landstriche zurückzublicken, und zwar in dem Bewusstsein, dass das Vergangene im Gegenwärtigen präsent sein muss, damit wir auf verantwortliche Weise die Zukunft gestalten können. In diesem Sinne wünsche ich der Neuausgabe dieses Buches möglichst viele engagierte Leserinnen und Leser, die bereit und in der Lage sind, Zukunftsbilder und Visionen auch negativer Art – im Sinne eines realitätsnahen...