Lammert | Unser Staat. Unsere Geschichte. Unsere Kultur | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Lammert Unser Staat. Unsere Geschichte. Unsere Kultur

Verantwortung für Vergangenheit und Zukunft

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-451-80624-7
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Norbert Lammert blickt mit diesem Buch auf unser Land. Auf ein Deutschland, in dem wir heute weltoffen,
demokratisch und frei zusammenleben. Das war nicht immer so. Nach dem Scheitern der Weimarer Republik, dem Zweiten Weltkrieg und der jahrzehntelangen Teilung standen wir an einer Schwelle, die einen
Neubeginn nötig und möglich gemacht hat. Der Autor betrachtet die deutsche Geschichte und Gegenwart und analysiert pointiert die Frage "Was geht uns unsere Geschichte an?" aus unterschiedlichen Perspektiven.
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2. »Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf«
Vom 17 Juni 1953 zum 18. März 1990
»Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf!«, hatte Erich Honecker noch Anfang Oktober 1989 anlässlich der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR gesagt. Vier Wochen später fiel die Mauer, weniger als ein halbes Jahr danach war die kommunistische Regierung durch freie Wahlen gestürzt, ein Jahr später der Staat aufgelöst: Die DDR hatte sich durch Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes mit der Bundesrepublik Deutschland vereinigt. Es waren nicht Ochs und Esel, es waren die Menschen, die den Sozialismus 1989 nicht nur aufhielten, sondern ihn ersetzten: durch die Freiheit. Der Kampf für Einigkeit und Recht und Freiheit war endlich vom Erfolg gekrönt, begonnen hatte er viel früher. Um die Freiheit ging es den Menschen auch am 17. Juni 1953. Der Tag gehört deshalb zu den herausragenden Daten der jüngeren deutschen Geschichte. In der Begründung zu dem Bundesgesetz, das den 17. Juni noch im selben Jahr zum gesetzlichen Feiertag bestimmt hat, heißt es: »Am 17. Juni 1953 hat sich das deutsche Volk in der sowjetischen Besatzungszone und in Ost-Berlin gegen die kommunistische Gewaltherrschaft erhoben und unter schweren Opfern seinen Willen zur Freiheit bekundet. Der 17. Juni ist dadurch zum Symbol der deutschen Einheit in Freiheit geworden.« Die Geschichte des 17. Juni 1953 ist, für sich betrachtet, die Geschichte einer Niederlage. An jenen Tagen Mitte Juni 1953 haben in der DDR Hunderttausende Menschen – die Schätzungen reichen von 400 000 bis zu 1,5 Millionen – erstmals den Fuß in die Tür zur Freiheit gestellt. Das Regime hat diese Tür jedoch wieder zugeschlagen – nicht nur in Berlin, sondern auch in Rostock, Schwerin, Frankfurt/Oder, Magdeburg, Cottbus, Halle, Erfurt, Dresden, Chemnitz und anderen Orten, an denen die Menschen auf die Straße gingen. Mit welcher Gnadenlosigkeit und Menschenverachtung dies geschah, zeigt das Beispiel des Autoschlossers Alfred Diener in Jena. Der damals gerade 26-Jährige war dabei, als der SED-Kreisleitung die Forderungen der 20 000 Demonstranten auf dem Holzmarkt vorgetragen wurden. Er wurde noch am Nachmittag des 17. Juni verhaftet und am Morgen des 18. Juni durch ein sowjetisches Militärtribunal zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde sofort vollstreckt. Alfred Diener hatte am 19. Juni 1953 heiraten wollen. Er hinterließ neben seiner Verlobten seinen sechs Monate alten Sohn. Andere Demonstranten wurden auf offener Straße erschossen, für Jahre inhaftiert oder bezahlten mit Diskriminierung für ihren Widerstand. Der Aufstand der Menschen in der DDR war brutal niedergeschlagen worden, und doch waren die Erhebungen von 1953 