E-Book, Deutsch, 470 Seiten
Ladnar Das Geheimnis der fünf Frauen
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-8392-4577-4
Verlag: Gmeiner-Verlag
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Historischer Roman
E-Book, Deutsch, 470 Seiten
ISBN: 978-3-8392-4577-4
Verlag: Gmeiner-Verlag
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Im November 1893 wird ein angesehener Wiener Bankier ermordet in seiner Bibliothek aufgefunden. Am Tatort stößt Inspektor Karl Winterbauer auf fünf seit ihrer Kindheit befreundete Frauen und ahnt bald, dass alle ein Geheimnis haben. Allmählich wird aus seinem Misstrauen Sympathie und er beginnt, an ihre Unschuld zu glauben. Da geschieht ein zweiter Mord - und wieder sind nur die fünf Frauen am Ort des Verbrechens. Das Leben des Inspektors treibt einem gefährlichen Strudel entgegen ...
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Montag, 27. November 1893
Am Montag begann Winterbauers Arbeitstag sehr früh. Er hatte die halbe Nacht über dem Vortrag der Gräfin gebrütet und die wenigen Annotationen4 von Franz von Sommerau studiert, die dieser mit einer zierlichen und präzisen Handschrift am Rand des Textes angebracht hatte. In einem Fall handelte es sich um die Jahreszahl der ersten Suffragettendemonstration, die die Gräfin wohl aus dem Gedächtnis angegeben hatte und bei der sie sich um etliche Jahre vertan hatte, was der Tote außer mit der berichtigten Zahl mit einem Sophia, Geschichtszahlen immer nachsehen! versehen hatte, in einem anderen gab er einen Rat zum Vortrag: Hier eine längere Pause einlegen! An einer Stelle hatte er vorgeschlagen, einen allzu kräftigen Ausdruck durch einen sachlicheren zu ersetzen. Der Rest waren unbedeutende syntaktische Korrekturen. Beim besten Willen konnte Karl Winterbauer der korrigierten Ansprache nichts entnehmen, was in irgendeinem Zusammenhang zu dem gewaltsamen Tod Franz von Sommeraus stehen könnte. Deswegen hatte er beschlossen, der Gräfin den Text auszuhändigen. Sicherheitshalber wollte er sie bitten, ihn nach ihrer Rückkehr aus Genf zurückzugeben. Denn immerhin handelte es sich um die letzten schriftlichen Äußerungen des Mordopfers. Immer noch wunderte er sich darüber, dass er der Gräfin am Vorabend so bereitwillig zugestanden hatte, ihr das Manuskript am nächsten Tag wieder zu übergeben. Doch wenn er tiefer in sich hineinschaute, so war ihm bewusst, dass das eine Art unausgesprochene Entschuldigung war, eine heimliche Wiedergutmachung der Vorurteile, mit denen er ihr begegnet war. Aber auch ohne die Lektüre der Rede der Gräfin hätte Winterbauer in der Nacht keine Ruhe finden können. In seinem Kopf tanzten Dienstmädchen Polka, junge Damen stolzierten in einem Trauermarsch zu erhabenen Klängen, und ältere in schlichten einfarbigen Hängekleidern bewegten sich elegisch zum Rhythmus eines langsamen Walzers. Die gleichzeitigen Musikstücke erschreckten ihn durch ihre Kakophonie. Aber er war der Einzige, der das zu bemerken schien. Er stand inmitten der tanzenden Frauen, und immer, wenn eine zufällig auf ihn blickte, grüßte sie ihn und nannte ihren Namen, der wie ein Echo immer wieder erschallte, bis zu guter Letzt der Kanon der zehn Frauennamen lauter war als die Musik, zu der sie sich bewegten. Sophia von Längenfeld. Helene Weinberg. Maria Kutscher. Elisabeth Thalheimer. Friederike von Sternberg. Klara von Sommerau. Marie Eisgruber. Adele Hardenberg. Anna Gruberova. Mizzi