E-Book, Deutsch, 432 Seiten
Kurzweil Danielle
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-944203-52-2
Verlag: Lola Books
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Chroniken einer Superheldin
E-Book, Deutsch, 432 Seiten
ISBN: 978-3-944203-52-2
Verlag: Lola Books
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die unglaubliche Geschichte eines Mädchens, das alleine mithilfe ihrer Intelligenz und moderner Technologie sowie der Unterstu?tzung von Familie und Freundinnen die großen Herausforderungen unserer Zeit angeht.
Danielle besteht gefährliche Abenteuer, rettet Menschenleben, wird ein Star und findet die Liebe. Danielle ist die etwas andere Superheldin. Sei auch du eine Danielle!
Ray Kurzweil (geboren 1948 in New York) ist einer der führenden Experten im Bereich der Künstlichen Intelligenz, ein bekannter Vordenker des Transhumanismus und seit 2012 Leiter der technischen Entwicklung bei Google.
Er erhielt 1999 von Präsident Clinton die National Medal of Technology verliehen und wurde für seine zahlreichen Erfindungen im Bereich der Informationstechnologien 2002 in die National Inventors Hall of Fame aufgenommen.
Ray Kurzweil ist Autor zahlreicher Sachbücher, in denen er die nahe Zukunft des Menschen in einer sich radikal wandelnden Welt thematisiert. Mit 'Danielle' gibt er sein viel beachtetes Debüt im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur.
Weitere Infos & Material
Mit null bis einem Jahr
VIELLEICHT IST SIE
ANDERS
Es gibt etwas, das stärker als alle Armeen der Welt ist, und das ist eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Victor Hugo Gib niemals auf. Gib niemals auf. Niemals, niemals, niemals, niemals – weder in großen Dingen noch in kleinen, in wichtigen oder unbedeutenden – gib niemals auf, außer aus Gründen der Ehre oder der Klugheit. Winston Churchill Ich erinnere mich, als sei es gestern gewesen. Wie Danielle und ich mit Oberst Gaddafi debattierten. Wie sie die Koranschulen herausforderte. Wie sie sich mit der Behörde für Lebensund Arzneimittel anlegte. Ihre Festnahme. Wie sie es mit der Roten Armee aufnahm. Der Tod ihres Mitarbeiters und Seelenpartners. Aber ich greife vor. Fangen wir am Anfang an. Hallo, ich bin Claire. Ich will euch erzählen, wie Danielle meine Schwester wurde. Ich war sechs Jahre alt und war um zwei Uhr nachmittags aus der Schule gekommen. Ich saß auf dem Lehmboden in der Fabrik – die einzige Aktivität nach der Schule, die ich kannte – neben Mama und ihrer Nähmaschine und spielte mit meinem liebsten und so ziemlich einzigen Besitz, und zwar mit Alices Abenteuer im Wunderland1 und meiner Gitarre. Mein Buch war auf Englisch, und alle waren ganz schön beeindruckt, dass ich es alleine lesen konnte. Meine Gitarre war eine kleine, weiße, viereckige Schachtel mit einem runden Loch. Sie musste einmal eine Holzschachtel für Farbstifte gewesen sein, denn es waren noch die typischen Kritzeleien darauf zu sehen. Jemand hatte ihr ein Griffbrett, eine Kopfplatte und Saiten angeklebt, und sie funktionierte überraschend gut. Ich fand sie im Müll der Fabrik liegen, und Mamas Musikerfreunde reparierten die Dellen und polierten die Kratzer weg. Eine Saite fehlte, und ich hoffte immer noch, sie zu finden. Ich spielte und sang oft für die Frauen in der Fabrik, während sie