Laimo Aus tiefster Nacht
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-8025-8110-6
Verlag: LYX
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 430 Seiten
ISBN: 978-3-8025-8110-6
Verlag: LYX
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Hätte mir vor zwei Jahren jemand eine Million Dollar dafür geboten, Manhattan gegen ein Eigenheim auf dem Land einzutauschen, hätte ich demjenigen geantwortet, das wohl eher die Mets und die Yankees in der Subway Series aufeinandertreffen würden. Ach was, selbst einen Monat vor meinem Umzug hätte ich mich noch geweigert, meine große Wohnung in der Stadt für ein Holzrahmenhaus in einer abgelegenen Gegend aufzugeben, in der es mehr Kühe als Menschen gab und in der der nächste Nachbar einen Kilometer entfernt hinter sonstiger Fauna und Bäumen lebte. Natürlich sind die Mets und die Yankees in der Subway Series aufeinandergetroffen, und ich lernte an dem Tag, als ich in das idyllische Städtchen Ashborough in New Hampshire zog, auch meinen nächsten Nachbarn kennen, Phillip Deighton, der einen knappen Kilometer entfernt wohnte. Der Mann war zum Retter unseres Familienhaustiers Jimmy Page geworden, eines reinrassigen Cockerspaniels, der am Tag unseres Einzugs in das im Kolonialstil errichtete Haus mit vier Schlaf- und drei Badezimmern aus dem Minivan gesprungen und im Wald verschwunden war. Eigentlich war Page Jessicas Hund, ein Geschenk von meiner Frau zu ihrem vierten Geburtstag im vergangenen Jahr, aber wir hatten das Fellknäuel alle ziemlich liebgewonnen. Das Schicksal schien beim Finden dieses Eigenheims eine Rolle gespielt zu haben. In Anbetracht des Umstands, dass mein Verlangen, eine alteingesessene Praxis zu kaufen, nie allzu ausgeprägt geworden war, hatte es sich wirklich unheimlich einfach gestaltet. Es war mir praktisch in den Schoß gefallen, nur wenige Tage, nachdem ich meiner überaus erleichterten Frau Christine zögerlich recht gegeben hatte, dass es für Jessica das Beste war, in die Vororte zu übersiedeln. Wenige Tage danach teilte ich Dr. Scully mit, dass ich aus seinem Team von Internisten in Manhattan ausscheiden würde. Von Lou Scully, der mir die Stelle nach Abschluss meiner Assistenzzeit am Columbia Presbyterian Medical Center angeboten hatte, war ich immer wie ein kleiner Bruder behandelt worden. Und als ich ihm erklärte, dass ich mir ein Haus in den Vororten wünschte – Zum Wohle Jessicas, wie ich hinzufügte, du weißt ja, wie die Schulen hier in der Stadt sind –, da nickte er und konnte gut verstehen, dass ich mir nicht jeden Tag die Fahrt mit der Long Island Railroad oder der Metro North antun wollte, um nach Manhattan zu gelangen. Außerdem wusste er, dass ein Neubeginn eine drastische Veränderung der Lebensumstände bedeuten würde. Dann berichtete er mir von Dr. Neil Farris, einem betagten Arzt aus New England, der vierzig Jahre lang eine Praxis in einer Ortschaft namens Ashborough in New Hampshire unterhalten hatte. Es war allerdings auch eine Ortschaft, die bedeutend weiter von New York entfernt lag, als ich mir ein neues Zuhause eigentlich vorgestellt hatte. Der Mann war ein guter Freund von Lou gewesen und auf tragische Weise ums Leben gekommen, das Opfer eines Hundeangriffs. Dr. Farris war ein begeisterter Hobbysportler gewesen. Er hatte das gelebt, was er anderen predigte, und war selbst im Alter von siebzig noch jeden Morgen fünf Kilometer joggen gewesen. Gerade in der Woche vor unserem Gespräch war er einen Kilometer von seinem Haus entfernt einem streunenden Hund über den Weg gelaufen, der eine ausgeprägte Vorliebe für sein Fußgelenk zeigte und sich so lange darin verbiss, bis Farris sich nicht mehr zu rühren vermochte. Es hatte mindestens eine Stunde gedauert, bis er von jemandem entdeckt worden war, und bis dahin hatte er eine große Menge Blut verloren. Wie es für amerikanische Kleinstädte typisch ist, verkörperte er den einzigen Arzt im Ort, daher musste er ins nächstgelegene Krankenhaus nach Ellenville gebracht werden, zwanzig Kilometer entfernt. Noch auf dem Weg dorthin war er verstorben. Neil Farris’ Witwe traf danach umgehend die Entscheidung, Haus und Praxis zu verkaufen. Anscheinend besaßen sie ein weiteres Haus in Manchester. Mir wurde gesagt, ihre Kinder besuchten dort die Universität, und sie wollte näher bei ihnen wohnen. Der Verkauf des Hauses sollte sie finanziell absichern. Und wenn du mich fragst, Michael, hatte Scully zu mir gesagt, ist es geschenkt. Du wirst nie wieder eine komplette Praxis und ein so elegantes Haus für einen solchen Spottpreis finden. Natürlich hatte ich nicht die Absicht, allzu weit vom kulturellen Angebot Manhattans wegzuziehen. Ich hatte dort fünfzehn Jahre lang gelebt, Christine beim Besuch des Metropolitan Museum of Art kennengelernt und Jessica in einem wunderschönen Apartment in der Upper East Side großgezogen. Abgesehen von den Schulen, die mich nicht