Schmutzer. So wartete er recht unausgeschlafen in seinem Dienstzimmer auf die Gräfin, die gegen acht Uhr vorbeikommen und dann direkt zum Bahnhof eilen wollte. Zu seiner Überraschung erschien sie schon vor der festgesetzten Zeit, und wieder erstaunte ihn ihr Anblick. Nach dem aufmüpfigen Wesen im seltsamen fließenden Purpurkleid und der mondänen Gräfin im modischen und eng geschnürten Nachmittagskleid lernte er jetzt eine in ein praktisches graues Reisekostüm gekleidete Frau kennen, die ihn fast an eine Gouvernante erinnerte. Ihr Haar war streng geknotet, eine Bluse mit hochgeknöpftem Kragen verhüllte ihren Hals. Nur ihre Selbstsicherheit war unverändert: »Nun, verehrter Herr Inspektor, haben Sie in meiner Rede Bemerkungen gefunden, die mich mordverdächtig machen? Oder durch die die staatliche Sicherheit gefährdet wird?« Er schüttelte den Kopf. »Nicht einmal solche, die die öffentliche Ruhe gefährden?« Nun musste Winterbauer doch kurz auflachen: »Nein, im Gegenteil. Ich fand, dass Sie alles sehr schlüssig hergeleitet haben. Und ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrer Ansprache. Nur – am Ende …« »Ja?« »Ihrem recht nüchternen abschließenden Satz würde ich eine emotionale Aufforderung zur Solidarität anfügen. Jede Bewegung braucht doch schließlich einen Schlachtruf, oder?« Die Gräfin lächelte überrascht: »Danke für den Hinweis. Ich werde während der Zugfahrt darüber nachdenken.« Winterbauer schob ihr die Papiere zu. Als sie sie aufgriff, fiel ihr Blick auf die feinen Schriftzüge des Toten, und Winterbauer sah, dass ihr die Tränen in die Augen traten. Er sah aber auch, dass sie unbedingt verhindern wollte, hier, in dieser nüchternen Amtsstube am Tisch eines älteren Beamten, zu weinen. Deswegen schob er ihr auch, wie er es sonst getan hätte, kein Taschentuch zu, das signalisieren könnte, dass er ihre Traurigkeit bemerkt hatte, und schwieg einfach, bis sie die Papiere in ihrer Tasche verstaut hatte. Das Schweigen schien der Gräfin gutzutun. »Wissen Sie«, sagte sie dann stockend, »er war mein bester Freund. Ich kenne ihn schließlich, seit ich ein junges Mädchen war. Helene, Elisabeth, Friederike, Maria und ich waren gemeinsam im Lyzeum. Nicht in derselben Klasse, aber wir waren im Chor und in einer Theatergruppe. Wir haben also das zusammen gemacht, was uns als jungen Mädchen am meisten Freude bereitet hat. Wir waren sehr verschieden damals, genauso wie heute. Wir kamen aus unterschiedlichen Verhältnissen, vor uns standen unterschiedliche Lebenswege. Das wussten wir damals schon. Trotzdem hat uns so viel verbunden. In der Zeit habe ich auch Franz von Sommerau kennengelernt und natürlich gleich für ihn geschwärmt, wie meine anderen Freundinnen auch, glaube ich. Wir haben Helene alle um ihren Bruder beneidet. Er hat uns immer als gleichberechtigte Freundinnen behandelt, nicht – wie mein eigener Bruder mich – als lästige Wesen, die um einen herumschwirren wie Fliegen und die man verscheuchen muss. Eintagsfliegen, würde ich sogar sagen, so unwichtig und lästig wie Eintagsfliegen, die immer hinter einem herspionieren und eigentlich alles wissen, was man den Eltern besser verschweigt.« Winterbauer lächelte. »Und Helenes anderer Bruder? Wir haben ihn gestern noch nach Ihrem Weggehen gesprochen. Der Diener hat ihn geholt. Als Familienoberhaupt.