in der Rückschau der Beginn eines letztlich erfolgreichen Kampfes für die Freiheit. Fritz Stern, der als Junge mit seiner deutsch-jüdischen Familie 1938 aus Breslau vertriebene amerikanische Historiker, sagte in seiner Rede zur Gedenksitzung des Deutschen Bundestags am 17. Juni 1987, also zwei Jahre vor dem Fall der Mauer: »Aus der heutigen Sicht kann man sehen, dass die damaligen Kämpfer mehr erreicht haben – sowohl Erstrebtes wie Ungeahntes –, als man nach ihrer Niederlage vor sowjetischen Panzern hätte erwarten können. Der 17. Juni wurde zu einem Vorboten von Aufständen und Reformen: Die Menschen der Nachbarländer der DDR, die Polen, die Ungarn, die Tschechen, haben auf ihre eigene großartige Weise versucht, ihre Forderungen durchzusetzen … Der 17. Juni hat einen Prozess eingeleitet, in dem immer erneute Forderungen Reformen erzwungen haben.« Viele Menschen in Westdeutschland werden den 17. Juni allerdings vor allem als arbeitsfreien Tag in Erinnerung haben, weniger als einen nationalen Gedenktag, vielmehr als einen Ausflugstag bei häufig schönem Wetter. Und wenn wir ehrlich sind, war das Gedenken an den 17. Juni 1953 in der alten Bundesrepublik für viele eher ein Ritual und in der früheren DDR, wie die Bundeskanzlerin es einmal knapp formulierte, ein »Untag« – vermutlich bei jedem Wetter. Seit der Wiedervereinigung haben wir die Möglichkeit, ein gemeinsames Verständnis des 17. Juni als eines nationalen wie eines europäischen Gedenktags in Ost und West zu entwickeln, ein Verständnis, das unser Gedenken an diesen Tag als Teil des Erinnerns der europäischen Freiheits- und Einheitsgeschichte des 20. Jahrhunderts ansieht. Der Fall der Mauer 1989 war nicht der Anfang, sondern der glückliche Abschluss einer Entwicklung, die viele Jahre früher begonnen und nicht nur in Deutschland, sondern fast überall in Mittel- und Osteuropa stattgefunden hat. An die polnischen Verdienste um Freiheit und um die Einheit Deutschlands und Europas erinnert ein Mauerstück der ehemaligen Danziger Lenin-Werft an der Ostfassade des Reichstagsgebäudes auf dem Friedrich-Ebert-Platz. Es handelt sich um einen Teil jener Mauer, über die Lech Wal?sa am 14. August 1980 sprang, um den Streik zu organisieren, der zur Gründung der Solidarnosc-Gewerkschaft führte. »Zur Einnerung an den Kampf der Solidarnosc für Freiheit und Demokratie und an den Beitrag Polens zur deutschen Wiedervereinigung und für ein politisch geeintes Europa«, so lautet der Text der an dieser Mauer angebrachten Bronzetafel. Sie ist ein Zeichen der Erinnerung an eine oft nicht einfache, nicht immer glückliche, aber jedenfalls gemeinsame Geschichte unserer beiden Länder, die – in der Formulierung des unvergessenen großen polnischen Papstes Johannes Paul II. – »der Wille Gottes zu Nachbarn gemacht hat«. Schon seit geraumer Zeit erinnert eine andere Gedenktafel an die Freundschaft zwischen Deutschland und Ungarn und die souveräne Entscheidung eines damals nicht gänzlich souveränen Landes zur Öffnung der Grenze zwischen Ungarn und Österreich und die damit verbundene Entwicklung zur Wiederherstellung der Einheit Deutschlands und Europas. Es führt kein gerader Weg vom 17. Juni 1953 zum 3. Oktober 1990. Aber der Umweg über Budapest 1956, Prag 1968, Danzig 1980 zurück nach Berlin beschreibt die innere Logik der jüngeren Geschichte Europas: der Verlust der Freiheit war verbunden mit der Teilung Deutschlands und Europas, die nur im gemeinsamen Kampf für die Wiederherstellung der Freiheit zu überwinden war. Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg waren die ersten und einzigen freien Wahlen zur Volkskammer der DDR am 18. März 1990. Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) hatte vierzig Jahre keine freie und geheime Abstimmung zugelassen, mit Einheitslisten die Bürger in Wahlen ohne Auswahl zum bloßen »Zettelfalten« degradiert. Der Wahlausgang war das Ergebnis dreister Fälschungen, die die Menschen schließlich nicht mehr hinnehmen wollten. »Wer Wahlergebnisse vorfertigt oder verfälscht, oder vorgefertigte oder verfälschte in Umlauf bringt, wird mit einer AUSREISEQUOTE nicht unter 50 000, mit einer BOTSCHAFTSBESETZUNG nicht unter 3 Monaten und einer PROTESTDEMONSTRATION […] nicht unter 10 000 Teilnehmern bestraft«, hieß es in einem Aufruf zu einer Demonstration im November 1989. Statt der propagierten Identität von Herrschern und Beherrschten hatten bereits im Mai 1989 einzelne Bürger vor aller Augen den Bruch zwischen Partei und Volk offengelegt. Sie machten Wahlbehinderung, Wahlbeeinflussung und Wahlfälschung öffentlich. Diese heute zu Unrecht weitgehend Vergessenen nahmen Drangsalierungen in Kauf, sie riskierten, abgehört, beobachtet und unter Druck gesetzt zu werden. Der Protest gegen die letzten gefälschten DDR-Wahlen schlug einen Funken, der im Herbst des gleichen Jahres Massenproteste entzündete. Nun waren es nicht mehr wenige, auch nicht die angedrohten 10 000, sondern am Ende Hunderttausende, die sich gegen die Missachtung elementarer Bürger- und Menschenrechte in der DDR zur Wehr setzten. Sie forderten: »Freie Wahlen – wahre Zahlen!« Das mutige Engagement einer Minderheit ermöglichte am Ende der Mehrheit, ihre eigene Stimme zu finden – und am 18. März 1990 in wirklich freien, allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlen an die Urnen zu tragen. Die autoritäre Führung dieser deutschen, aber nicht demokratischen Republik baute auf Bevormundung und Unterdrückung, auf häufig erzwungene Teilnahme, sie gewährte aber keine echte Teilhabe, schon gar keinen ernsthaften politischen Einfluss. Das galt auch für ein Parlament, das kaum zusammentrat, und wenn doch, die Abgeordneten zu bloßen Statisten unter Regie der Einheitspartei machte. Die DDR-Zeitschrift Staat und Recht urteilte 1978 über die Volkskammer, dieses vermeintlich »oberste staatliche Machtorgan der DDR« sei nicht mit den Maßstäben bürgerlichen Parlamentarismus messbar und bewertbar. Das ist wohl wahr. Die selbst beanspruchten demokratischen Grundsätze machen eine Bewertung dagegen durchaus möglich: Die Verfassungstheorie versprach die zentrale Rolle der Volkskammer; die politische Realität zeigte allein deren Ohnmacht. Das »große Sprech- und Horchinstrument«, das Bertolt Brecht 1954 vorgeschwebt hatte, ist die Volkskammer bis zu den Wahlen am 18. März 1990 sicher nie gewesen. Was ein politisches System als Demokratie qualifiziert, ist die Existenz und gefestigte Rolle eines frei gewählten Parlamentes im Verfassungsgefüge wie in der politischen Realität. Regiert wird immer und überall auf der Welt, mal mit und auch heute noch allzu oft ohne demokratische Legitimation. Ein frei gewähltes demokratisches Parlament macht den Unterschied. Es ist das Forum der Nation zur öffentlichen Auseinandersetzung, Beratung und Entscheidung aller wichtigen Angelegenheiten. »Wir sind das Volk«: Das bedeutete 1989, sich von der Entmündigung zu befreien und die Dinge selbst in die Hand nehmen zu wollen. Allein die...


Norbert Lammert, Dr. rer. soc., geb. 1948, seit 1980 Mitglied des Deutschen Bundestages; 1989-1998 Staatssekretär; Mitglied des CDU-Präsidiums; 2002-2005 Vizepräsident, seit 2005 Präsident des Deutschen Bundestages. Er ist Honorarprofessor der Uni seiner Heimatstadt Bochum.


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