Blusen mit Knöpfen und lange Röcke nähten, die sich in meiner Vorstellung auf den Hüften ihrer zukünftigen Trägerinnen wiegten. Die meisten Frauen begannen, zu lächeln, wenn ich für sie sang. Ich denke mal, dass ihre Arbeit dadurch weniger eintönig wurde. Einige summten mit. Andere wippten mit den Füßen. Ich überblickte mein ›Publikum‹ und stellte mir vor, ich sei in einer riesigen Konzerthalle. Vor mir Reihen von Frauen an Nähmaschinen, baumelnde Elektrokabel und bunte Kleidungsstücke in leuchtendem Rot, Blau, Grün und Weiß an Wäscheleinen, soweit mein Blick reichte. Wie sehr ich schon damals meine Musik liebte. Ich erinnere mich an Mama, wie sie an jenem Tag mit blauem Faden ein weißes Kleid nähte. Sie sagte mir, wie stolz sie war auf das neue Lied, das ich auf meiner Gitarre spielte. Ich kann mich nicht an die Melodie erinnern, ich hatte sie mir gerade erst ausgedacht. Alle lächelten breit, als ich fertig war. Mehrere Frauen unterbrachen sogar das Nähen, um zu klatschen. Plötzlich erbebte das Gebäude, und Mamas Kaffee schwappte mir entgegen. Ich schrie auf, als mir die Flüssigkeit das Gesicht verbrühte. Die Tasse flog gegen die Nähmaschine, wo sie in tausend Scherben zersprang. Dann explodierte das Gebäude, die Erde bebte, und der Boden tat sich auf. Ich weiß noch, dass ich mir vorkam wie Alice. Ich fiel auf einmal durch das Kaninchenloch hinab und landete an einem völlig dunklen Ort voller Hindernisse – Steine, spitze Nadeln, metallene Zahnräder, Knöpfe, die wie Geschosse umherflogen, Kabel, tropfendes Öl, Stücke aus Wänden und Decken. Wenn ich diese Geschichte erzähle, gehen die Leute davon aus, dass ich schreckliche Angst gehabt haben muss, und das hatte ich wohl auch, aber das Ganze war so seltsam und geschah so schnell, dass es sich für mich so anfühlte, als sei ich in meinem Buch aufgewacht. »Mama… wo bist du…? Mama…?« Niemand antwortete. Ich geriet nicht in Panik. Ich nahm an, dass es sich um eine Art Spiel handelte, in dem ich sie finden musste. Ich tastete in der Dunkelheit umher und räumte Gegenstände beiseite, oder zumindest solche, die den Kräften einer Sechsjährigen nachgaben. Ich bewegte mich von einem dunklen Raum zum nächsten und erwartete, jeden Moment eine Wasserpfeife rauchende Raupe zu sehen. Ich wusste nicht, dass mich ein Mann namens Richard beobachtete, der nach Haiti gekommen war, um beim Aufbau einer Schule zu helfen, jedoch schnell dazu übergegangen war, bei den Bergungsarbeiten nach dem Erdbeben mitzuhelfen.2 Er sah mich verschwommen, als er mit einem speziellen Radar nach Überlebenden suchte. Später sagte er, ich hätte »wie das Ultraschallbild eines Fötus ausgesehen«. Die Leute taten die Bewegungen auf dem Bild als einen unter den Trümmern gefangenen Hund ab. Den Erzählungen nach war Richard jedoch nicht derselben Meinung. »Nein, es bewegt sich nicht wie ein Tier. Das ist ein kleiner Mensch – womöglich ganz allein. Wir werden dieses Kind finden… und wenn es niemanden hat und nirgends hingehört… dann adoptieren wir es«. Manche bezweifeln jetzt, ob sich die Vorankündigung der Adoption wirklich so abgespielt hat, aber ich weiß genau, dass es so war. Ich schlief in meinem Wunderland ein und benutzte zerrissene Kleider als Matratze. Neben mir lag ein großer Zementbrocken, und das war gut, denn er bewahrte