wirklich begeistern konnten, bot New York City schon eine gewaltige Menge an Vorzügen. Auch lagen Long Island oder Connecticut nah genug für die Wochenendausflüge, die wir so sehr genossen und wichtig für Jessicas Entwicklung erachteten. Und dann das. Du darfst dir das wirklich nicht durch die Lappen gehen lassen, redete Lou auf mich ein. Und die Schule genießt einen sehr guten Ruf. Ich habe sie für dich überprüfen lassen, fügte er noch hinzu und reichte mir einen Ordner mit Unterlagen. Lächelnd dankte ich ihm, und danach glich meine Gedankenwelt plötzlich einem Whirlpool. Am nächsten Tag nahm ich Verbindung mit der Witwe Farris auf und fuhr am Samstag mit Christine und Jessica im Schlepptau hinaus. Wir trafen kurz nach Mittag ein. Der Ort erwies sich wirklich als wunderschön. Dennoch brach Christine, die ihr Leben lang in Manhattan gewohnt hatte, in Tränen aus, vermutlich angesichts der Vorstellung, ihr derzeitiges Leben hinter sich zu lassen. Und Page bellte dermaßen wild und unbändig, dass wir ihn im Auto lassen mussten. Ich ging sowieso davon aus, dass Emily Farris aus gutem Grund nicht allzu gut auf die Anwesenheit eines Hundes reagieren würde. Das Treffen mit Emily Farris verlief nicht so belastend wie erwartet. Wir hatten beide den innigen Wunsch, den Verkauf über die Bühne zu bringen, daher gab es im Hinblick auf die Einzelheiten kaum Haarspaltereien. Innerhalb weniger Stunden hatten wir uns auf die Bedingungen geeinigt, und ich fuhr am nächsten Tag mit meiner Familie und dem Wissen nach Manhattan zurück, dass ich in zwei Wochen der nächste Gemeindearzt von Ashborough sein würde. Ungeachtet des Stresses und der Anspannung, die plötzlich über uns hereinbrachen, bemühte ich mich, die positiven Aspekte im Blick zu behalten. Es würde keine Sorgen mehr darüber geben, Stammpatienten zu halten, und es wäre sehr angenehm, nicht mehr mit Kollegen konkurrieren zu müssen. Allerdings würde es auch im Umkreis von hundertvierzig Kilometern keine größere Stadt geben. Ich sah unsägliche Langeweile voraus, schob diese Bedenken jedoch vorläufig von mir. Am wichtigsten war, dass ich weiterhin für Christine und Jessica sorgen könnte und dass Jessica die Schulbildung erhalten würde, die wir uns für sie wünschten. Bei unserer nächsten Ankunft sah der Ort anders aus. Ausgelutscht und missbraucht, wie ein Spukhaus, ging es mir durch den Kopf. Ich schüttelte die deprimierenden Gedanken ab und sprang wie ein Mann aus dem Minivan, dem gerade ein neues Leben geschenkt worden war. Das entsprach meiner Art, mit der Tatsache umzugehen, dass wir alle erschöpft und mit den Nerven am Ende waren. Jimmy Page hatte hinten in seinem Käfig wie verrückt gekläfft, Jessica während der gesamten Fahrt über Bauchschmerzen geklagt, und Christine weinte mir entschieden zu viel für jemanden, der diesen Umzug aus New York überhaupt erst angezettelt hatte. Natürlich täuschte ich meinen Enthusiasmus nur vor und hatte selbst größte Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Genau genommen wollte ich ja nicht wirklich hier draußen mitten im Nirgendwo leben. Sicher, ich hatte der Stadt entfliehen wollen. Allerdings hatte mir ein Haus in den Vororten vorgeschwebt, in einer Gegend, wo ich nicht gleich ins Auto steigen musste, wenn ich mir mal vom Nachbarn eine Tasse Milch borgen musste. Einen Moment lang geriet ich in Versuchung, den Vorschlag zu unterbreiten, wir sollten den Verkauf rückgängig machen und zurück nach Manhattan fahren, wo das Apartment, in dem wir gelebt hatten, vielleicht noch verfügbar sein würde. Ich spielte sogar mit dem Gedanken, den nervtötend kläffenden Page zurückzulassen. Aber die Familie folgte mir, und Pages überschwängliche Freude darüber, aus seinem Käfig gelassen zu werden, ließ ihn wie einen Pfeil in den Wald neben dem Haus schießen. Das Haus. Der Ort, an dem wir von nun an bis in eine ungeahnte Zukunft wohnen würden. Der Ort, an dem bis vor drei Wochen sein letzter Besitzer unscheinbar gelebt hatte, wo er geduscht und gekackt, geschlafen, gegessen und gearbeitet hatte, all die persönlichen Dinge getan hatte, von denen niemand außer ihm, seiner Frau und den Wänden ringsum sie etwas wussten. Dieser Mann, der sein Haus sicher nicht in der Absicht verlassen hatte, von einem Hund totgebissen zu werden. Unwillkürlich kam mir der morbide Gedanke in den Sinn, ob das Haus vielleicht Gefühle besaß und ichfragte mich, ob es sich bereitwillig damit abfinden würde, dass sein langjähriges Innenleben gegen eine neue, unvertraute Persönlichkeit ausgetauscht wurde. Neue Möbel, neue Menschen. Wäre ich ein Haus, so dachte ich mir, wäre ich nicht allzu begeistert von der Vorstellung. Das müsste sich anfühlen, als bekäme man sämtliche Organe transplantiert, obwohl die alten noch tadellos funktionierten. Ungeachtet all dessen war es wirklich ein schönes Anwesen. Ein altes Kolonialhaus mit Mittelgang und...