« »O je«, erinnerte sich Sophia, »der war genau wie mein eigener Bruder. Oder wie der Elisabeths. Die anderen haben ja keine Brüder. Josef von Sommerau ist immer noch ein recht unsicherer Mann, haben Sie das bemerkt? Das hat er schon damals durch ein sehr ausgeklügeltes Imponiergehabe zu verbergen versucht. Wenn wir zum Beispiel über etwas gekichert haben, wie junge Mädchen das so zu tun pflegen, hat er immer an sich herumgezupft, ob auch alles an seiner bedeutenden äußeren Erscheinung in Ordnung sei, und dann hat er irgendetwas Überhebliches gemurmelt und ist weggegangen.« »Und Franz von Sommerau?« »Der hat einfach gefragt, was so komisch sei, und dann hat er mitgelacht, ob wir ihm den Grund für unsere Fröhlichkeit verraten haben oder nicht.« »Hat er an seinem letzten Lebenstag auch gelacht?« »Ja, das hat er«, sagte die Gräfin. »Als ich gekommen bin, habe ich an die Tür geklopft, und er hat aufgemacht. ›Du bist wie immer die Letzte‹, hat er lächelnd gesagt, als er mich erblickt hat, und mich in den Arm genommen. ›Dann gib mir deine Rede, ich schaue sie gleich durch.‹ Ich hatte ihm bereits ein paar Tage zuvor erzählt, dass ich wahrscheinlich bis zum letzten Augenblick daran feilen werde und sie ihm erst am Sonntag geben werde. Und das war das letzte Mal, dass ich ihn lebend gesehen habe. Als ich wieder hinunterging, um mir seine Korrekturen abzuholen, war er schon tot.« Winterbauer sah, wie schwer es der Gräfin fiel, ihm von dieser letzten Begegnung mit dem Freund zu sprechen. Er bemerkte aber auch, dass sie über ihrem Gespräch zu vergessen schien, dass sie pünktlich am Bahnhof sein musste, um ihren Zug nach Genf zu erreichen. »Wir setzen unser Gespräch nach Ihrer Rückkehr fort«, sagte er entgegenkommend. »Aber sagen Sie mir doch bitte noch, ob es irgendetwas gibt, das mir bei meiner Untersuchung helfen könnte.« »Danke, dass Sie mich nicht hier festhalten, sondern sogar an meinen Zeitplan erinnern«, sagte die Gräfin freundlich. »Ich kann Ihnen nur sagen, dass ich die ganze Nacht nichts anderes getan habe, als mir zu überlegen, wer einen Grund gehabt haben könnte, ihm etwas anzutun. Soweit ich weiß, hat jeder ihn gemocht. Viele haben ihn sogar geliebt.« Nachdem die Gräfin weggegangen war, grübelte Winterbauer noch darüber, ob er mehr von der Gräfin erfahren hätte, wenn er nicht nach dem Wiesinger-Prinzip vorgegangen wäre. Denn nach den vielen kurzen Gesprächen mit all den Frauen und Mädchen, mit dem vom Diener herbeigeholten älteren Bruder und nach der Organisation des Heimbringens der jungen Mädchen, hatten sie noch ihre ersten Eindrücke erörtert. Dabei hatten sie, erschöpft und ratlos, noch versucht, das ernste Geschehen durch eine spielerische Pointe zu verarbeiten, dass sie nämlich die Befragungen am nächsten Tag getrennt vornehmen würden, wobei er mit den Frauen und von Wiesinger mit den Mädchen sprechen sollte. Und von Wiesinger solle den jungen Mädchen streng und misstrauisch, winterbauerisch also, entgegentreten, während er sich gegenüber den Frauen wiesingerisch, also offen und wenig zielorientiert verhalten sollte. Er machte sich nur wenige Notizen über das Gespräch mit der Gräfin, so überzeugt war er davon, dass er alles genau in seinem Gedächtnis bewahren konnte, vor allem den Augenblick, in dem das starke Gefühl, das sie für den Ermordeten hegte, ihre Beherrschung durchbrach. Stattdessen betrachtete er die Adressen der anderen vier Frauen, die er an diesem Tag aufsuchen wollte, um sich eine sinnvolle Route durch die Stadt zu überlegen. Dass er Frau Weinberg als...