mich wahrscheinlich davor, zerquetscht zu werden. Ich wurde von dem fieberhaften Lärm geweckt, mit dem die freiwilligen Helfer vor Ort mit bloßen Händen Geröll und Ziegelsteine beiseite räumten. Als sie mich endlich aus den Trümmern zogen, starrten mich die Leute nur staunend an, als sei ich die Alice von Haiti – allerdings sah ich, dass dies nicht das Wunderland war. Auf dem Foto, das ich von meiner Rettung habe, bin ich ganz mit schwarzem Ruß bedeckt, stecke in zerfetzten Kleidern und halte noch immer meine Gitarre fest. »Wo ist Mama?«, fragte ich. »Na, schauen wir mal nach«, sagte Richard. »Wie heißt du denn?« »Claire Pierre-Louis.« »Das ist aber ein hübscher Name«, sagte er zu mir. Ich erinnere mich, dass er ein weißes T-Shirt trug, das hell in der Mittagssonne zu leuchten schien und nur ein paar Schmutzflecken hatte, während alles Andere im Gegensatz dazu völlig verdreckt war. Den Fabrikeingang, der wie ein großes Scheunentor aussah, erkannte ich wieder, aber der Rest der Fabrik war verschwunden. Es schmerzt mich jetzt, wenn ich an die folgenden Stunden denke – das Warten, das Suchen, die verletzten und benommenen Überlebenden, all die zu sehen, die es nicht geschafft hatten. Endlich beantwortete Richard bedrückt meine Frage. »Deine Mama sitzt auf deiner Schulter«. Ich war zuerst verblüfft, aber dann verstand ich allmählich, was er meinte. Ich schaute ewig lange nach unten, sah meine Mama auf meiner Schulter sitzen, und dann umarmte ich Richard. Meine Mama sitzt immer noch dort. Einige Tage später war ich immer noch im Schockzustand, aber ich verstand, was mir Richard vorschlug. »Wie wäre es, wenn ich jetzt dein Dad wäre?« »Toll, ich wollte schon immer einen Dad haben«, antwortete ich. »Und Sharon, meine Frau, könnte eine zweite Mom sein. Wir kümmern uns um dich, und du kümmerst dich um deine Mama auf deiner Schulter«. Ich mochte den Gedanken – je mehr Mamas, desto besser, fand ich. Ich hatte Angst, es würde Mama auf meiner Schulter nicht gefallen, aber sie sagte, dass sie es gut fand. Einige der einheimischen Männer, die ich kannte, waren jedoch nicht so begeistert. »Mèsi pou ede ou, men timoun nan rete isit la…« Danke für Ihre Hilfe, aber das Kind bleibt da. Wir wollen nicht, dass man unsere Kinder stiehlt. Ich blickte mich um und sah eines der Nähmaschinenpulte auf der Seite liegen. Es hatte noch drei Beine, also stellte ich es auf und kletterte hinauf, wobei ich den großen Spalt in der Mitte mied. »Aber es ist, was ich will!«, stieß ich hervor, ohne überlegen zu müssen. Ich fühlte mich wie eine dieser Erwachsenen, denen ich im Fernseher der Fabrik dabei zugesehen hatte, wie sie Reden hielten, so wie der Typ, von dem mir Mama sagte, er sei der wichtigste Mann Amerikas. »Ich hab euch alle lieb. Mein Herz wird immer hier sein. Und ich komme zurück.« Alle, selbst ich, waren ergriffen, wie reif ich klang. So wurde ich im Alter von sechs Jahren Claire Pierre-Louis Calico. Wir lebten in Pasadena, einer Vorstadt von Los Angeles, in einem Haus aus Holz und Glas, das nach Zwiebeln roch, oder zumindest tat es das in meiner Erinnerung. Mom kochte alles damit. Für mich wurde das der Geruch von Zuhause. Und Zuhause war auch der Anblick von Geranien im und vor dem Haus. Ich liebte diese Blumen. Ich liebe sie immer noch. Dad erklärte...